Das Exit-Risiko
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(^50) WOCHENENDE 23./24./25. AUGUST 2019, NR. 162
I
m Mainzer Landesmuseum wird die Zello-
phanfolie vom Wurstsalat gezogen, und am
Bierstand fließen die ersten Bitburger aus dem
Hahn. Alles ist bereit für den parlamentari-
schen Abend der rheinland-pfälzischen Land-
wirte. Bevor sie ihre Eröffnungsrede hält, nimmt sich
Ministerpräsidentin Marie Luise „Malu“ Dreyer Zeit
für ein Interview mit dem Handelsblatt. Es sind tur-
bulente Wochen für die Sozialdemokraten. Abzule-
sen unter anderem an einem Streit darüber, wie und
wann genau Finanzminister Olaf Scholz Dreyer und
den beiden anderen kommissarischen SPD-Vorsit-
zenden Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-
Gümbel seine eigene Kandidatur für den SPD-Chef-
posten verkündet hat.
Frau Dreyer, gab es nun – wie der „Spiegel“ berich-
tet – am 12. August eine Telefonschalte zwischen
den drei kommissarischen SPD-Vorsitzenden und
Olaf Scholz? Oder gab es die nicht, wie Ihr Co-Vor-
sitzender Thomas Schäfer-Gümbel behauptet?
Zu diesem Thema ist nun wirklich alles gesagt.
Das sehen einige anders.
Thorsten Schäfer-Gümbel hat mit seiner Darstel-
lung recht. Wollen wir jetzt über politische Inhalte
reden?
Einverstanden. Sie sind jetzt seit rund elf Wochen
kommissarische SPD-Vorsitzende ...
... wirklich? Ich habe gar nicht mitgezählt.
In welchem seelischem Zustand erleben Sie die
Partei?
Die SPD braucht im Moment ganz viel Kommunika-
tion. Das kriegen wir drei Vorsitzenden, glaube ich,
ganz gut hin. Gleichzeitig glauben alle in der SPD
fest daran, dass die Partei gebraucht wird, und vie-
le wollen daran mitwirken, dass es wieder auf-
wärtsgeht.
Haben Sie in den vergangenen Wochen Lust be-
kommen, das Amt der Vorsitzenden dauerhaft
auszuüben? Sie hatten das zwar frühzeitig ausge-
schlossen, aber das hat Olaf Scholz auch. Und der
tritt jetzt doch an.
Nein, für mich war von Anfang an klar: Ich nehme
meine Verantwortung als Stellvertreterin wahr und
übernehme zusammen mit Manuela Schwesig und
Thorsten Schäfer-Gümbel den Vorsitz, bis die neue
Parteiführung gewählt ist. Ich möchte in Rheinland-
Pfalz bleiben und kann mir nicht vorstellen, hier in
Mainz Ministerpräsidentin zu sein und gleichzeitig
als Parteivorsitzende nach Berlin zu gehen.
Sie sind nicht die einzige prominente Sozialdemo-
kratin, die abgesagt hat. Außer Olaf Scholz kandi-
dieren bislang nur Köpfe aus der zweiten oder
dritten Reihe. Ist der Job als SPD-Chef mittlerwei-
le so unattraktiv?
Nein. Ich bin schon lange im politischen Geschäft
und weiß: Die Geschicke der SPD werden nicht al-
lein in Berlin bestimmt. Politik ist ein Mannschafts-
spiel und kein Soloauftritt. Wir brauchen auch eine
starke SPD in den Ländern und Kommunen, um
wieder zu alter Stärke zu kommen. Deswegen hat es
für mich etwas mit Verantwortung zu tun, wenn je-
mand sagt, mein Platz ist hier, auch wenn ich die
Aufgabe als Parteivorsitzender gerne machen wür-
de. Deswegen mache ich auch nicht die Unterschei-
dung zwischen erster, zweiter und dritter Reihe. Wir
haben bewusst einen offenen Prozess gewählt und
haben viele gute Kandidatinnen und Kandidaten,
die als Minister oder als Abgeordnete schon Verant-
wortung für die Partei übernommen haben.
Erwarten Sie denn noch weitere Kandidaten? Vie-
le im linken Teil der SPD hoffen darauf, dass Juso-
Chef Kevin Kühnert noch seinen Hut in den Ring
wirft.
Das ist immer eine persönliche Entscheidung. Dass
wir keinen Mangel an geeigneten Kandidaten ha-
ben, müssen jetzt auch die Kritiker zugestehen.
Geeignet? Naja. Bis auf Olaf Scholz sind die aller-
meisten Kandidaten und Kandidatinnen dem nor-
malen Bürger völlig unbekannt.
Ach, sie sind in Berlin vielleicht noch nicht allen
bekannt. Aber ich bin sicher, die werden jetzt
lich äußern mag. Das könne sich nach den Landtags-
wahlen in Brandenburg und Sachsen schnell ändern,
meint ein CDU-Vorderer. Warum sie die Diskussion
um Maaßen ausgerechnet jetzt lostrat, erschließe
sich niemandem. Maaßen mache Wahlkampf in Ost-
deutschland und kommt dort bei rechten Wählern
gut an.
Aus Sicht vieler in der CDU ist es zum Verzwei-
feln: Kramp-Karrenbauer führte im vergangenen
Herbst einen fast perfekten innerparteilichen Wahl-
kampf gegen die Mitbewerber Friedrich Merz und
Jens Spahn. Doch kaum war sie auf dem Hambur-
ger Parteitag zur Vorsitzenden gewählt, begann ih-
re Pannenserie. In der CDU will man sich nicht
mehr festlegen, ob sie auch Kanzlerkandidatin
wird. Die Frage sei offen, sagt ein Parteioberer. Der
Name Friedrich Merz fällt zwar nur noch selten,
auch bei seinen einstigen Unterstützern vom Wirt-
schaftsflügel. Stattdessen wird häufig auf zwei ande-
re mögliche Kanzlerkandidaten aus Nordrhein-
Westfalen verwiesen: Ministerpräsident Armin La-
schet und Gesundheitsminister Jens Spahn.
Die CDU hat für die Nach-Merkel-Zeit nicht nur
Personalfragen zu klären. Man sei auch inhaltlich
nicht auf einen Wahlkampf vorbereitet, heißt es aus
der Partei. Die Arbeit am Grundsatzprogramm läuft
noch, die an einem Wahlprogramm hat noch gar
nicht richtig begonnen. Dabei hatten Vorstandsmit-
glieder schon im Frühjahr gefordert, dass sich die
CDU auf mögliche Neuwahlen vorbereiten müsse.
Zu denen könne es angesichts des Zustands der
SPD auch sehr plötzlich kommen. Es wächst die
Sorge, dass die Parteiführung zu viel Rücksicht neh-
men könnte auf den angeschlagenen Koalitions-
partner SPD. Man müsse auch an sich selbst den-
ken, mahnt jemand aus dem Vorstand, schließlich
sei die CDU nicht in bester Verfassung.
Und so regieren zwei schwächelnde Volkspartei-
ern das Land, die vor allem die Angst vor dem Wäh-
ler aneinanderkettet. Egal, ob die GroKo noch 2019
endet oder erst 2021, die nächsten Bundestagswah-
len könnten zu einer Zäsur für das Parteienspek-
trum werden. Nach derzeitigen Umfragen hätte
Schwarz-Rot im kommenden Bundestag keine Mehr-
heit mehr. Die Grünen würden zur neuen Volkspar-
tei aufsteigen, könnten sogar stärkste Kraft werden
und Anspruch auf das Kanzleramt erheben.
Aber die Tatsache, dass Merkel nicht mehr an-
tritt, könnte auch einem SPD-Kanzlerkandidaten
Scholz ungeahnten Aufwind verschaffen. Scholz,
heißt es in seinem Umfeld, spekuliert darauf, dass
seine eigene dröge Verlässlichkeit genau das sei,
was die Wähler an Merkel so lange geschätzt hätten
und was Kandidaten wie Kramp-Karrenbauer oder
Spahn abgehe. Statt des Originals Merkel würden
die Wähler dann die Kopie Scholz wählen. Doch be-
vor es dazu kommen kann, muss der Vizekanzler
erst einmal Parteivorsitzender werden – und dafür
auf 23 Regionalkonferenzen die Herzen der Mitglie-
der erobern. Eine schwierige Mission. Heike Anger,
Martin Greive, Jan Hildebrand, Klaus Stratmann
Sonntagsfrage Sachsen Sonntagsfrage Brandenburg
Wenn am nächsten Sonntag Landtagswahl wäre ... (Ergebnis)
HANDELSBLATT • Quellen: FB Czaplicki, Forsa
28
26
16
13
8
5
3
CDU
AfD
Linke
Grüne
SPD
FDP
Freie Wähler
% % % % % % %
21
18
17
16
1
5
AfD
CDU
SPD
Grüne
Linke
FDP
BVB/Freie Wähler
% % % % % % %
Wechselspiel
Vorsitzende und Wahlergebnisse der SPD
1995-2019
Oskar
Lafontaine
11/1995 – 3/1999
1998
40,9 % Gerhard Schröder
3/1999 – 3/2004
Franz
Müntefering
3/2004 – 11/2005
Matthias
Platzeck
11/2005 – 4/2006
Kurt Beck
4/2006 – 7/2008
Frank-Walter
Steinmeier
7–10/2008
(kommissarisch)
Sigmar Gabriel
11/2009 – 3/2017
Martin Schulz
3/2017 – 2/2018
2002
38,5 %
2005
34,2 %
2009
23 %
2013
25,7 %
2017
20,5 %
Aktuelle
Sonntagsfrage
13 %
Franz
Müntefering
10/2008 – 11/2009
Olaf Scholz
2–4/2018
(kommissarisch)
Andrea Nahles
4/2018 – 6/2019
M. Dreyer,
M. Schwesig,
T. Schäfer-Gümbel
seit 6/2019
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