Das Exit-Risiko
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WOCHENENDE 23./24./25. AUGUST 2019, NR. 162^51
ganz schnell bekannt im Wettbewerb um die bes-
ten Ideen.
Fünf der Kandidatenpaare haben sich eindeutig
gegen eine Fortsetzung der Großen Koalition aus-
gesprochen. Ist der Mitgliederentscheid der SPD
zugleich eine Abstimmung über das vorzeitige En-
de der Bundesregierung?
Unsere Mitglieder konnten bestimmen, welche Fra-
gen wir den Kandidierenden auf der Tour stellen
werden. Über 36 000 Menschen haben an der Um-
frage teilgenommen, und die Frage zur GroKo lan-
dete auf Platz 21. Daran wird deutlich, wie die Prio-
risierung unserer Mitglieder ist. Es ist ein Punkt un-
ter vielen. Die Entscheidung trifft der Parteitag im
Dezember.
Wozu noch eine Bestandsaufnahme, die Diagnose
ist doch längst klar: Die SPD setzt in der Großen
Koalition viele Inhalte um, aber die Erfolge wer-
den ihr nicht zugerechnet.
Offen gestanden bin ich sehr stolz darauf, was die
SPD in der Regierung umsetzt. In der Opposition
hätten wir die Abschaffung des Solis – von der
übrigens auch 95,6 Prozent der einkommensteu-
erveranlagten Gewerbetreibenden profitieren –
nicht durchsetzen können. Das Gleiche gilt für
das Starke-Familien-Gesetz, das Weiterbildungs -
chancengesetz oder die Mietpreisbremse. Ein
Grund dafür, dass das Image viel schlechter ist als
die Bilanz, ist sicher, dass die Große Koalition ein
Jahr den permanenten Streit zwischen CDU und
CSU aushalten musste. Ich habe dafür einen
schönen Vergleich gelesen: Das ist wie bei einem
Fußballspiel, das man zwar gewonnen hat, aber
bei dem sich jeder nur noch an die Fouls erin-
nert.
Horst Seehofer holzt aus München gegen Angela
Merkel, und darunter leiden die Umfragewerte
der SPD? Das klingt seltsam.
Das Erscheinungsbild eines solchen Bündnisses
wird allen Partnern zugerechnet, das ist nun mal
so. Zum Glück arbeitet die Koalition seit einigen
Monaten deutlich konstruktiver als im ersten Jahr.
In Berlin kursiert in sozialdemokratischen Krei-
sen bereits ein sehr konkreter Exit-Plan: Die SPD
hilft noch mit, im Herbst den Haushalt 2020 zu
verabschieden, wechselt dann in die Opposition,
und die Union macht mit einer Minderheitsregie-
rung bis zu den regulären Wahlen 2021 weiter,
weil im Moment keiner der Beteiligten Neuwah-
len will. Ein realistisches Szenario?
Der Erfolg der SPD wird am Ende nicht davon ab-
hängen, ob wir in der Großen Koalition bleiben
oder nicht. Das gravierendste Ergebnis aus allen
Umfragen ist doch: Die Menschen trauen der SPD
keine Zukunftsgestaltung zu, obwohl wir sehr gute
Konzepte haben. Schauen Sie sich nur mal an, wie
viele Unternehmen inzwischen das Weiterbildungs -
chancengesetz von Hubertus Heil anwenden. Wir
müssen daran arbeiten, dass wir diese Zukunftsthe-
men besser rüberbringen.
Also alles nur ein kommunikatives Problem?
Nein, das ist es nicht allein. Wir haben in der SPD
in der Vergangenheit auch inhaltlich einiges ver-
säumt. Es war irgendwann nicht mehr klar, wo wir
stehen zum Beispiel beim Zukunftsthema sozial-
ökologische Wirtschaftspolitik.
Im Klartext: Niemand kapiert mehr, ob der SPD
nun Braunkohletagebau wichtiger ist oder Klima-
schutz.
Wir wollen das eine eben nicht gegen das andere
ausspielen. Die SPD hat es in der Koalition ge-
schafft, einen Kohlekompromiss herauszuarbeiten.
Ein wichtiger Schritt für den Klimaschutz und ein
klares Signal an die arbeitende Bevölkerung: Wir
vergessen euch beim Klimaschutz nicht.
Apropos Kompromiss: Sie arbeiten in Ihrer Am-
pelkoalition auch mit der FDP zusammen, wäh-
rend sich die beiden Parteien im Bund kaum et-
was zu sagen haben. Woran liegt diese fast schon
traditionelle sozialliberale Harmonie in Rhein-
land-Pfalz? Am guten Wein?
Ob mit oder ohne Wein, in Dreierkoalitionen
kommt es besonders darauf an, dass Menschen
miteinander können. Das ist hier in Rheinland-
Pfalz der Fall. Und inhaltlich beweisen wir hier im
Land, dass sozial, ökologisch und ökonomisch ver-
antwortliche Politik Hand in Hand geht und sehr
erfolgreich ist.
Die Ampel – ein mögliches Modell für den Bund?
Ein solches Bündnis bildet einen sehr großen An-
teil der Bevölkerung ab. Ich bedaure es tatsächlich,
dass es kein anderes Bundesland mit einer Ampel-
koalition gibt.
Haben Sie in diesen Tagen eigentlich manchmal
Mitleid mit der heftig angefeindeten CDU-Vorsit-
zenden Annegret Kramp-Karrenbauer?
Mitleid ist da die falsche Kategorie. Frau Kramp-
Karrenbauer wusste, was sie tat. Ja, Politik ist
manchmal hart und rau. In Berlin noch ein biss-
chen härter und rauer als anderswo.
Die Fragen stellte Christian Rickens.
Aufstieg Die 58-jäh-
rige Juristin trat erst
mit über 30 in die
SPD ein, war zunächst
Bürgermeisterin in
Bad Kreuznach, spä-
ter Ministerin unter
Kurt Beck (SPD) und
ist seit 2013 dessen
Nachfolger als Minis-
terpräsidentin von
Rheinland-Pfalz.
Handicap Die Katholi-
kin lebt mit ihrem
Mann, dem ehemali-
gen SPD-Politiker
Klaus Jensen, in
einem inklusiven
Wohnprojekt in Trier.
Dreyer ist seit Lan-
gem an Multipler
Sklerose erkrankt.
Malu Dreyer
Ich bedauere
tatsächlich,
dass es kein
anderes
Bundesland
mit einer
Ampel -
koalition gibt.
Dirk von Nayhauß / Agentur Focus
„Jeder erinnert
sich an die Fouls“
Die kommissarische SPD-Chefin über die Zukunft der
Bundesregierung, die schwierige Suche nach einer neuen
Parteiführung und die Vorteile einer Ampelkoalition.
Malu Dreyer
SPD
Noch stark vertreten
In welchen Bundesländern die SPD derzeit
(mit)regiert und in welcher Koalition
Berlin
Brandenburg
Bremen
Hamburg
Mecklenburg-Vorp.
Niedersachsen
Rheinland-Pfalz
Saarland
Sachsen
Sachsen-Anhalt
Thüringen
Land
SPD stellt
Regierungschef
Regierungs-
koalition
HANDELSBLATT Quelle: Bundeswahlleiter
CDU Grüne FDP Linke
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