28
W
er derzeit durch den Osten Deutschlands reist,
stößt an vielen Orten auf Plakate, die an
ruhmreiche Zeiten erinnern sollen – jene
Herbstmonate des Jahres 1989, als die Men-
schen zwischen Ostsee und Erzgebirge auf die Straße
gingen und ihr ungeliebtes Land, die DDR, wegdemons-
trierten. 30 Jahre später soll sich das Volk wieder erhe-
ben. Die plakatierten Parolen künden von einer »Wende
2.0«, von der Vollendung der friedlichen Revolution. Sie
fordern die Menschen auf dem Gebiet der ehemaligen
DDR auf: »Werde Bürgerrechtler«.
Urheber der Kampagne ist die AfD, deren Politiker sich
bei den bevorstehenden Landtagswahlen in Brandenburg,
Sachsen und Thüringen als die wahren Erben der DDR-
Umstürzler anbieten möchten. Die zweifellos unvollkom-
mene liberale Demokratie wird damit zumindest im Sub-
text dem SED-Obrigkeitsstaat gleichgesetzt. »Es fühlt sich
schon wieder so an wie in der DDR«, sagte Björn Höcke,
Frontmann des äußerst rechten Randes der Rechtspartei,
zum AfD-Wahlkampfauftakt in Cottbus, »dafür haben
wir nicht die friedliche Revolution gemacht.«
Abgesehen davon, dass Höcke, in Westdeutschland
geboren und aufgewachsen, zum Ende der DDR nichts
beigetragen haben dürfte, empört ehemalige DDR-Bür-
gerrechtler die Vereinnahmung ihrer
Revolution durch die Rechtspopulis-
ten. Der einstige Leipziger Montags -
demonstrant Uwe Schwabe findet den
Rollgriff der AfD ins Geschichtsbuch
»furchtbar«. Erhart Neubert, einer
der Köpfe der damaligen kirchlichen
Bürgerrechtsbewegung und später
CDU-Mitglied, sagt, es sei so, »als ob
man sein Haus vor Dieben nicht mehr
schützen kann«. Und Werner Schulz,
in der DDR Aktivist im Friedenskreis
Pankow und später Bundestags -
abgeordneter der Grünen, hält die
»geschichtsvergessenen Nationalisten der AfD« für die
Letzten, die sich auf 1989 berufen können. Die Kritik
ist verständlich, doch zeigt sich darin wohl auch eine Ver-
klärung der DDR-Protestbewegung.
Wurde die friedliche Revolution in Gänze tatsächlich
von einem völlig anderen Geist getragen als der heutige
Volkszorn à la »Merkel muss weg«? Oder gab es nicht
auch schon in den Reihen der Stasi-Opfer und Dissiden-
ten Menschen, die weder die sozialistische DDR reformie-
ren wollten noch Sympathien für ein Westdeutschland
hegten, das nach der Studentenbewegung von 1968 in der
kulturell liberalen Moderne angekommen war? Die
schlicht einem Deutschland nachhingen, das in zwei Welt-
kriegen untergegangen war? Nationalistisch, ethnisch
homogen und sich selbst genügend?
Zumindest einige aus den Reihen der ehemaligen Bür-
gerrechtler, DDR-Oppositionelle, die physisch und psy-
chisch den SED-Staat durchlitten haben, sympathisieren
heute mit der AfD oder vertreten ähnliche Auffassungen.
Der Schriftsteller Siegmar Faust, ein ehemaliger Stasi-
Häftling, definiert sich heute als »normal rechts« und
warnt vor der »Welteroberungsideologie« Islam. Oder
Vera Lengsfeld: In der DDR wurde sie jahrelang von
ihrem damaligen Ehemann für die Stasi bespitzelt, 1989
ging sie zu den Grünen, wechselte dann in die CDU und
initiierte schließlich eine Petition gegen Merkels Flücht-
lingspolitik.
Der einstige Dresdner DDR-Oppositionelle Arnold
Vaatz, heute CDU-Bundestagsabgeordneter, findet nichts
dabei, dem autoritären ungarischen Ministerpräsidenten
Viktor Orbán seine Aufwartung zu machen, und schrieb
Anfang des Jahres in seiner Kolumne in der »Super Illu«:
»Haben die Ostdeutschen Demokratiedefizite? Nein.
Haben sie Defizite in dem, was der Westen für Demokra-
tie hält? Aber klar! Aus Verantwortung für dieses Land.«
So beginnt die Delegitimierung der liberalen Demokratie
von innen heraus.
Der Publizist Thomas Schmid schrieb kürzlich in der
»Welt« über einen eigenartigen DDR-Stolz. Schmid,
1945 bei Leipzig geboren, aber im Westen aufgewachsen,
beobachtet bei manchen im Osten den Glauben, sie
hätten »ein tieferes Verständnis des Wesens von Politik
erworben« – allein dadurch, dass sie die DDR überlebt
haben. Es sei »ein innerdeutsches Überlegenheitsgefühl«
entstanden. Zudem sei »aufgrund der strukturellen tech-
nologischen Rückständigkeit der DDR eine zeitgemäße
Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht
möglich« gewesen. Schmids Fazit: Hier blieb ein »älteres
Deutschland konserviert«.
Bereits in den Umbruchmonaten 1989/90 wurde diese
Mentalität in Dresden zu einer politischen Kraft. Wäh-
rend in Leipzig die Bürgerbewegung weitgehend von
einer rebellischen, im Zweifel linken Boheme getragen
wurde, haben in der kunstbeflissenen ehemaligen sächsi-
schen Residenzstadt recht schnell konservative Ingenieu-
re, Wissenschaftler und Kirchenmänner den Wendetakt
mitbestimmt. Einige hatten die DDR in ihrer eigenen
Welt, in maroden Villen an den Elbhängen überdauert.
E
ine Welt, die es im Westen kaum noch gab. Mit
Hauskonzerten und dem konservativen Bildungs-
kanon aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
im Regal, mit Oswald Spengler und Carl Schmitt.
An dritten Wegen und basisdemokratischen Experimen-
ten, über die unter linken und grünen Bürgerrechtlern
viel diskutiert wurde, hatten sie wenig Interesse. Aus
»Wir sind das Volk« wurde flugs »Wir sind ein Volk«,
Deutschland, einig Vaterland. Verständliche Konsum -
wünsche, Antikommunismus und Nationalstolz waren
inzwischen das einende Band. Schwarz-rot-goldene Fah-
nen, natürlich ohne DDR-Emblem, und die weiß-grünen
Wimpel des alten Sachsens empfingen den damaligen
Bundeskanzler Helmut Kohl im Dezember 1989 vor der
Ruine der Frauenkirche in Dresden. Die CDU, die große
konservative Volkspartei, entwickelte den Sog, der sie zu
ihrem Sieg bei der DDR-Wahl im März 1990 führte. Noch
war unter ihrem weiten Mantel Raum für diverse Meinun-
gen und Biografien.
Andreas Wassermann
Das Erbe von 89
DebatteDie Wurzeln des AfD-Erfolgs
in Ostdeutschland reichen zurück bis in
die Zeit der friedlichen Revolution.
Die DDR wurde
auch von Menschen
zu Fall gebracht,
die heute ohne
Scham gemeinsam
mit Neonazis
demonstrieren.
DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019