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uf Station acht im Krankenhaus in
Srinagar liegt ein sechsjähriges Mäd-
chen. Sein Name ist Munifa Nazir,
es trägt ein pinkfarbenes Kleid und über
dem rechten Auge einen weißen Verband.
Als eine Ärztin das Auge inspizieren möch-
te, fängt das Kind an zu weinen. »Bitte ret-
te mich«, schluchzt es. Unter dem Verband
ist das Auge geschwollen und blau.
Die Ärzte werden operieren, aber es
gibt wenig Hoffnung, dass das Mädchen
eines Tages wieder wird sehen können.
Munifa war mit ihrem Onkel auf dem Weg
zu Verwandten, als sie von Sicherheitskräf-
ten auf der Straße gestoppt wurden. Es
kam zum Streit. Ein Geschoss traf Munifa
ins Auge.
Doch es ist nicht klar, woher das Ge-
schoss kam. Ob die Sicherheitskräfte ein-
fach so auf das Mädchen schossen, wie der
Onkel behauptet. Oder ob möglicherweise
ein Stein der Demonstranten sie traf, wie
das Militär behauptet. Es gehört zur Tragik
Kaschmirs, dass beides gleichermaßen mög-
lich ist. Es besteht aber wenig Zweifel daran,
dass Munifa ins Kreuzfeuer eines Konflikts
geriet, der Jahrzehnte alt ist – und der ge-
rade wieder gefährlich aufflammt.
Munifa lebt im Kaschmirtal, dem wohl
schönsten Konfliktgebiet der Welt. Im Dal-
See in Srinagar, 1600 Meter über dem
Meer, spiegeln sich die schneebedeckten
Gipfel des Himalaja. Hausboote ankern
am Ufer. Jetzt, im Sommer, ist es hier fast
30 Grad warm, und in anderen Jahren
drängten sich hier um diese Zeit Einheimi-
sche und Touristen. Nicht heute. Die Lä-
den sind geschlossen. Stacheldraht und
Sandsäcke blockieren den Weg. Passanten
und Autos sind kaum zu sehen. Wohin
man schaut, patrouillieren schwer bewaff-
nete Sicherheitskräfte.
Der Kaschmirkonflikt ist einer der ge-
fährlichsten der Welt, weil sich hier drei
Atommächte gegenüberstehen: China,
aber vor allem Indien und Pakistan. Zwar
gehört der größte Teil Kaschmirs zu Indien,
doch weil die Bewohner überwiegend
Muslime sind, erhebt Pakistan Ansprüche
auf die gesamte Region. Schon zwei Kriege
haben die beiden Erzfeinde um Kaschmir
geführt (1947 und 1965). Seit Indien vor-
vergangene Woche seinem Teil den Auto-
nomiestatus entzogen hat, fürchten viele,
dass wieder Krieg droht.
Die indische Regierung sagt, die Militär -
präsenz vor Ort sei nötig, um Ruhe und
Ordnung zu bewahren. Indische Fernseh-
sender strahlen friedliche Alltagsszenen
aus: Menschen, die auf Märkten einkaufen.
Kinder, die mit Sicherheitskräften Kricket
spielen. Kaschmir begrüße die neue Ord-
nung, heißt es. Das mag für Jammu gelten,
den Teil, in dem vor allem Hindus leben.
Aber im umstrittenen Kaschmirtal, das
mehrheitlich muslimisch ist, gleicht die
Situation einer Belagerung.
Über Stunden, teils Tage hinweg, dürfen
die Bewohner hier wegen einer faktischen
Ausgangssperre ihre Häuser nicht verlassen.
Schulen bleiben geschlossen. Eine Familie
erzählt, sie habe 400 Kilogramm Reis ge-
bunkert und könne sechs Monate lang über-
74 DER SPIEGEL Nr. 34 / 17. 8. 2019
Im Ausnahmezustand
KaschmirDie Autonomie der Region ist aufgehoben, alle Verbindungen
zur Außenwelt sind gekappt, Oppositionelle
verschwunden. Was plant Indien – und wie wird Pakistan reagieren?
ATUL LOKE / THE NEW YORK TIMES / LAIF
Indischer Sicherheitsmann auf Patrouille: Die Situation gleicht einer Belagerung