Der Spiegel - 17. August 2019

(Ron) #1

kau. Stalin habe sich Westukrainer
und Balten mit Gewalt einverleibt,
die eine ganz andere Mentalität als
die Russen besäßen. Die Linie, die
Stalin und Hitler 1939 zur Abgren-
zung ihrer Machtsphären zeichne-
ten, pulsiere bis heute, von ihr gehe
eine gefährliche Strahlung aus.
»Der Hass auf Russland baut sich
an dieser Linie auf.«
Tatsächlich ist die einst von Stalin
gezeichnete Grenzlinie 80 Jahre
später zu einem extrem sensiblen
geopolitischen Raum geworden.
Nicht mehr an Elbe und Saale, son-
dern an ihr entlang verläuft heute
die Spaltung Europas. In der Region
des früheren Bessarabien liegt jetzt
die eher westlich orientierte Repu-
blik Moldau – Russland unterstützt
dort mit Soldaten und Waffen die
kleine Separatistenrepublik Trans-
nistrien, die sich von Moldau losge-
sagt hat. Die Westukraine wieder-
um ist für den Kreml ein rotes Tuch – kaum
ein Tag vergeht, ohne dass Moskauer Me-
dien über »faschistische« Umtriebe in der
Region berichten. »Die Westukraine zu an-
nektieren war der größte Fehler Stalins«,
glaubt Korotitsch. »Sie hat stets zu Polen
oder Österreich-Ungarn gehört, sie hat eine
andere Religion, einen anderen Dialekt.
Ohne sie wäre der Maidan nie passiert.«
Der Aufstand, der 2014 zum Sturz der pro-
russischen Regierung von Wiktor Janukow-
ytsch geführt hat, ging mehrheitlich vom
Westen des Landes aus.
Zwischen Polen und Moskau haben sich
die Beziehungen in den vergangenen Jahren
sogar verschlechtert. Und das Baltikum? Der
Kreml nutzt die dort lebenden russischen
Minderheiten als fünfte Kolonne, um Litau-
en, Lettland und Estland zu diffamieren. Die
Reaktionen sind entsprechend harsch. Polen
wie die Ukraine sind überzeugt, dass der
Hitler-Stalin-Pakt zur Entfesselung des Zwei-
ten Weltkriegs geführt hat.
Den Pakt von 1939 neu zu bewerten
wäre für Korotitsch ein Akt des Revanchis-
mus. »Wenn Leute in Deutschland dafür
kämpfen, Danzig oder Königsberg zurück-
zuholen, hält man sie für verrückt oder
verurteilt sie. Bei uns darf der Chef des
Geheimdiensts sagen, dass es unter Stalin
keinen Terror gab und dass wir 1939 urei-
gene Gebiete wiedereingegliedert haben –
und niemand verurteilt sie dafür.«


Auch jene Männer und Frauen, die 1989
die Abstimmung über die Geheimproto-
kolle erzwangen, sind nur noch schwer zu
finden. Im litauischen Vilnius immerhin
kann man Musikprofessor Vytautas Lands-
bergis treffen, einstiger Führer der li-
tauischen Unabhängigkeitsbewegung und
erster amtierender Staatschef dieser balti-
schen Republik.

Er ist inzwischen 86, sein Büro liegt in
einer Villengegend im Norden der Stadt.
Hinter ihm hängen Zeugen der Vergangen-
heit an der Wand: Landsbergis auf Fotos
mit George Bush, mit Helmut Kohl und
Margaret Thatcher, mit Reagan und Mit-
terrand. Vytautas Landsbergis war einst
der Held des Baltikums. Er hat die Men-
schenkette für die Unabhängigkeit mit or-
ganisiert und im Januar 1991 standgehal-
ten, als sowjetische Panzer die Litauer
noch einmal in die Knie zwingen wollten.
Beim sogenannten Vilniuser Blutsonntag
wurden 14 Menschen getötet und mehr als
tausend verletzt.
Landsbergis erzählt, wie sehr selbst Gor-
batschow 1989 laviert habe. »Er und seine
Umgebung wollten den Pakt nicht annul-
lieren, sondern nur einige seiner Details
verurteilen – um das alte Imperium zu be-
wahren. Aber die russischen Demokraten
unterstützten uns, vor allem Jelzin und Sa-
charow. Und so rutschte ihnen die ganze
Debatte aus der Hand.« Die Sowjetunion
habe damals auf die Frage antworten müs-
sen, in welcher Beziehung sie zu den Ver-
brechen Stalins stehe, sagt Landsbergis.
»Wenn sie jetzt in Moskau sagen, der Be-
schluss von 1989 sei unrechtmäßig gewe-
sen, wird ihnen Hitler aus seinem Grab in
der Hölle Glückwünsche schicken.«
Landsbergis sagt, den Balten sei es 1989
nicht um die Verurteilung Russlands gegan-
gen, sondern um die Wiederherstellung von
Gerechtigkeit. »Wir sind über Verrat und
Gewalt in die Sowjetunion geraten. Dass
das litauische Volk um den Beitritt gebeten
hat, ist Moskauer Propaganda. Haben wir
uns selbst die Schlinge um den Hals gelegt
und darum gebettelt, zu Hunderttausenden
freiwillig nach Sibirien zu fahren? Sie lügen
immer auf die gleiche Weise. Damals wie
heute. 2014 sagten sie, ihre Soldaten seien

nicht auf der Krim, das seien grüne
Marsmännchen.«

Hat der Hitler-Stalin-Pakt zum
Ausbruch des Zweiten Weltkriegs
geführt? Darauf lässt sich weder
mit einem Ja noch mit einem Nein
antworten. Fest steht: Stalin hat
Hitler den Weg geebnet, weil sich
seine Interessen mit denen Hitlers
trafen. Beide wollten Polen zer-
schlagen. Der Ausbruch des Krie-
ges war nach Unterzeichnung des
Pakts eine Frage der Zeit. Es
stimmt auch nicht, den Vertrag mit
Hitler aus Moskauer Sicht als alter-
nativlos zu bezeichnen. Die UdSSR
hätte 1939 neutral bleiben können.
Bis vor Kurzem hätte kaum je-
mand gedacht, dass die Geschichte
des Hitler-Stalin-Pakts nicht nur
weiter die Gemüter erhitzt, son-
dern selbst nach Jahrzehnten noch
Neues offenbart. Vor wenigen Jah-
ren wurden die Tagebücher von Iwan Se-
row gefunden, dem ersten Vorsitzenden
des KGB. Serow war im Sommer 1939 zum
stellvertretenden Chef der Hauptdirektion
für Staatssicherheit ernannt worden. Am


  1. August erhielt er von Stalins Verteidi-
    gungsminister den Auftrag, Ribbentrops
    Flug nach Moskau abzusichern. Er sollte
    sicherstellen, dass das in Beschezk statio-
    nierte Luftabwehrregiment, das von dem
    Überflug der Deutschen keine Kenntnis
    hatte, nicht auf deren Maschinen schießt.
    Serow kam rechtzeitig in Beschezk an,
    aber aus irgendeinem Grund feuerte eine
    der Batterien tatsächlich auf die beiden
    Flugzeuge Ribbentrops. Serow eilte sofort
    nach Moskau zurück und inspizierte die
    auf dem Flughafen abgestellten deutschen
    Maschinen. Zu seiner Erleichterung fand
    er keine Einschüsse in Rumpf oder Trag-
    flächen. Der Kommandeur des Regiments
    und der Chef der Batterie, die das Feuer
    eröffnet hatte, wurden trotzdem vor ein
    Militärgericht gestellt.
    Hätte es, wäre Ribbentrop an diesem
    Tag versehentlich von den Sowjets abge-
    schossen worden, den Hitler-Stalin-Pakt
    nie gegeben?
    Bei der Antwort auf diese Frage ist sich
    Michail Mjagkow, der Direktor der Russi-
    schen Militärhistorischen Gesellschaft,
    ziemlich sicher: »Es wäre zu keinem Bruch
    zwischen Deutschland und der Sowjet -
    union gekommen. Hitler hätte einen neuen
    Außenminister geschickt. Den Pakt hätte
    es auch in diesem Fall gegeben.«


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BERTA TILMANTAITE / DER SPIEGEL
Ehemaliger litauischer Staatschef Landsbergis
»Sie lügen immer auf die gleiche Weise«

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Bündnis unter Feinden

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