Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1
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usik: 1, Leibesübungen: 1, Kunst: 2, Geschichte: 2,
Religion: 2. 13 Fächer insgesamt, Deutsch, Polnisch,
Latein, am schwächsten war er offenbar in Mathe-
matik gewesen: Note 4. Leon Schwarzbaum war 98, als er
am 16. Juli dieses Abiturzeugnis entgegennahm.
»Leon Schwarzbaum hat die Prüfung bestanden«, heißt es
weiter. »Leon Schwarzbaum will Zahnmedizin studieren.«
Leon Schwarzbaum sitzt auf der Couch in seinem
Wohnzimmer in Berlin-Grunewald, trägt bei der Augusthitze
einen Strickpulli und Turnschuhe und sagt, als müsse er das
zur Sicherheit klarstellen: »Ich werde nicht Medizin stu -
dieren.«
Er lächelt, als er das sagt, ein Sohn polnischer Juden, ge-
boren 1921 in Hamburg-Altona. Er hat Auschwitz überlebt.
Er ging auf ein Gymnasium in
Będzin, Südpolen, legte dort 1939
seine Reifeprüfung ab. Dann kam
er ins Getto. Später in einen Vieh-
waggon.
»Ich ging ohne Abiturzeugnis
durchs Leben«, sagt er.
Seine Erinnerungen behielt
Leon Schwarzbaum lange für sich.
Nach dem Krieg blieb er in
Deutschland. Er traf in Berlin auf
andere Überlebende, verliebte sich
in eine Deutsche, betrieb ein Anti-
quariat. Erst Jahrzehnte später be-
gann er zu sprechen: vor Schülern,
vor Häftlingen, bei Markus Lanz.
Er berichtete darüber, wie 35 Men-
schen aus seiner Familie starben.
Er wollte im Prozess gegen einen
ehemaligen SS-Wachmann aussa-
gen, der in der Woche Dienst hatte,
als Leon Schwarzbaums Eltern in
Auschwitz vergast wurden. Der SS-Mann starb vor Prozess-
beginn. Schwarzbaum sagte gegen einen anderen Auschwitz-
Wächter aus, Reinhold Hanning.
Im Juli bekam er das Bundesverdienstkreuz, das er zu-
sammen mit dem Abiturzeugnis auf einer Etagere neben
seiner Nussbaumkommode aus dem 18. Jahrhundert auf -
bewahrt. Er hat Fotos eingerahmt: er mit seiner verstorbenen
Frau Ursula, mit Joachim Gauck, mit Prinz William und
Herzogin Kate.
Ein Foto, das er nicht eingerahmt hat, zeigt ihn kurz nach
der Einschulung an der jüdischen Fürstenberg-Schule in
Będzin, Ende der Zwanzigerjahre, hinterste Reihe, kurz ge-
schorenes Haar. »Ich saß immer hinten«, sagt er. »Ich redete
ungern.« Andere hätten sich wohl in die erste Reihe gesetzt:
Die Schule wurde von seinem Onkel finanziert, dem Indus-
triellen Szymon Fürstenberg. »Es war die beste Schule der
Stadt«, sagt Leon Schwarzbaum, »die Sporthalle, die Labors,
der Marmor.« Drei Stockwerke, spitzes Dach, die Schwarz-
baums wohnten schräg gegenüber.


Będzin, Oberschlesien, war damals eine jüdisch geprägte
Stadt, etwa die Hälfte der 40 000 Einwohner waren Juden.
Zum Feiern fuhr man nach Katowice, das beste Bier sei aus
einem Städtchen namens Oświęcim gekommen, 40 Kilome-
ter weiter südlich, von Deutschen Auschwitz genannt. Leons
Onkel, der Fabrikant, machte sich Sorgen, es könnte bergab
gehen mit den jüdischen Traditionen.
»Sein Sohn fuhr Sportwagen«, sagt Leon Schwarzbaum,
»trug Pistolen, schoss in Restaurants auf Spiegel und sagte:
›Geben Sie mir die Rechnung!‹«
Alle Schüler am Fürstenberg-Gymnasium seien Juden ge-
wesen, alle Lehrkräfte, bis auf den jungen Sportlehrer, Herrn
Wiech. Die Unterrichtssprache war Polnisch, nur der Reli -
gionsunterricht wurde auf Hebräisch erteilt.
Leon Schwarzbaum sagt, er sei gut im Hochsprung gewe-
sen, persönlicher Rekord: einssechzig. »Wenn ich mich nicht
täusche.« Frau Anisfeld habe Polnisch unterrichtet, Frau Lieb-
lichöwna, mit ö, Latein, »eine aparte Frau«. Im Kunstunter-
richt habe man Flugzeuge aus Holz gebaut. Der Direktor
hieß: Dr. Einhorn.
»Meinen Mathematiklehrer habe ich in Auschwitz wieder-
gesehen. Er sagte: ›Schwarzbaum, guck mal, wie ich jetzt
aussehe.‹« Die anderen Lehrer habe er nie wiedergesehen.
Als Leon Schwarzbaum zu reden begann, im hohen Alter,
begegnete er dem Regisseur Hans-Erich Viet. Viet drehte
einen Dokumentarfilm über ihn,
»Der letzte Jolly Boy«, genannt
nach der A-cap pella-Band, in der
Leon Schwarzbaum als Teenager
gesungen hatte, Jazz, Swing, das
Vorbild waren die Mills Brothers
aus Ohio.
Viet und Schwarzbaum reisten
nach Będzin, versuchten, auch
Schwarzbaums verschollenes Abi-
turzeugnis zu finden. Leon Schwarz-
baum weiß die Noten noch, so
ungefähr wenigstens. Das Schul -
gebäude steht noch, die Schul -
leitung half ihm aber nicht weiter.
Im Januar wurde »Der letzte
Jolly Boy« an der Albert-Ein -
stein-Schule im niedersächsischen
Laatzen gezeigt, zum Jahrestag
der Befreiung von Auschwitz.
Ein Schüler stand auf und frag -
te: »Wieso können wir Herrn
Schwarzbaum nicht sein Abiturzeugnis ausstellen?« Es
gab Applaus.
Die Verleihung wurde für den 6. Juni geplant. Die Schul-
band übte A-cappella-Singen, die Tanz-AG übte Stepptanz,
der Musiklehrer komponierte ein Blues-Stück. Die Schüler
luden Leon Schwarzbaum nach Laatzen ein: Wir haben den
Film gesehen, schrieben sie, wir würden Sie gern kennenler-
nen! Vom Abiturzeugnis kein Wort, es sollte eine Überra-
schung werden. Ein Ehrenabitur, ohne Noten.
Es kam anders. Leon Schwarzbaum hatte einen Schwäche -
anfall, konnte nicht nach Laatzen reisen. Die Ehrung wurde
auf den Herbst verlegt.
Dann hatte eine andere Schule eine ähnliche Idee, die Evan-
gelische Integrierte Gesamtschule Wunstorf. Kaum war Leon
Schwarzbaum wieder auf den Beinen, stellten ihm die Wuns-
torfer ihr eigenes Zeugnis aus, mit Noten, so, wie er sich daran
erinnert hatte. Sie überreichten es ihm in Berlin. In den Schul-
ferien, ohne Schüler. Aber der Kultusminister kam.
Timofey Neshitov

Reifeprüfung


Warum ein 98-Jähriger mit 80 Jahren
Verspätung sein Abiturzeugnis bekam

Eine Meldung und ihre Geschichte

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL
Schwarzbaum

Aus der »Süddeutschen Zeitung«
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