Veränderung gegenüber Januar 2019
Rasanter Anstieg
Monatliche Belastung* für Pflegebedürftige
bei Heimunterbringung 2019,
in Euro
Januar
Juli
Sachsen Bundes-
durchschnitt
Brandenburg
1279 1363
1486 1572
1830 1891
+ 6,6 % + 5,8 % + 3,3 %
* durchschnittlich für Pflege, Unterkunft, Verpflegung und Investitionskosten
bei Pflegegrad 2 bis 5; Quelle: vdek
DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019 33
Deutschland
D
as Desaster passt in einen grü-
nen Schnellhefter. Säuberlich
abgeheftet stecken darin Kon-
toauszüge, Rentenbescheide und ein
Brief des Pflegeheims. Die 78-jäh -
rige Dame mit dem hochgesteckten
Haar liest daraus vor, ihre Stimme
zittert vor Empörung. Über 400
Euro mehr soll sie ab September für
den Heimplatz ihres an Demenz
erkrankten Gatten überweisen. Je-
den Monat. »Ich werde über Nacht
zum Sozialabfall.«
Sie sagt tatsächlich »Abfall«,
nicht »Fall«. Vielleicht ist es ein Ver-
sprecher. Vielleicht muss man aber
sehr deutlich werden, wenn sich ein
bekannter Politiker blicken lässt.
Hier, mitten im Erzgebirge.
An diesem Augusttag ist die Rent-
nerin in ein Gasthaus im sächsischen
Olbernhau gekommen. Die CDU
hat eingeladen, zu Mittag gibt es
Kartoffeleintopf. Den grünen Hefter
hat die Rentnerin Karl-Josef Laumann zu-
geschoben, der neben ihr sitzt und darin
blättert.
Der CDU-Politiker kennt sich mit Hei-
men aus. Er war Pflegebevollmächtigter
der Bundesregierung, heute ist er Sozial-
minister in Nordrhein-Westfalen und Chef
des Arbeitnehmerflügels der Union, CDA.
Nach Sachsen ist er gereist, um seine Par-
teifreunde im Landtagswahlkampf zu un-
terstützen. Sie haben ihn darum gebeten.
Es gibt viel Unmut über die Pflege, vor
allem im Osten. Die Heimkosten steigen
rasant, fast alle Pflegebedürftigen müssen
das derzeit erfahren.
Die gesetzliche Pflegekasse folgt einem
Teilkaskoprinzip: Sie übernimmt über eine
feste Pauschale nur einen Teil der Kosten.
Explodieren diese, müssen die Senioren
das selbst tragen. Wer die wachsende Zu-
zahlung nicht aufbringen kann, muss sei-
nen Partner, seine Kinder oder das Sozial-
amt um Hilfe bitten.
Wie drängend das Problem ist, zeigt
eine neue Auswertung des Verbands der
Ersatzkassen. Zum Stichtag 1. Juli 2019
mussten Pflegebedürftige im Bundesdurch-
schnitt monatlich 1891 Euro zu ihrem
Heimplatz beisteuern. Aus eigener Tasche.
Das sind 60 Euro mehr als zu Jahresbeginn
und 120 Euro mehr als im Januar 2018.
Dabei sind die Unterschiede zwischen
den Ländern immens: In Nordrhein-West-
falen ist der Eigenanteil mit durchschnitt-
lich 2337 Euro am höchsten, in Sachsen-
Anhalt mit 1331 Euro am niedrigsten. Al-
lerdings verläuft der Anstieg in den ost-
deutschen Ländern besonders steil. In
Sachsen, Brandenburg und Thüringen klet-
terte der durchschnittliche Eigenanteil im
ersten Halbjahr 2019 um mehr als 80 Euro.
In allen drei Ländern wird bald gewählt.
Die rasant steigenden Pflegekosten wer-
den damit zum politischen Problem: Der
Frust könnte noch mehr Wähler in die
Arme der Populisten treiben.
Auch deshalb ist CDU-Politiker Lau-
mann nach Sachsen gekommen. Er ver-
folgt einen klaren Ansatz: »Sonntags AfD
wählen und montags darauf setzen, dass
einem eine ausländische Pflegekraft den
Körper wäscht, das passt nicht zusam-
men.« Die Stimmung im Osten sorgt ihn.
Da ist zum Beispiel die Dame
mit dem grünen Schnellhefter,
die von »der ganzen Politik« ent-
täuscht ist, wie sie sagt. »Es schreit
doch zum Himmel. Wer soll diese
Preise noch bezahlen können?«
Ihren Namen möchte sie in der
Zeitung nicht gedruckt sehen, die
Sache mit dem Geld ist ihr un -
angenehm. Ihr Mann leidet seit
Jahren unter Demenz, er lebt heu-
te im Heim. Sie kam über die Run-
den, irgendwie. Doch die steigen-
den Preise erdrückten sie. Weil die
Rente ihres Mannes künftig von
den Heimkosten aufgezehrt wer-
de, bleibe auch ihr weniger zum
Leben. Sie müsse fit bleiben, mit
Herzschrittmacher. Ein zweiter
Heimplatz? Dafür reiche ihre
Rente nicht. Und den Gang zum
So zial amt wollen die meisten Se-
nioren vermeiden.
Wo auch immer Laumann in
Sachsen auftritt, verfolgt ihn der
Ärger über die Heimkosten, etwa in der
Oberlausitz. In Löbau sitzen drei Dutzend
Senioren und Pflegekräfte mit Laumann
zum Frühstück vor belegten Stullen. Auch
Joachim Herrmann macht sich Sorgen. Die
steigenden Heimkosten seien desaströs,
findet der 72-Jährige. »Die Jahrgänge, die
hier im Osten noch über anständige Ren-
ten verfügen, sind langsam durch.« Es gebe
ein wachsendes Problem: »Bald geht die
Generation der Wendeverlierer in Rente.«
Herrmann weiß, wovon er spricht. Als
es die DDR noch gab, arbeitete der In -
genieurpädagoge als Oberstleutnant bei
der Nationalen Volksarmee. 1991 wurde
er arbeitslos – und blieb es. Hängen lassen
wollte Herrmann sich nie, er kämpft für
ein besseres Leben im Alter. Auch, »um
der AfD nicht das Feld zu überlassen«. Frü-
her saß er für die Linkspartei im Görlitzer
Kreistag, heute ist er parteilos und Mitglied
im Kreisseniorenrat. Regelmäßig besucht
er daher Pflegeheime in der Umgebung.
1500 bis 1700 Euro seien in den höheren
Pflegestufen als Zuzahlung fällig. »Meine
Frau und ich könnten uns das nicht leisten.
Das gilt für die Hälfte der Rentner hier.«
Für die Unterkunft im Heim, das Essen
oder Renovierungen müssen die Bewoh-
ner selbst aufkommen. Die gesetzliche
Kasse übernimmt nur die Kosten für die
Pflegeleistungen. »Gerade im Osten
kommt es jetzt aber zu einer Verände-
Sozialfall über Nacht
Pflege Die Kosten für Heimplätze explodieren. Vor allem im Osten
fühlen sich die Älteren durch steigende Eigenanteile
überfordert. Das Problem erreicht auch die Landtagswahlkämpfe.
CASARSAGURU / GETTY IMAGES
Heimbewohnerin: »Es schreit doch zum Himmel«