Handelsblatt - 27.08.2019

(lily) #1

Votum


Jobst-Hubertus Bauer
ist Rechtsanwalt bei
Gleiss Lutz in Stuttgart.

Was heißt


schon fair?


I


n einer kürzlichen Ent-
scheidung hat das Bundes-
arbeitsgericht entschie-
den, dass bei einvernehmlicher
Beendigung des Arbeitsverhält-
nisses ein Aufhebungsvertrag
nicht allein deshalb widerrufen
werden kann, wenn er außer-
halb der Geschäftsräume des
Arbeitgebers, zum Beispiel in
der Wohnung des Arbeitneh-
mers, in einem Hotel oder den
Räumen eines Anwalts abge-
schlossen worden ist (Az. 6
AZR 75/18). Bei solchen Verträ-
gen handelt es sich nicht um
Haustürgeschäfte, für die das
zweiwöchige „Haustürwider-
rufsrecht“ gilt. Aus dem Zweck
der entsprechenden Regelun-
gen ergibt sich, dass nur Ver-
braucherverträge erfasst wer-
den sollen, in denen Unterneh-
men Leistungen gegen Entgelt
des Verbrauchers erbringen.
So überzeugend die Argu-
mentation zur Ablehnung ei-
nes generellen Widerrufsrechts
bei Aufhebungsverträgen ist,
so wenig vermag die weitere
Argumentation zu überzeugen,
ein Aufhebungsvertrag könne
unwirksam sein, falls er unter
Missachtung des „Gebots fai-
ren Verhandelns“ zustande ge-
kommen sei. Das könne der
Fall sein, wenn eine psy-
chische Drucksituation ge-
schaffen werde, eine körperli-
che beziehungsweise geistige
Schwäche, unzureichende
Sprachkenntnisse oder ein
Überraschungsmoment ausge-
nutzt würden.
Beim Abschluss eines Aufhe-
bungsvertrags im Betrieb kann
jedenfalls von der Ausnutzung
eines Überraschungsmoments
kaum gesprochen werden.
Hier findet das Rechtsgeschäft
nicht an einem atypischen Ort
statt; es fehlt also am situati-
onsbedingten Überraschungs-
moment. Alles in allem bleibt
es allerdings dabei, dass ein zu-
sätzlicher, überflüssiger Kon-
trollmaßstab eingeführt wor-
den ist, der aufgrund seiner
Konturlosigkeit zu erheblicher
Rechtsunsicherheit führen
wird. Zudem enthält die Ent-
scheidung leider keine Aussage
zu der Frage, innerhalb wel-
cher Frist ein Arbeitnehmer
sein (vermeintliches) „Reue -
recht“ ausüben kann. Meines
Erachtens muss dies unverzüg-
lich geschehen.

An dieser Stelle kommentieren
Rechtsexperten jeden
Dienstag wichtige Justiztrends.
Gleiss Lutz

Steuerthema der Woche


Umsatzsteuer auf Prepaid-Restguthaben


D


er Bundesfinanzhof (BFH)
hat in einer aktuellen Ent-
scheidung klargestellt, dass
Restguthaben aus Prepaid-Verträgen,
die einem Provider endgültig verblei-
ben, als nachträgliches Entgelt für die
vom Provider dem Kunden zur Verfü-
gung gestellte Infrastruktur der Um-
satzsteuer unterliegen (Az. XI R 4/16).
Ein Provider erbrachte Telekommu-
nikationsdienstleistungen auf der
Grundlage von Prepaid-Verträgen. Das
Prepaid-Guthaben konnte für Leistun-
gen des Providers wie etwa mobiles

Internet oder für Leistungen von
Drittanbietern zum Beispiel Klingeltö-
ne eingesetzt werden. Als der Dienst-
leister die Verträge kündigte, konnten
sich die Prepaid-Kunden das Gutha-
ben erstatten oder auf eine neue SIM-
Karte umbuchen lassen. Erfolgte we-
der eine Erstattung noch eine Umbu-
chung, buchte der Provider das
Guthaben in seiner Handels- und
Steuerbilanz erfolgswirksam aus, un-
terwarf es aber nicht der Umsatzsteu-
er. Das Finanzamt beurteilte das Gut-
haben als Überzahlung und forderte

die Umsatzsteuer nach. Auch der BFH
hat entschieden, dass bei Prepaid-Ver-
trägen aus endgültig nicht zurückge-
forderten Restguthaben Umsatzsteuer
abzuführen ist. Es handele sich bei
dem verfallenen Restguthaben um ein
nachträgliches Entgelt für die Nut-
zung der von der Klägerin zunächst
unbepreist zur Verfügung gestellten
Infrastruktur, also die Plattformleis-
tung. Dies führe zu einer nachträgli-
chen Erhöhung der Bemessungs-
grundlage, denn maßgeblich sei die
tatsächlich erhaltene Gegenleistung.

Heike Anger Berlin


M


it ihren Plänen, hö-
here Strafen für kri-
minelle Unterneh-
men zu schaffen,
hat Bundesjustizmi-
nisterin Christine Lambrecht (SPD)
die Wirtschaft aufgeschreckt. Für
Aufregung sorgt auch ein Passus des
Gesetzentwurfs, nach dem bei beson-
ders schweren Fällen die Auflösung
einer Firma möglich ist. Schon macht
der Spruch die Runde, Unterneh-
men, aus denen heraus Straftaten be-
gangen werden, müssten künftig mit
der „Todesstrafe“ rechnen.
Der Bundesverband der Deutschen
Industrie (BDI) warnt vor einem Ein-
griff in das Grundrecht auf Eigentum.
„Auch das Grundrecht auf unterneh-
merische Freiheit wäre tatsächlich
gefährdet“, warnt BDI-Chefjustiziar
Niels Lau. Zudem hätte die Auflösung
eines Unternehmens „Kollektivstraf-
charakter“, denn sie träfe nicht nur
die Leitungsebene, sondern Aktionä-

re, Beschäftigte oder Zulieferer. „Die
Regelung zur Betriebsauflösung soll
präventiven Zwecken dienen, also
weitere Verstöße in Zukunft verhin-
dern“, erklärt Michael Kubiciel, der
an der Universität Augsburg eine For-
schungsstelle zum Unternehmens-
strafrecht leitet. Er warnt: Der politi-
sche Prozess der Gesetzgebung kön-
ne von der eher symbolisch als
praktisch relevanten Diskussion um
eine „Todesstrafe“ für Unternehmen
belastet werden. Wichtigere Fragen –
etwa die Regelungen für unterneh-
mensinterne Untersuchungen – rück-
ten so in den Hintergrund.
Das geplante „Gesetz zur Bekämp-
fung der Unternehmenskriminalität“
sieht vor allem für große Firmen bei
gravierenden Vergehen Bußgelder
von bis zu zehn Prozent des Umsat-
zes vor. Daneben gibt es als mögliche
Sanktion jedoch auch die „Verbands-
auflösung“, wie es im Referentenent-
wurf aus Lambrechts Ministerium

heißt – wenn auch als „Ultima Ratio“.
Voraussetzung dafür sei, dass ein
besonders schwerer Fall vorliege,
von Leitungspersonen „beharrlich
erhebliche Verbandsstraftaten began-
gen worden“ seien und eine „Ge-
samtwürdigung“ die Gefahr erken-
nen lasse, dass weiter erhebliche
Straftaten aus dem Unternehmen he-
raus begangen werden.
Als Verfehlungen legt der Entwurf
nicht bestimmte „Deliktsgruppen“
wie Vermögens- oder Steuerdelikte
fest. In Betracht kommen etwa auch
mit Strafe bedrohte Menschenrechts-
verletzungen etwa „zum Zweck der
Ausbeutung der Arbeitskraft“, Um-
weltdelikte oder Straftaten gegen den
Wettbewerb.
Eine ähnliche Debatte über Be-
triebsauflösungen hatte vor rund
zehn Jahren schon einmal der dama-
lige Bundeswirtschaftsminister Rai-
ner Brüderle (FDP) ausgelöst. Er woll-
te seinerzeit mit Blick auf das Kartell-
recht die Möglichkeit einer
Zerschlagung von Großkonzernen er-
reichen, konnte sich damit aber letzt-
lich nicht durchsetzen.
Ob Justizministerin Lambrecht mit
ihrer Variante erfolgreich sein wird,
ist fraglich. Zwar hatten CDU, CSU
und SPD schon im Koalitionsvertrag
neue Unternehmenssanktionen ver-
einbart. Doch Lambrechts Vorstoß
der Betriebsauflösungen sorgte in
der Union nun für harsche Kritik.
Für Rechtsexperte Kubiciel gibt es
gute Gründe, die gegen eine Auflö-
sung von Firmen sprechen – selbst
als Ultima Ratio. Wie der BDI ver-
weist er auf die mittelbare Betroffen-
heit von Grundrechten Unschuldiger.
Zudem biete das geltende Wirt-
schafts- und Gewerberecht schon
jetzt eine Vielzahl von Möglichkeiten,
eine Gewerbegenehmigung zu ent-
ziehen oder die Ausübung eines Ge-
werbes zu untersagen.
„Auch wenn die Auflösung die
krasse Ausnahme bleiben wird, kann
die Regelung von Staatsanwaltschaf-
ten doch als Drohkulisse verwendet
werden“, sagt Kubiciel. Zumal im ak-
tuellen Entwurf offenbleibe, über
welchen Zeitraum wie viele Verstöße
begangen worden sein müssen, da-
mit Staatsanwaltschaften über die Be-
antragung einer Auflösung nachden-
ken dürfen.

Neue Sanktionen


„Todesstrafe“ für Firmen


Bei besonderer Gefährlichkeit sollen Unternehmen aufgelöst werden können.


Eva Kunze ist
verantwortliche
Redakteurin für
Steuerrecht.
http://www.der-betrieb.de

Das Grund -


recht aufunter -


nehmerische


Freiheit wäre


tatsächlich


gefährdet.


Niels Lau
Bundesverband der
Deutschen Industrie

Christine
Lambrecht:
Die Bundesjus-
tizministerin
will Unter -
nehmens -
kriminalität
stärker
bekämpfen.

Florian Gaertner/imago images/photothek


Recht & Steuern
DIENSTAG, 27. AUGUST 2019, NR. 164

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