DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019^27
W
enn es Andreas Scheuer (CSU) an
einer Eigenschaft nicht mangelt,
ist es Selbstvertrauen. Sogar im
Angesicht seiner größten Niederlage teilte
der Minister kräftig aus.
Am 18. Juni hatte der Europäische Ge-
richtshof (EuGH) die deutsche Pkw-Maut
für rechtswidrig erklärt. Eine Woche da-
rauf berichtete Scheuer im Verkehrsaus-
schuss des Bundestags: Nicht er habe Feh-
ler gemacht, sondern andere.
Er schob die Schuld für das Scheitern
des CSU-Prestigeprojekts vor allem auf
die Betreiberfirmen. Bis zum 1. April hät-
ten die Unternehmen Kapsch TrafficCom
und CTS Eventim eine detaillierte Planung
vorlegen sollen. »Dies ist trotz zweimali-
ger Nachfristsetzung durch den Auftrag-
geber nicht gelungen«, sagte der Minister.
»Die vorgelegten Dokumente wiesen wie-
derholt erhebliche Defizite auf.«
Scheuer legte damit seine Verteidi-
gungsstrategie fest: Nicht das Urteil der
Luxemburger Richter sei der hauptsäch -
liche Grund gewesen, warum er den Ver-
trag mit den beauftragten Firmen noch
am selben Abend kündigen ließ. Viel -
mehr sei es deren »Schlechtleistung« ge-
wesen. Mit diesem Argument versucht er,
Schadensersatz in Höhe von wohl min-
destens einer halben Milliarde Euro abzu-
wehren.
Vertrauliche Dokumente erschüttern je-
doch die Strategie des Ministers. Sie zei-
gen, dass Gutachter einer Aachener Bera-
tungsfirma und Scheuers Beamte selbst
die Leistung des Betreiberkonsortiums
zwar für stark verbesserungsbedürftig hiel-
ten, keinesfalls aber für so desaströs, dass
sie eine Kündigung begründet hätte.
Die Unterlagen sind Teil einer 21 Ord-
ner starken Aktensammlung, die Scheuer
den Parlamentariern auf Druck zur Verfü-
gung stellen musste. Sie befassen sich mit
der sogenannten Feinplanungsdokumen-
tation des Betreibers, einer Art Fahrplan
für den Aufbau des Mautsystems. So sollte
die von Kapsch und Eventim gegründete
Mautfirma Autoticket dem Bund aufzei-
gen, wie das Geld bei den Autofahrern ein-
getrieben werden soll.
Am 1. April lieferte das Konsortium
seine ersten Dokumente ab. Aus internen
Mails geht hervor, dass der zuständige
Projektleiter im Kraftfahrt-Bundesamt
(KBA) Nachbesserungen forderte. Nach-
dem Auto ticket neue Unterlagen geschickt
hatte, wollte das Verkehrsressort wohl auf
Nummer sicher gehen und beauftragte die
Beratungsfirma P3 mit einem Gutachten.
Die Aachener Fachleute sollten die Fein-
planung der Betreiberfirma prüfen.
Ihr als vertraulich eingestufter Unter -
suchungsbericht passt nicht so recht zu
Scheuers Aussagen im Verkehrsausschuss.
P3 stellte am 29. Mai zwar gewisse Mängel
in der Planung fest, insgesamt aber seien
die vorgelegten Dokumente »verständlich
und nachvollziehbar aufgebaut«. In einer
erläuternden E-Mail hieß es, es sei »kein
kritisches Defizit« identifizierbar, das »ge-
gen eine Fortsetzung des Projekts nach
Plan spräche«. Drei Wochen vor der Kün-
digung des Betreibervertrags gaben die Ex-
perten also Entwarnung.
Noch klarer ist eine interne Präsenta -
tion des Verkehrsministeriums, die sich
mit dem Projektverlauf im Mai 2019 be-
fasst. Gleich der erste Satz bringt Scheuer
in Erklärungsnot: »Das Gesamtprojekt
liegt insgesamt noch im Plan.« Der Maut-
betrieb zum 1. Oktober 2020 sei »derzeit
nicht gefährdet«. Eine Ampel in der Ru-
brik »Gesamtübersicht« zeigt Grün.
Bleibt der Vorwurf, die Betreiber hätten
die Dokumente nicht fristgerecht einge-
reicht. Doch auch daran gibt es Zweifel.
Am 7. Juni wandte sich der Projektleiter
des KBA an Autoticket. Er äußerte Kritik
und verlängerte die Frist für das Konsor -
tium bis zum 21. Juni 2019.
Als dann das Urteil des EuGH am 18. Ju -
ni veröffentlicht wurde, kündigte Scheuer
den Betreibervertrag – also drei Tage vor
Ablauf der Frist für die Nachbesserungen.
Trotzdem begründeten die Anwälte des
Ministeriums die Kündigung mit einer
»nicht fristgerechten Vorlage einer freigabe -
fähigen Feinplanungsdokumentation«.
Die Opposition im Bundestag fragt sich
nun, ob Scheuer im Ausschuss die ganze
Wahrheit gesagt hat. »Mir erscheint der
Vorwurf der Schlechtleistung der Betrei-
ber konstruiert. Das ist der durchsichtige
Versuch von Minister Scheuer, die Schuld
auf andere abzuwälzen«, sagt der Grünen-
abgeordnete Stephan Kühn. Sein FDP-Kol-
lege Oliver Luksic fürchtet, dass auf den
Steuerzahler gigantische Entschädigungen
zukommen. »Wenn die Trickserei von
Scheuer auffliegt, dann wird es richtig teu-
er für die Regierung.«
Das Ministerium weist die Vorwürfe
zurück. Scheuer habe die Abgeordneten
nicht getäuscht. Schließlich habe er dem
Ausschuss die entsprechenden Dokumen-
te Ende Juli übermittelt. Man bleibe dabei,
dass die freigabefähige Feinplanungsdoku-
mentation zur ersten Frist am 1. April nicht
vorgelegen habe. Schon beim Verstreichen
dieser Frist hätte man den Vertrag kündi-
gen können. Man war aber »zunächst im
Interesse einer erfolgreichen Projekt -
entwicklung bemüht, den Unzulänglich-
keiten der Auftragnehmer durch andere
Maßnahmen als durch Kündigungen zu
begegnen«, teilt das Ministerium mit.
Die Schuldfrage für das Mautdesaster
muss jetzt wohl von einem privaten
Schiedsgericht geklärt werden. So sieht es
der Vertrag für die Straßenabgabe vor. Die
Richter müssen auch die Höhe des Scha-
densersatzes bestimmen, hinzu kommen
die Anwaltskosten für das Ministerium.
Wie teuer das für den Steuerzahler wer-
den kann, zeigt der Rechtsstreit des Minis-
teriums mit dem Betreiberkonsortium Toll
Collect bei der Lkw-Maut. Er dauerte
14 Jahre, die Kosten für Juristen und Bera-
ter beliefen sich auf fast 270 Millionen Euro.
Sven Becker, Gerald Traufetter
Ampel
auf Grün
MautVertrauliche Dokumente
erschüttern die Strategie von
Minister Andreas Scheuer, die
Schuld am Debakel auf
die Betreiberfirmen abzuwälzen.
OMER MESSINGER / EPA-EFE / REX
Scheuer-Plakat vor dem Verkehrsministerium: »Kein kritisches Defizit«