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adine Möller* kennt sich aus mit
Abschieden, sie hat dafür eine ein-
studierte Choreografie. Ein Fest
wird gefeiert, ein Koffer gepackt. Anschlie-
ßend bringt Möller ihren Gast in sein neu-
es Zuhause. Auf dem Rückweg im Auto,
wenn sie allein ist, darf sie weinen.
Viermal hat Möller so Abschied ge -
nommen in den vergangenen vier Jahren.
Ihre Gäste: Kinder, die sie aufnahm, weil
das Jugendamt kurzfristig einen sicheren
Ort für sie suchte. Bei ihren eigenen Eltern
hatten sie Gewalt oder Hunger erlebt, ein
Mädchen folgte Möller mehrere Wochen
durchs Haus, ohne ein Wort zu sprechen.
Nadine Möller weiß: Die Choreografie
macht die Trennung nicht leicht, aber er-
träglicher.
Sie sitzt im Schneidersitz auf dem Bo-
den ihres Wohnzimmers, neben ihr tüftelt
Niklas daran, die Brücke seiner Holzeisen-
bahn an das Schienennetz anzuschließen.
- Namen der Familienmitglieder und des Kindes geändert.
Als Niklas zu ihr kam, war er noch ein
Säugling. Heute ist Niklas zweieinhalb Jah-
re alt – und ein Abschied noch immer nicht
in Sicht.
61 383-mal nahm das Jugendamt im Jahr
2017 Kinder und Jugendliche vorläufig in
Obhut. Einige mussten vor ihren Eltern ge-
schützt werden; andere bedurften der Hilfe,
weil sie keine Eltern oder Angehörigen hier
haben, darunter unbegleitete minderjährige
Flüchtlinge. In knapp 5000 Fällen waren
die Kinder jünger als drei Jahre. Die Kleins-
ten kommen zu Familien wie der von Na-
dine Möller. Sie hat mit ihrem Mann zwei
eigene Kinder, Lillie, 7, und Tom, 11. Und
regelmäßig eben ein drittes Kind, auf Zeit.
In der Bereitschaftspflege sollen Kinder
wie Niklas kurzfristig Schutz finden, wäh-
rend ihr Schicksal verhandelt wird. Man-
che leiblichen Eltern müssen eine Therapie
machen, mal wird vor Gericht gestritten.
Eigentlich sollen die Kinder nur übergangs-
weise in den Familien bleiben. Doch nicht
in allen Fällen klappt das. »Die Inobhut-
nahmen mit einer Dauer von weniger als
einer Woche sind inzwischen in der Min-
derheit«, heißt es im Kinder- und Jugend-
hilfereport 2018. »Insgesamt dauert es im-
mer länger.«
Je jünger die Betroffenen sind, desto
mehr Zeit wird benötigt: Bei unter Drei-
jährigen braucht das Amt im Durchschnitt
rund 70 Tage. Für alle Kinder und Jugend-
lichen liegt der Durchschnittswert bei 36
Tagen. Er werde, wie es in dem Report
heißt, »stark von relativ wenigen Fällen
mit extrem langer Dauer beeinflusst«.
Niklas sollte längst nicht mehr bei
Nadine Möller leben. Kann er zurück zu
seinen leiblichen Eltern? Kommt er in eine
Dauerpflegefamilie? Über diese Fragen
wird vor Gericht verhandelt. Ursprünglich
hatte das Jugendamt Niklas’ Eltern an -
geboten, eine Therapie zu machen. Nach
drei Monaten, so war sich Möller sicher,
könne der Junge wieder zurück.
Doch Niklas’ Eltern lehnten die Thera-
pie ab, nahmen sich stattdessen einen An-
walt. Seitdem zieht sich der Rechtsstreit.
Immer neue Gutachten müssen angefor-
dert, immer neue Verhandlungstermine
anberaumt werden.
Zu Beginn des Jahres schien der Fall
endlich geklärt. Niklas sollte zu einer Pfle-
gefamilie kommen, bei der er dauerhaft
bleiben konnte. Dann wurde Niklas’ leib-
liche Mutter wieder schwanger, nun soll
die Situation erneut überprüft werden.
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MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL
Pflegemutter Möller, Schützling Niklas: »Ich will sie mit einem Lachen gehen lassen«
Schutz auf Zeit
KinderAls Niklas sechs Monate alt war, nahm das Jugendamt ihn in
Obhut. Mehr als zwei Jahre später ist sein Schicksal noch unklar.
Eine Belastung für ihn – und für die Familie, die ihn aufgenommen hat.