Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1

fahrzeugs installierte Kamera hält nun Sze-
nen fest, die das Gericht in seinem Urteil
als »verstörend« bezeichnet.
Es ist stockfinster, nur das flackernde
Blaulicht beleuchtet die Umgebung. Björn
H. ist nicht allein unterwegs. Im Koffer-
raum sitzt die ihm anvertraute Dienstge-
fährtin: Ilvy, eine belgische Schäferhündin
der Rasse Malinois. Es sind wendige, lern-
freudige, manchmal aggressive Tiere. Hun-
deführer wie H. haben keine menschlichen
Partner, sie sind bei der Arbeit meist auf
sich allein gestellt, nur den Hund an ihrer
Seite. Das Tier lebt bei dem Beamten zu
Hause, wie ein Familienmitglied.
Björn H. betätigt eine Vorrichtung, da-
mit Ilvy von hinten zu ihm klettern kann,
dann steigen sie aus. Sechs Meter neben
der Beifahrerseite des Fluchtwagens be-


fiehlt er dem Tier, sich hinzulegen, und
geht weiter. Im Wagen sitzen zwei Jugend-
liche und ein 18-Jähriger, der durch die
hintere rechte Tür aussteigt und die Hände
in die Luft hält. Er trägt ein helles T-Shirt,
zittert vor Angst und signalisiert, dass er
sich ergebe. Keine 30 Zen timeter trennen
den jungen Mann nun von Björn H., eine
Nähe, die für einen Polizeibeamten in die-
ser Situation gefährlich werden kann und
die er vermeiden sollte. Der Hund ist auf
blitzschnelles Eingreifen trainiert.
Vor Gericht sagt der Polizist, er habe
die jungen Männer gewarnt: »Sitzen blei-
ben! Diensthundeeinsatz!« Die Männer
sagen, Björn H. habe lediglich »Hände


hoch!« gerufen. Das Gericht hält ihre Aus-
sagen für glaubhaft.
Die Videoaufzeichnung belegt, wie
Björn H. Blickkontakt zu seiner tierischen
Partnerin aufnimmt und – wohl wissend,
was nun geschieht – zur Seite springt. Für
den Richter ist es: der Befehl zum Angriff.
Ilvy beißt zu, in die Arme des 18-Jähri-
gen, in dessen Oberschenkel, fünf-, sechs-,
siebenmal. Björn H. ruft das Tier nach
dem ersten Biss nicht zurück, er konzen-
triert sich auf die anderen Autoinsassen.
Aus den tiefen Fleischwunden verliert das
Opfer viel Blut.
Währenddessen steigen die beiden ande-
ren jungen Männer aus dem Auto, die Hän-
de erhoben. Björn H. befiehlt allen dreien
mit vorgehaltener Dienstwaffe, sich auf den
Acker zu legen, das Gesicht nach unten. Er
ruft nach Aussage des Gebissenen mehrmals:
»Auf den Boden, ihr Arschlöcher!« Sie ge-
horchen, legen sich bäuchlings auf die Erde.
Die Diensthündin beordert Björn H.
zwischen sich und die drei am Boden Lie-
genden. Das Tier wird durch den Beamten
in »Habachtstellung« gesetzt: jederzeit zu
erneutem Angriff bereit.
Dem 18-Jährigen wird aufgrund des Blut-
verlusts »schummrig«, er beginnt »Sterne«
zu sehen, wie er später zu Protokoll gibt.
Stark blutend, befürchtet er, das Bewusstsein
zu verlieren. Er stemmt sich hoch, spricht
Björn H. an. Der habe aggressiv reagiert,
ihn gezwungen, sich wieder hinzulegen.
Als der 18-Jährige sich ein zweites Mal
aufrichtet und auf seinen Zustand hinweist,
soll der Polizist geschrien haben: »Mir
doch scheißegal! Der Hund kann dich auch
noch zehnmal beißen!« In diesem Mo-
ment greift das Tier den jungen Mann er-
neut an und beißt ihm in die Armvene.
Dennoch behauptet H. vor Gericht: Die
drei jungen Männer hätten zum Zeitpunkt
des zweiten Angriffs noch gestanden, und
der 18-Jährige habe eine Bewegung ge-
macht, die Ilvy als bedrohlich empfunden
habe, sonst hätte sie ihn nicht angefallen.
Dem Urteil zufolge hat er seine Schäfer-
hündin bei beiden Attacken dagegen »be-
wusst und zielgerichtet« eingesetzt.
Der Fall wirft die Frage nach dem
verantwortungsvollen Umgang mit Poli-
zeihunden auf. In Nordrhein-Westfalen
gibt es rund 300 Diensthunde, deren Füh-
rer sie darauf trainieren, in Stresssituatio-
nen ruhig zu bleiben und harmlose All-
tagsbegebenheiten von einer Bedrohung
zu unterscheiden. Nur wenn es für ihren
Halter gefährlich wird, sollen sie die Lage
durch einen Angriff entschärfen.
Deshalb wird ihnen nicht nur bei -
gebracht, auf Befehl in Arme oder Beine
zu beißen. Bei Gefahr sollen sie auch
selbstständig attackieren. Unter anderem
dann, wenn sie den »Habachtbefehl« be-
kommen haben, um eine Person zu bewa-
chen. Macht diese Person eine auffällige

Bewegung, dann darf der Hund entschei-
den, ob er angreift oder nicht.
Das Gericht hat sich eingehend mit dem
»Habachtbefehl« beschäftigt und hält ihn
für verfassungswidrig. Über die »Anwen-
dung unmittelbaren Zwanges« dürfe nur
ein Mensch entscheiden, nicht aber ein
Hund, mag er noch so gut ausgebildet sein.
Allerdings ist diese grundsätzliche Über-
legung für das Briloner Urteil nicht aus-
schlaggebend. Denn danach war schon die
Bewachung der am Boden Liegenden
durch den Hund überzogen. Björn H. hielt
die jungen Leute bereits mit seiner Pistole
in Schach, welche Gefahr sollte da noch
von ihnen ausgehen?
»Der Hund hat wild zugebissen, Björn H.
hatte ihn nicht mehr unter Kontrolle«, sagt
Rechtsanwalt Oliver Brock, der den 18-Jäh-
rigen im Prozess vertreten hat und nun zu-
dem vom Land Nordrhein-West falen Scha-
densersatz fordert. Ohne Brock gäbe es kein
Briloner Urteil. Ausgangspunkt waren Er-
mittlungen gegen seinen Mandanten und
die beiden Jugendlichen wegen der nächtli-
chen Raserei. Dabei deckte der Verteidiger
das Fehlverhalten des Polizisten auf.
Björn H. ist 36 Jahre alt, verheiratet,
Vater von vier Kindern. Nachbarn im Ort
sagen, er geriere sich daheim als Dorf -
sheriff und genieße das Ansehen als Amts-
person, bevorzugt in Dienstkleidung.
Auch vor Gericht erschien er in Uniform.
Grundsätzlich ist das gestattet, für einen
an geklagten Polizeibeamten jedoch unge-
wöhnlich. Von Kollegen erhielt er Rücken-
deckung: Mehr als zwei Dutzend Polizisten
saßen im Zuschauerraum, manche ebenfalls
in Uniform. Wollten sie das Gericht und
die Zeugen einschüchtern? Das Auftreten
sorgt in Justizkreisen für Empörung, Jus-
tizmitarbeiter sprechen von »versuchter Be-
einflussung«. Im Urteil ist die Rede von
»massiver Polizeipräsenz als Machtdemons-
tration der Poli zei«. Man kann das als
schwere Rüge verstehen.
Die Beamten wollen das allerdings nicht
auf sich sitzen lassen. Auf der von Polizis-
ten initiierten Facebook-Seite »Polizist=
Mensch« sammeln sich wütende Kommen-
tare: Der Prozess sei »beschämend«, der
Richter »dreist«, sein Urteil ein »Schlag ins
Gesicht eines jeden Polizisten«. Es wurde
zu Spenden für den Beamten aufgerufen.
Für die Rolle des Justizopfers scheint
sich Björn H. jedoch kaum zu eignen. We-
gen des Vorwurfs der ge fähr lichen Kör-
perverletzung im Amt muss er im Okto-
ber schon wieder vor Gericht erscheinen:
Bei der Feststellung von Personalien nach
einer Schlägerei soll seine Hündin Ilvy
erst einen 22-jährigen Mann verletzt, sich
dann aus ihrem Halsband gewunden und
einen 24-Jährigen in den Oberschenkel
gebissen haben. Julia Jüttner
Mail: [email protected]

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