Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1

Bourgeois.« Zehn Millionen Menschen
hätten ihren Text gelesen, sagt Murgia.
»Ich glaube, mein Post hat ihm in wenigen
Tagen mehr geschadet als die Arbeit der
parlamentarischen Opposition in sechs
Monaten.« Dann hätten Trolle sie im
Internet verfolgt, es habe verbale Gewalt
gegeben, Todesdrohungen. »Das war auch
ein Signal an andere«, sagt Murgia: »Wer
Salvini öffentlich widerspricht, wird me-
dial verprügelt, von einer virtuellen fa-
schistischen Schlägertruppe.«
Italien ist eine verunsicherte Republik.
Monatelang fand Politik vor allem in den
sozialen Medien statt. Jetzt kehrt sie in die
staatlichen Institutionen zurück. Die Re-
gierungskrise zwingt die Parteien zum
Handeln. Das fällt vor allem dem bisheri-
gen Koalitionspartner der Lega schwer,
Vizepräsident Luigi Di Maio und seiner
Fünf-Sterne-Bewegung. Die würde bei
Neuwahlen laut Umfragen tief stürzen.
Deshalb sucht sie nach Alternativen.
Plötzlich wird in Rom vorstellbar, was
bislang als ausgeschlossen galt: eine Zu-
sammenarbeit der Sterne mit den Sozial-
demokraten, dem Partito Democratico
(PD). Italiens vorige Regierungspartei ist
für Di Maio und seine Leute eigentlich der
Ursprung allen Übels. Sie sehen darin ein
Establishment, das nur sich selbst diene.
Die Abneigung beruht auf Gegenseitig-
keit. Doch um Salvini zu verhindern, mel-
dete sich jetzt sogar der Komiker Beppe
Grillo zurück, der die Fünf-Sterne-Bewe-
gung einst gegründet hat. »Ich erhebe
mich, um Italien vor den neuen Barbaren


zu retten«, sagte er. Er sei gegen Neuwah-
len, man solle nicht »Kamikaze begehen«.
Der sozialdemokratische Ex-Premier
Matteo Renzi, eigentlich einer der größten
Sterne-Hasser, sagte: »Salvini sollte sich
mal einen Kamillentee gönnen, er ist von
den Nächten am Strand ein bisschen über-
dreht.« Der PD dürfe nicht den Fehler be-
gehen, das Land für fünf Jahre dem Lega-
Chef auszuliefern.
Noch scheint alles möglich: Neuwahlen
im Herbst, eine kurzlebige Expertenregie-
rung – oder eine neue Mitte-links-Koalition,
die bis zum Ende der Legislaturperiode
durchhält. Am vergangenen Mittwoch hat
sich diese alternative linke Mehrheit zum
ersten Mal im Senat gefunden und Salvini
in prozeduralen Fragen überstimmt.
Wenn sie Bestand haben sollte, könnte
sie eines Tages gleich noch den Nachfolger
von Staatspräsident Sergio Mattarella wäh-
len, dessen Amtszeit 2022 endet. Ein Da-
tum, das im Mitte-links-Lager für weitere
Albträume sorgt. Denn sollte die Lega
nach Neuwahlen mit dem rechten Lager
aus Forza Italia und Fratelli d’Italia eine
Koalition bilden, könnte in Zukunft eine
kuriose Doppelspitze das Land repräsen-
tieren: Matteo Salvini als Regierungschef
und Silvio Berlusconi als Staatspräsident.
Die Italienerin Nadia Urbinati ist Poli-
tikwissenschaftlerin an der Columbia Uni-
versity in New York. Sie hat sich intensiv
mit den Ursachen des Populismus beschäf-
tigt, in den USA und in ihrer Heimat. »Die
letzten PD-Regierungen haben die wirt-
schaftlichen Probleme Süditaliens igno-

riert«, sagt sie, so wie es in den USA mit
den alten Industriegebieten in den Staaten
des »rust belt« geschehen sei. Ganze Be-
völkerungsgruppen fühlten sich vernach-
lässigt – ein Nährboden für Populisten.
Die Professorin ist für eine Mitte-links-
Regierung bis 2023 – wie auch Michela
Murgia. »Salvini will Neuwahlen nur aus
einem Grund«, sagt sie: »Mitte Oktober
müssen wir unseren Haushaltsplan nach
Brüssel schicken. Die unpopulären Ent-
scheidungen, die notwendig werden, sol-
len vorher andere treffen.« Salvini käme
das sehr gelegen.
Im Hinterhof von La Spezia, am Mitt-
wochnachmittag vor der Demonstration,
gibt es vor allem ein Thema, das die linken
Aktivisten eint: die Wirtschaft. Die hohe
Jugendarbeitslosigkeit ist das Thema ihres
Lebens, alle können von eigenen Erfah-
rungen berichten: Einer ist Ingenieur, heu-
te arbeitslos. Der nächste Lehrer, heute
Speditionsarbeiter, so geht es weiter, rund
um den Tisch.
Doch schnell zeigt sich, dass ihre Einig-
keit schwindet, wenn sie über andere The-
men sprechen: Sie bezeichnen sich als
Kommunisten, Sozialistinnen, Gewerk-
schafter, Feministinnen, Umweltbewegte.
In der Diskussion fliegen Utopien hin und
her. Es fällt ihnen nicht leicht, eine gemein-
same Haltung zu finden.
Irgendwann bringt einer stöhnend das
Problem der Salvini-Gegner auf den
Punkt: »Die Rechte hat eine Vision, die
Linke nicht.« Frank Hornig

DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019 73

GIANMARCO MARAVIGLIA / DER SPIEGEL
Linke Gegendemonstranten in La Spezia: »Gauner! Mörder! Schäm dich!«
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