Der Standard - 24.08.2019

(lily) #1

18 |SA./SO.,24./25.AUGUST2019DLeben ERSTANDARDWOCHENENDE


das Auto überhaupt nur herum. Ich fahre
damit nicht zum Einkaufen. Ich habe ein
Fahrrad mit einem großen Korb hinten auf
dem Gepäckträger, ich kaufe alles, was ich
brauche, mit dem Fahrrad ein, meistens
auch die Sachen, die ich auf dem Land
brauche: Ich radle zum Markt, kaufe dort
Gemüse und, jetzt nicht mehr so oft, Fleisch
beim Fleischhauer, radle damit zu meinem
Auto, packe die Sachen in den Kofferraum
und fahre sie aufs Land, wo es in meiner
Umgebung auch keinen einzigen Laden
mehr gibt, das nächste Geschäft ist sieben
Kilometer entfernt. Manchmal mache ich
auf dem Weg einen Abstecher zu einem
Supermarkt, einem Baumarkt oder in den
regionalen Bauernladen.
Ich tue jetzt einmal das, wozu Expertin-
nen immer wieder auffordern: nicht den
einzelnen Konsumenten verantwortlich zu
machen, sondern die große Politik, und in
diesem Fall ist das korrekt. Ich fuhr kürz-
lich in der Schweiz herum, da braucht man
fast nie ein Auto, man kommt in jedes
kleinste Kaff öffentlich, zügig und pünkt-
lich. In Österreich braucht man eins, wenn
man auf dem Land wohnt, fast überall.

S


eit 1970 hat die Bevölkerung
Österreichs um 1,4 Millionen
Menschen zugenommen. Die
Zahl der zugelassenen Pkws
wuchs in der gleichen Zeit um rund
3,8 Millionen: Insgesamt gibt es der-
zeit fast fünf MillionenPkws in Öster-
reich. 23.709 Menschen wurden 2018
bei Unfällen mit Pkws verletzt, 181 in
Pkws getötet. 409 Menschen kamen
insgesamtimVerkehrumsLeben,die
Statistik Austria zählt dabei u. a.
auch Fußgängerinnen (47) und Rad-
fahrer (41), es ist allerdings dabei
nicht ausgewiesen, an wie vielen
dieser Todesfälle Pkws beteiligt wa-
ren. Jeder dritte Neuwagen in Öster-
reich ist ein SUV; ein Fahrzeug, das
Fußgänger und vor allem Kinder
durchseineGrößeundseinGewicht
überdurchschnittlich gefährdet
und wesentlich mehr CO 2 emittiert.
Autos brauchen allein in Wien
mehr als zwölf Millionen Quadrat-
meter Platz. Österreichs Straßen-
verkehr sorgt für die dritthöchsten
CO 2 -Emissionen der EU.

Car-Shame
Ich kann so viele Argumente
gegen das Auto aufzählen, so wü-
tend überSUVsschimpfen, sovie-
le Einwände gegen den Autover-
kehr und Autofahrer vorbringen
und gegen eine Verkehrsplanung,
die Autos immer und immer und
immer in den Mittelpunkt stellt,
dass ich manchmal vergesse,
dass ich selbst ein Auto besitze.
Ich bin eine Radfahrerin, ganz-
jährig, in letzter Zeit eine zuse-
hends politisch-missionarische,
eine polymobile mit einer Wie-
ner-Linien-Jahresnetzkarte, die
das Auto meist nur dann be-
nutzt, wenn es gar nicht anders
geht. Und es geht oft gar nicht
anders, wenn man neben der
Stadtwohnung unbedingt auch
noch eine Hütte auf dem Land
braucht. Ja, Luxusproblem für mich, aber
existenziell für alle, die zum Arbeiten vom
Umland nach Wien hereinpendeln. Und da
findet ja gerade auch eine Debatte statt, zu
der nicht zuletzt Sibylle Hamann, jetzt bei
den Grünen, auf Twitter feststellte, es wer-
deimmersogetan,als„seiesschicksal,dass
es in vielen regionen keine öffis gibt! Das
hat ja jemand zu verantworten! Und das
kann man ändern!“
Ja,daswäreschön.Solangesichdasnicht
ändert, brauche ich ein Auto, denn ich
nebenwohnsitze in einer mit öffentlichen
Verkehrsmitteln sehr schlecht erschlosse-
nen Gegend. Der nächste Bahnhof ist fast
20 Kilometer entfernt, es fährt kein Bus in
den Ort. Mein Auto verstellt in der Stadt
etwa acht Quadratmeter Platz, ich habe des-
wegen ein schlechtes Gewissen. Car-Sha-
me, existiert der Begriff schon? Existiert,
ich habe nachgesehen, und ich habe Car-
Shame, weil mein Auto Platz verstellt, auf
dem man zehn Fahrräder parken könnte,
auf dem drei Schanigartentische stehen
könnten, oder eine Parkbank oder ein
Baum. Oder es könnte dort ein ordentlicher
Fahrradstreifen sein, nicht so ein schmales
Muss-halt-sein-Streiferl, das Radlerinnen
auf der einen Seite direkt an parkende
Autos drängt, deren Türen unmittelbar vor
ihnen jederzeit aufgehen können, und auf
der anderen Seite an stets zu knapp vorbei-
fahrende Autos: Weil die österreichische
Straßenverkehrsordnung trotz all der von
Autos getöteten Radfahrerinnen noch im-
mer keinen Mindestabstand vorschreibt.
Wie erwähnt, ich gehe jederzeit in Se-
kunden von null auf hundert wegen der

selbstverständlichen Ungerechtigkeit, mit
der im Wien den klima- und gesundheits-
schädigenden, raumfressenden, gefähr-
lichen Pkws immer noch Vorrang einge-
räumt wird vor der umweltfreundlichen,
geräusch- und abgasfreien, platzsparen-
den und gesundheitsfördernden Fortbe-
wegung mit dem Rad. Man geht in Wien
sogar so weit, dass man täglich zulässt,
dass Radfahrerinnen von der Polizei im
Rahmen von Fahrradplanquadraten schi-
kaniert werden, unter anderem ist es an
derTagesordnung,dassRadfahrerumacht
Uhr früh auf dem Weg zur Arbeit für
Alkoholtests angehalten werden.

Die Schuldfrage
Mir soll mal jemand genau erklären, wa-
rum–wenn nicht ausschließlich zu dem
Zweck, den Wienerinnen das Alltagsra-
deln zu vergällen und dem wachsenden
Radverkehrsanteil auf diese Weise zu be-
gegnen. Quasi das Gegenteil von Copen-
hagenizing: Man verfällt als Radfahrerin
in Wien in hemmungsloses Schluchzen,
wenn man das einmal googelt. Im Winter,
wenn ich nicht so oft aufs Land fahre, steht

Haftpflicht- und Unfallversiche-
rung. Seine Freundin Joana ist
Grafikdesignerin. Acht Jahre lang
teilten sich die beiden verschie-
dene WG-Zimmer, mittlerweile
wohnen sie auf knapp 45 Quadrat-
metern in Hannover. Und das ist
vielleicht ein gutes Beispiel, an
dem man sehen kann, wie der
Frugalismus bei Noelting funktio-
niert: Andere Menschen würden
sich gemeinsam mehr Platz leis-
ten, wenn sie das Geld dafür hät-
ten. Oliver und Joana nicht. Sie
zahlen dafür eben nur 288 Euro
pro Person, alles inklusive.
Das ist auch das Bild, das sich
durchzieht, wenn man die ande-
ren Ausgaben auf Noeltings Web-
site durchgeht. Das Paar verzich-
tet auf wenig komplett, aber sonst
passiert in ihrem Leben eben alles
günstig oder selten. 51 Euro im
Monat für „Partys, Kneipe, Disco“,
13 Euro für „Eintrittsgelder,Kino“,
104 Euro für „Lebensmitteleinkäu-
fe“, 22 Euro für „Elektrogeräte“.
Anschaffungen werden über Ebay
erledigt. DieserLebensstil ist nicht
unmöglich, aber man muss es
schon wirklich wollen.
Diese Zahlenspielereien zeigen:
Frugalismus ist nichts für Men-
schen,dieetwasgegenkonsequen-
te Planungen haben. Das heißt
nicht, dass sich nichts verändern
darf: Oliver und Joana haben mitt-
lerweile eine Tochter. Für den
Plan ist das kein Problem, die
zusätzlichen Kosten sind einkal-
kuliert. Wer schon vor einem Baby
genügsam gelebt habe, den werfe
auch ein Baby nicht aus der Bahn.
Außerdem habe er mehr Zeit für
sein Kind, weil er nicht müde aus
dem Büro komme, um den SUV zu
finanzieren, sagt Noelting.


Einfach, aber nicht unerfüllt


Trotzdem ist es eine Tatsache,
dass Frugalismus vor allem dann
funktioniert, wenn man im Leben
von den ganz großen Schicksals-
schlägen verschont bleibt.


Frugalisten stoßen gelegentlich
auf Ablehnung, weil andere Men-
schen ihre Genügsamkeit als mo-
ralische Attacke auf ihren eigenen
Lebensstil empfinden können.
Noelting hat so etwas bisher nur
im Netz erfahren, im persönlichen
Umgang würden die Leute eigent-
licheherneutralbispositivreagie-
ren. Er sei aber auch niemand,
der jeden Cent dreimal umdrehe.
Wenn er etwas wirklich haben
wolle, kaufe er es. Und tatsächlich
wirkt Noeltings transparentes Le-
ben einfach, aber nicht unerfüllt.
Er hat eine Freundin, Familie, ein
Dach über dem Kopf und war im
Sommer segeln auf der Ostsee.
Jeder Plan hat ein Ziel, auf das
man hinarbeitet. Das ist bei den
Frugalisten nicht anders. Wie
wird Noeltings Leben ausschau-
en, wenn er 40 plus ist? Was wird
sich für ihn ändern, wenn alles
aufgeht, wie er sich das vorgestellt
hat? „Ich glaube gar nicht so viel.
Ich werde dann sicher kein Ange-
stellter mehr sein“, sagt er. „Aber
ich habe viele Hobbys, Familie
und Projekte, für die ich dann hof-
fentlich noch mehr Zeit haben
werde.“


iFortsetzung von Seite 17


Hobbys müssen nicht teuer sein,
ein Skateboard reicht auch.
Foto: Oliver Noelting

JedesWochenende beschreibtdie AutorinDoris KnechtihreBemühungen,
nachhaltiger und entspannter zu leben. Diesmal: wie derVersuch, ganz auf einAuto
zuverzichten,vonderPolitik zum Scheiternverurteilt wird.

DORIS KNECHTist Schrift-
stellerin und Kolumnistin
in Wien. Im Frühjahr 2019
erschienihr Roman „weg“.
Foto: Rosa Knecht

Foto: Frank Robert

Autofrei bleibt


eine Utopie


WIEICHVERSUCHE,EIN


ZU WERDEN...
(... UND IMMER WIEDERDABEI SCHEITERE)

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