A
m Ende der Nachtschicht fährt
Björn H. am 15. Oktober 2017 in
seinem Streifenwagen nach Hause.
Auf der Briloner Hochfläche im Hoch -
sauerlandkreis fällt ihm ein Auto auf, das
ihm ohne Licht und mit hoher Geschwin-
digkeit entgegenkommt. Der Polizeikom-
missar wendet, folgt dem Wagen und gibt
das Signal: Der Fahrer soll sofort anhalten.
Doch das Auto rast weiter. Björn H. for-
dert über die Leitstelle Verstärkung an und
hängt sich dran. Ein Hubschrauber steigt
auf. Es kommt zu einer Verfolgungsjagd,
bis der Fahrer die Kontrolle verliert. Sein
Wagen rutscht in einen Busch.
Was nun passiert, hat das Amtsgericht
Brilon als gefährliche Körperverletzung
im Amt gewertet. Es verurteilte Björn
H. zu sechs Monaten Freiheitsstrafe auf
Bewährung und 2500 Euro Schmerzens-
geld – mit dem Hinweis, sein Verhalten in
jener Nacht lasse Zweifel an seiner Eig-
nung als Diensthundeführer aufkommen.
Den Richterspruch finden viele Polizis-
ten hart und unangemessen. In der Justiz
Deutschland
rung«, sagt Ulrike Kempchen, Rechts -
expertin beim BIVA-Pflegeschutzbund.
Früher reichte der Zuschuss der Pflege -
kasse aus, um die Kosten der Pflege kom-
plett zu bezahlen. »Heute ist das häufig
nicht mehr der Fall«, sagt Kempchen.
Auch daher rührt die Wut.
Es ist paradox, dass ausgerechnet ein
gut gemeintes Gesetz den Preisanstieg mit-
ausgelöst hat. 2017 trat die letzte Stufe der
großen Pflegereform in Kraft, die für bes-
sere Löhne in der chronisch unterbezahl-
ten Pflege sorgen sollte. Allerdings hielt
sich kein Politiker mit der Frage auf, wer
das finanzieren soll. Und so kommt es,
dass die Heime die Kosten einfach an die
Bewohner weiterreichen. Weil die Löhne
im Osten niedrig waren, fällt der Anstieg
hier besonders stark aus. »Es kann nicht
sein, dass das Risiko höherer Ausgaben in
der Pflegeversicherung allein beim Ver -
sicherten liegt«, sagt Kempchen.
Der Pflegeschutzbund fordert daher
wie die Sozialdemokraten, das Prinzip
der Pflegeversicherung umzukehren. Künf-
tig sollte nicht der Zuschuss der gesetz -
lichen Kasse gedeckelt sein, sondern der
Eigenanteil der Versicherten. Höhere Kos-
ten und Löhne würden damit von der
gesamten Solidargemeinschaft getragen –
nicht nur von den Schwächsten. Andere
Pflegeexperten plädieren für einen neuen
Steuerzuschuss. Allerdings würde das
auch bedeuten, dass die Pflegeversiche-
rung teurer wird. Doch vor dieser Wahr-
heit drückt sich die Koalition noch.
Bislang konnten sich Union und SPD
nur dazu durchringen, Eltern und Kinder
von Pflegebedürftigen zu entlasten. Sie
sollen künftig erst ab einem Jahresein -
kommen von 100 000 Euro brutto für die
Heimkosten aufkommen müssen.
CDU-Politiker Laumann reicht das
noch nicht, das sagt er vor den Senioren
in Sachsen. Auch Ehepaare brauchten
mehr Unterstützung. Wenn ein Partner
pflegebedürftig werde, greife der gegen-
seitige Unterhaltsanspruch. Es könne aber
nicht sein, dass Ehepartner für Jahre der
Pflege ein Vermögen aufbringen müssten.
Laumann plädiert daher für einen Umbau:
»Die Leistungen der Pflegeversicherung
müssen umso höher ausfallen, je länger
ein Mensch gepflegt werden muss«, sagt
er. Ginge es nach ihm, würde das Thema
in das nächste Bundestagswahlprogramm
der Union aufgenommen.
Am Ende des Essens in Olbernhau zupft
die Frau mit dem grünen Schnellhefter den
Minister am Hemdsärmel. »Ich würde
gern mitnehmen, dass die Politik bald et-
was unternimmt«, sagt sie. »Ich kann es
Ihnen nicht versprechen«, sagt Laumann.
»Das ist die Wahrheit.«
Cornelia Schmergal
Mail: [email protected]
wundern sich dagegen einige über den
Korpsgeist der Uniformträger, der im Ge-
richtssaal sichtbar wurde.
Sicherlich war es richtig, dass Björn
H. in jener Nacht um 3.48 Uhr die Verfol-
gung des zu schnell fahrenden Autos auf-
nahm. Wie sich herausstellte, besaß der
noch jugendliche Fahrer keinen Führer-
schein, der Wagen war nicht zugelassen,
das Kennzeichen gehörte zu einem Motor-
rad. Dass die Insassen eine Straftat began-
gen haben könnten, erschien nicht ausge-
schlossen. Aber das nun folgende Verhal-
ten des Beamten war nach Überzeugung
des Gerichts klar überzogen. Es hat die Er-
eignisse sorgfältig nachgezeichnet.
Mit Blaulicht und Martinshorn rast
Björn H. hinter dem flüchtenden Fahrzeug
her, die Verfolgungsjagd endet auf einem
Waldweg. Auf dem nassen und schmieri-
gen Boden schlittert der Streifenwagen in
das stecken gebliebene Fluchtauto. So zei-
gen es die Aufnahmen der Dashcam, die
sich automatisch eingeschaltet hat: Die in-
nen an der Windschutzscheibe des Polizei-
34 DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019
Einsatz mit Biss
PolizeiwillkürEin Kommissar ließ nach einer Verfolgungsjagd
seinen Diensthund auf einen 18-Jährigen los. Seine
Verurteilung finden Polizistenkollegen völlig unangemessen.
Diensthundeführer Björn H. mit Ilvy: Tiefe Fleischwunden in Armen und Beinen des Opfers