Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1

gesehen haben. Als hätte sich Karlheinz
Gross in Luft aufgelöst, ohne Abschied,
ohne eine Vereinbarung über das weitere
Vorgehen. »Kam Ihnen das nicht komisch
vor?«, fragt ein Ermittler den Meister.
Doch schon, antwortet der, »aber ich war
von vielen anderen Aufgaben abgelenkt«.
Fahnder vermuten zunächst, der Mana-
ger sei womöglich von einem der Lkw
überrollt worden, danach habe man den
Schwerverletzten in Panik zum späteren
Fundort verbracht. Oder einer der Mecha-
niker habe beim Streit über die Reparatur
die Nerven verloren, Gross auf den Kopf
geschlagen und ihn schwer verletzt. Um
einen Unfall vorzutäuschen, sei er dann
noch angefahren worden.
Alle Fahrzeuge, die in der Werkstatt
waren, werden auf Spuren untersucht.
14 Werk stattangestelltemüssen Speichel-
proben abgeben, werden wieder und wie-
der vernommen. Alibis wackeln, mehrere
Zeugen verwickeln sich in Widersprüche.
An der Arbeitskleidung zweier Monteu-
re werden »blutverdächtige Anhaftungen«
gefunden, ebenso in einem Firmenwagen.


Die Fahnder wähnen sich schon kurz vor
dem Ziel, doch alle Verdächtigen bestrei-
ten die Tat. Zudem stellt sich heraus, dass
die Blutspuren nicht von Karlheinz Gross
stammen. Die Mechaniker hatten sich bei
Arbeitsunfällen selbst verletzt. Widersprü-
che in den Aussagen entstanden offenbar
auch bei dem Versuch, den verbotenen
Alkoholkonsum zu verheimlichen. »Wir
konnten zwar nichts nachweisen«, sagt
Kriporat Ellrich, »aber wir sind auch nicht
völlig von der Unschuld überzeugt.«
Einer der damals Beschuldigten ist über
die Verdächtigungen bis heute erbost.
»Die Polizei hatte sich nur auf uns einge-
schossen«, sagt der inzwischen 53-jährige
Mechaniker.
Oder liegt der Schlüssel zu der Tat bei
den zwei Männern, die den Schwerver -
letzten fanden? Lkw-Fahrer F., der das
Opfer als Erster gesehen haben will, verhält
sich sonderbar. Als er den Mann auf der
Fahrbahn liegen sieht, steigt er nach eige-
nen Angaben nicht aus, sondern bleibt in
seinem Wagen. »Ich fuhr so neben die
Person, dass ich sie aus dem Fahrerhaus

besser sehen konnte«, sagte er in seiner ers-
ten Aussage.
Der Anblick habe ihn so geschockt,
dass er zunächst zur Lagerhalle weiter -
gefahren sei. Von dort habe er seinen Chef
angerufen, der mit einem anderen Lkw
in der Nähe gewesen sei. Während der
Manager in seinem Blut liegt, will F. den
Anhänger seines Lkw abgekoppelt und die
Ladung abgekippt haben. Er will sich erst
um den Verletzten gekümmert haben, als
fünf Minuten später sein Chef eintrifft. Der
ruft sofort einen Krankenwagen, deckt
Gross mit einer Plane zu.
»Warum haben Sie nicht zuerst die Poli -
zei angerufen?«, will ein Vernehmer von
Fahrer F. wissen. Antwort: »Ich war so er-
schrocken, dass ich nicht wusste, was ich
zuerst machen sollte.« Kriminalrat Ellrich
hält es für möglich, dass der Lkw-Fahrer
den Manager versehentlich an einer ande-
ren Stelle angefahren hat. Und dass dessen
Chef ihm dann geholfen habe, den 87 Kilo -
gramm schweren Manager in den Lkw zu
hieven und zum späteren Fundort zu trans-
portieren.

Der Lkw von F. wurde damals nicht akri-
bisch untersucht. Als der Fall neu bewertet
wurde, war der Truck ins Ausland ver-
kauft. Eine nachträgliche Überprüfung auf
Unfallschäden oder verdächtige Spuren
im Fahrerhaus verlief ergebnislos.
Dabei hatte F. auf bohrende Fragen
nicht mehr ausschließen wollen, dass er,
ohne es zunächst zu merken, den Manager
doch erwischt haben könnte, womöglich
beim Rückwärtsfahren. Die Kripo drängte
damals auf eine Anklage gegen F., doch
der Staatsanwalt lehnte ab. »Unsere Fra-
gen waren ihm zu suggestiv«, sagt Kripo-
mann Ellrich.
Außer Mord wären wohl alle Taten ver-
jährt. Trotzdem dauern die Ermittlungen
an. Die Hoffnung der Polizei ruht auf vier
Haaren von drei verschiedenen Personen.
Sie wurden am verschmutzten Mantel des
Opfers gefunden und liegen in der Asser-
vatenkammer der Magdeburger Staats -
anwaltschaft unter Verschluss. Wenn der
genetische Fingerabdruck einer der Perso-
nen wegen eines anderen Delikts in die
Datenbank der Polizei geriete, gäbe es
einen neuen Verdächtigen.
Albin Gross, der Bruder des Managers,
hofft eher auf späte Reue und ein Ge -
ständnis. »Ich gehe davon aus, dass jeder
Mensch ein Gewissen hat«, sagt er. Irgend-
wann sei der Druck schwerer Schuld auch
für einen hartgesottenen Täter nicht mehr
auszuhalten. Sollte der Tod seines Bruders
aufgeklärt werden, würden die Kastel -
ruther Spatzen wieder in Magdeburg auf-
treten, verspricht der Musiker. »Dann wird
der Erlös gespendet, dann geben wir ein
Benefizkonzert.«

DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019 41


FOTOS: PETER GERCKE /PEOPLE PICTURE / SAM BONYADI / WAHAPRESS

Blutspuren des Opfers, defekter Iveco-Kleinlaster 1998,
Beisetzung von Gross am 12. März 1998
»Er war unser achter Spatz«
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