Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1
nennt, Märtyrer, sitzt auf einem Kranken-
bett. Der Student zieht sein weißes Ge-
wand hoch. Auf seinen Armen, den Ober-
schenkeln und seiner Brust sind kleine
schwarze Punkte zu sehen, fast wie Amei-
sen auf der Haut. Seine Augen sind blut-
unterlaufen, in einem hat sich eine Schrot-
kugel festgesetzt.
Er habe in der Moschee beten wollen,
als die Armee auf ihn geschossen habe,
sagt er. Wahrscheinlicher ist, dass auch
Shahid Steine auf die Soldaten warf. Min-
destens 40-mal ist es in den vergangenen
sieben Tagen zu solchen Zusammenstößen
zwischen Demonstranten und Soldaten
gekommen. Einmal sollen zehntausend
Menschen auf die Straße gegangen sein,
berichtet die britische BBC. Ein Sprecher
des indischen Innenministeriums weist das
als »erfunden« zurück. Doch in Srinagars
Krankenhäusern liegen Dutzende Men-
schen wie Shahid.
»Indien hat uns unsere Rechte genom-
men«, sagt Shahid. »Als Nächstes werden
sie uns unser Land nehmen.« Er habe fast
ein Auge verloren. »Und ich bin bereit,
das andere auch zu opfern.«
Es gab in Srinagar schon immer zwei
Lager: ein radikales, teils gewalttätiges,
das die Abspaltung von Indien forderte.
Und ein gemäßigtes, dessen Mitglieder
sich nicht unbedingt indisch fühlten, aber
schätzten, was das Land ihnen ermöglich-
te. Dazu zählten viele jener Politiker, die
nun in Haft sitzen. Nach dem 5. August
trifft man in Srinagar nicht mehr viele
Menschen, die zu Indien gehören möchten.
Die meisten fühlen sich von dem Land ge-
täuscht. Für sie hat es seine Versprechen
gebrochen.
Als Indien und Pakistan vor 72 Jahren
ihre Unabhängigkeit von den britischen
Kolonialherren erlangten, entschied sich
das kleine Fürstentum Kaschmir für die
Selbstständigkeit. Aber schon bald fielen
pakistanische Stammeskrieger ein, und

75

Ausland

CHINA

von Pakistan verwaltet,
von Indien beansprucht

von China besetzt,
von Indien be-
ansprucht

»Line of
Control«
Srinagar
Islamabad

Kaschmir

von Pakistan an China
abgetreten, von Indien
nicht anerkannt und
beansprucht

von Indien verwaltet

Quelle: Sipri, 2019

150 – 160
Atomspreng-
sätze

PAKISTAN

130 – 140
Atomspreng-
sätze

INDIEN

200 km

leben – für den Fall, »dass Indien auch noch
die Nah rungslieferungen einstellt«. Die
meisten Menschen wollen aus Furcht vor
Repressalien ihren Namen nicht nennen.
Telefone, Internet und Kabelfernsehen
sind seit mehr als zehn Tagen tot. Das
Tal ist von der Außenwelt abgeschnitten
und seine rund acht Millionen Bewohner
voneinander. In einem Stadtteil hat ein
Mann bei seinen Nachbarn die Telefon-
nummern ihrer Angehörigen gesammelt
und ist nach Delhi geflogen, um von dort
aus allen auszurichten, dass es ihren Liebs-
ten gut gehe. Eine Bewohnerin sagt, sie
habe den Glauben an Indien verloren:
»Sie können uns töten, sie können mit uns
tun, was sie wollen.«
Hunderte Menschen stehen laut Me-
dienberichten unter Hausarrest oder sind
verhaftet worden, darunter Aktivisten,
Politiker und Akademiker. Ein örtlicher
Politiker und scharfer Kritiker des indi-
schen Premiers Narendra Modi, der das
Land verlassen wollte, wurde am Mitt-
woch am Flughafen Delhi festgesetzt und
nach Srinagar zurückgeschickt, wo er nun
festgehalten wird. Omar Abdullah, ein ehe-
maliger Regierungschef der Region, twit-
terte in den Morgenstunden des 5. August:
»Ich weiß nicht, was uns erwartet, aber es
sieht nicht gut aus.« Seitdem wurde er
nicht mehr gesehen. Was aus ihm und an-
deren geworden ist, lässt sich kaum heraus-
finden. Ausländische Journalisten dürfen
nicht ohne Sondergenehmigung nach
Kaschmir reisen. Einheimische Reporter
können nur eingeschränkt recherchieren.
Die Vereinten Nationen nannten die
Vorfälle »zutiefst besorgniserregend«. Die
USA boten Vermittlung an. Nun fordert
China eine Sitzung des Uno-Sicherheits-
rats. Ansonsten ist es still um Kaschmir;
gefährlich still.
Der aktuelle Konflikt begann eigentlich
schon im Februar. Damals sprengte sich
ein junger Mann im indisch kontrollierten
Teil in die Luft und riss mindestens 40 Si-
cherheitskräfte in den Tod. Es war der
schlimmste Anschlag seit 30 Jahren. Die
in Pakistan beheimatete Terrorgruppe
Jaish-e-Mohammed bekannte sich zu der
Tat. Indien reagierte prompt und heftig:
Kampfflugzeuge bombardierten Stellun-
gen in Pakistan.
Was sich nun abspielt, birgt das Poten-
zial einer neuen Eskalation. Es ist Mitt-
woch in Srinagar, der Tag, bevor Indien
seine Unabhängigkeit feiert. Am Abend
hat Pakistans Premier Imran Khan dem
Nachbarn indirekt mit Krieg gedroht: Es
sei Zeit, dem Land »eine Lektion zu ertei-
len«. Pakistan hat angekündigt, für Kasch-
mir zu kämpfen. Es bietet nach wie vor
terroristischen Gruppen eine Heimat –
und womöglich auch Unterstützung.
Ein junger Mann, der seinen echten Na-
men nicht sagen möchte und sich »Shahid«


Kaschmir bat Indien um Hilfe – die es auch
erhielt. Der damalige Herrscher schloss
sich im Gegenzug Indien an. Später wurde
die Region nach einem Krieg zwischen In-
dien und Pakistan geteilt. Das von Indien
beanspruchte Land wurde in der Folge au-
tonom. Bis vor Kurzem hatte es eine eige-
ne Flagge und Verfassung. Und nur Kasch-
mirer durften Land erwerben und sich auf
staatliche Stellen bewerben.
Für die Gründerväter Indiens waren
Kompromisse die Garantie für das Über-
leben ihres Landes. Indien hat weder eine
einheitliche Sprache noch Religion oder
Ethnie. Die Angst war, dass der neue Staat
schnell auseinanderbrechen würde, wenn
Minderheiten nicht befriedet würden.
Kaschmir galt als Beweis, dass eine musli-
mische Region in einem mehrheitlich hin-
duistischen Land existieren kann.
In den Augen der Hindu-Nationalisten
war das ein Fehler. Die Partei von Premier
Modi glaubt, Sonderrechte hätten den
Separatismus genährt. Für sie liegt Indiens
Stärke nicht in seiner Vielfalt, sondern in
seiner Einheit.
Wahr ist ebenso: Kaschmirs Wirtschaft
be findet sich in einer desolaten Lage,
Dynas tien regieren hier seit Jahrzehnten.
Der Konflikt hat sei 1990 mindestens
40 000 Menschen das Leben gekostet. Die
Hindu-Minderheit im Tal wurde vertrieben.
In einer Rede am Mittwoch versprach
Modi »den Beginn einer neuen Ära«. In-
vestoren würden nach Kaschmir kommen.
Die Region werde endlich vom wirtschaft-
lichen Aufstieg Indiens profitieren.
In Srinagar hingegen glauben die meis-
ten Menschen nicht, dass der Premier
ihnen helfen will, sondern dass er ihnen
ihr Land wegnehmen möchte. Sie fürchten,
dass der Staat gezielt Hindus nach Kasch-
mir locken wird – so wie China es mit den
Han-Chinesen in Tibet gemacht hat. Viele
Hindus brauchte es in Kaschmir nicht,
lediglich vier Millionen leben dort.
Viele Muslime reden nun von Kampf
und davon, es Indien heimzuzahlen. Sha-
hid sagt: »Wir werden jene töten, die uns
Unrecht angetan haben.«
Schon seit Jahren steigt die Zahl der Ex-
tremisten in der Region. Und es sind zum
ersten Mal nicht mehr vor allem Pakista-
ner, die sich den Militanten anschließen;
es sind immer öfter junge Kaschmirer aus
dem indisch kontrollierten Teil.
Irgendwann wird Indien die Sicherheits-
maßnahmen lockern müssen, Proteste sind
dann wahrscheinlich. Modi, der stark auf-
treten will, könnte sich dann gezwungen
sehen, entschieden zu handeln.
»Wir sind wie Gefangene in unserem ei-
genen Haus«, sagt ein Einwohner von Sri-
nagar. »Sobald die Ausgangssperre aufge-
hoben wird, werden wir uns widersetzen.«
Laura Höflinger, Sunaina Kumar
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