Der Standard - 24.08.2019

(lily) #1

20 |SA./SO.,24./25.AUGUST2019DLeben/Wissenschaft/Gesundheit ERSTANDARDWOCHENENDE


Wasman über Cholesterinsenker wissen sollte


Statine sind sichereMedikamente,werden aber zu häufigverschrieben,sagenKardiologen


Maria Kapeller

Über die Risiken von Cholesterin-
senkern streiten Forscher seit Jah-
ren, die Debatte wurde zuletzt
auch über die renommierten
Fachmagazine The Lancet und
British Medical Journalausgetra-
gen. Zurück bleiben verunsicher-
te Patienten. „Die Diskussion über
Sinnhaftigkeit und Nebenwirkun-
gen von Cholesterinsenkern ist
durch ständige Fehlinformatio-
nen verseucht. Das betrifft beide
Seiten: die ‚Lipid-Lobbyisten‘ und
jene, die von der sogenannten
Cholesterinlüge sprechen“, sagt
der Salzburger Internist und Kar-
diologe Jochen Schuler.


Muskelschwäche, Krämpfe


In diesemZusammenhangfällt
auch immerwiederder Name des
MedikamentsLipobay. Nach ver-
mehrten Todesfällen nahm der
ArzneimittelherstellerBayerdas
MittelimAugust 2001 vom
Markt.Die Muskelnmancher Pa-
tientenhattensichregelrechtauf-
gelöst, weltweit wurden über
hundert Todesfälle mitLipobay
in Verbindung gebracht. „Eskam
etwa beidrei von einerMillion
Verschreibungenzuschweren
Schädigungen derSkelettmusku-
latur“,ergänzt Markus Zeitlinger
von der Med-UniWien. Beiallen
derzeitauf dem Markterhältli-
chen Statinen sei diese schwere
Nebenwirkungviel seltener,
„mehr als um denFaktor zehn“.
Wer Statine einnimmt, sollte
jedenfalls beobachten, ob Muskel-
schmerzen auftreten. Ist das der


Fall, lässt sich der gefühlte
Schmerz durch Messung des En-
zyms Creatin-Kinase (CK) im La-
bor überprüfen. Mehr CK-Aktivi-
tät im Blut kann ein Hinweis auf
geschädigte Muskelzellen sein.
Zeitlinger bewertetStatine
grundsätzlich alseine „sehr
potenteSubstanzgruppe“. In ers-
ter Linie handleessich bei den
möglichenNebenwirkungen um
Muskelbeschwerden,etwa leich-
te Muskelschwäche oderMuskel-
krämpfe.„Diese Nebenwirkun-
gentreten bei bis zu zwei Prozent

der Patienten auf,die Statineein-
nehmen“, erklärtder Internist.
Auch Schuler bestätigt: „DieCho-
lesterinsenkersindsehr sichere
Medikamente, vor allem im Ver-
hältnis zu der großenAnzahl von
Menschen,die sie einnehmen.
Manmussklarsagen, dass es sich
um keine Hochrisikomedikamen-
te handelt.“
Nebenwirkungen können auch
durch den sogenannten Nocebo-
Effekt hervorgerufen werden, der
laut Schuler besonders bei Stati-
nen sehr ausgeprägt sei. Das heißt:

Wer im Vorhinein über mögliche
Nebenwirkungen Bescheid weiß,
entwickelt diese auch eher. „Men-
schen beziehen das Nebenwir-
kungsprofil eines Medikaments in
das Behandlungssetting mit ein.
Sie haben selbst oder von anderen
gelernt, dass es dieses Problem
gibt und reproduzieren es“, sagt
Schuler.
Neben Muskelbeschwerden
werden Statine auch immer wie-
der mit Diabetes mellitus in Ver-
bindung gebracht. „Dazu gibt es
große retrospektive Studien. Pro

fünf durch die Einnahme von Sta-
tinen verhinderte Herzinfarkte
muss man einen Fall von Diabetes
mellitus in Kauf nehmen“, sagt
Zeitlinger.Schulersiehtdasetwas
anders:Esgebe zwarmehrereHin-
weise, dass Cholesterinsenker auf
lange Sicht das Risiko für Diabe-
tes erhöhen, die Beweislage sei al-
lerdings dünn.

Wechselwirkungen beachten
Auch Wechselwirkungen mit
anderen Medikamenten zählen zu
den potenziellen Gesundheitsrisi-
ken. „Statine können Arzneimit-
telinteraktionen verursachen, in
erster Linie über die Leber“, er-
klärt Zeitlinger. Schuler relati-
viert: „Insgesamt wird das Interak-
tionsrisiko bei den Statinen aber
eher überschätzt. Vor allem bei
Simvastatin kann es zu Wechsel-
wirkungen kommen, bei den an-
deren Wirkstoffen weniger.“
Beispiele für interagierende
Medikamente sind etwa der
schmerzstillende Wirkstoff Diclo-
fenac, Azole gegen Pilzinfektio-
nen und Antibiotika wie Makroli-
de. Auf Zitrusfrüchte wie Grape-
fruit sollten Betroffene ebenfalls
verzichten. Sie hemmen das En-
zymsystem, dadurch wird das Me-
dikamentlangsamerimKörperab-
gebaut. Das führt dazu, dass sich
die Blutfettsenker ungewollt an-
häufen. Ein größeres Problem sei
Schuler zufolge, dass Statine oft
ausschließlich wegen erhöhter
Cholesterinwerte verschrieben
werden. „Wer sich primär daran
orientiert, medikalisiert und be-
handelt viele Menschen unnötig.“

Cholesterin ist ein
wichtiger Bestand-
teil der Zellwände
und dient als
Baustein bei der
Herstellung von
Hormonen.
Befindet sich zu
viel davon im Blut,
drohen Arterio-
sklerose, Herz-
infarkt und
Foto: Getty Images Schlaganfall.

Die fatalen Folgen


eines globalen Atomkriegs


Das Ende des Mittelstreckenvertrags erinnert daran, dassweltweit rund
15.000 Atomwaffen einsatzbereit sind. Eine neue Studie zeigt,
waspassieren würde, sollten die Bomben tatsächlich detonieren.

Klaus Taschwer

kriegs beschränken. (Würden et-
was mehr als die Hälfte der Atom-
bomben in Großstädten detonie-
ren, dürften allein dadurch rund
drei Milliarden Menschen sofort
getötet werden.)
Laut den Simulationen von
Coupe und seinen Kollegen, die
im Wesentlichen die älteren Mo-
dellrechnungen bestätigen, wür-
den die nuklearen Detonationen
etwa 147 Millionen Tonnen Ruß
in die Atmosphäre blasen–und
zwar so hoch, dass sie sich in der
Stratosphäre verteilen und die
Sonne verdunkeln würden.

Langer nuklearer Winter
Wie die Forscher in der jüngs-
ten Ausgabe des FachblattsJour-
nal of Geophysical Research: At-
mospheresschreiben, würden die
globalen Temperaturen im ersten
Jahr nach der Katastrophe um sie-
ben Grad Celsius sinken, um dann
in der permanenten Dunkelheit
um weitere neun Grad zu fallen.
Zusätzlich würde eine Reduktion
der Niederschläge die Produktion
von Lebensmitteln nachhaltig er-
schweren. Erst nach rund sieben
JahrenwürdesichderRußundda-
mit auch der nukleare Winter wie-
der einigermaßen verziehen.
Das Resümee der Autoren möge
man bitte auch den beiden ein-
gangs erwähnten Präsidenten zur
Kenntnis bringen: Ein nuklearer
Angriff und die daraus resultie-
rende Umweltkatastrophe wäre in
jedem Fall auch für jenes Land
selbstmörderisch, das ihn startet.

E


sist schon wieder einige
Zeit her, dass man Gedan-
ken an einen Atomkrieg
recht gut verdrängen konnte.
Doch das Ende des Washingtoner
Vertrags über nukleare Mittelstre-
ckensysteme Anfang dieses Mo-
nats und die jüngsten Tests so-
wohl auf russischer wie auch auf
US-amerikanischer Seite rufen in
Erinnerung, dass auf der Welt
rund 15.000 Nuklearsprengköpfe
gelagert sind–und jeweils rund
7000 davon vom russischen und
vom US-amerikanischen Präsi-
denten aktiviert werden können.
ZurBeruhigungträgtauchnicht
gerade bei, dass Donald Trump
denEinsatzvonAtomwaffennicht
grundsätzlich ausschließt und
dass mit Indien und Pakistan zwei
Atommächte in einer potenziell
explosiven Auseinandersetzung
um Kaschmir stehen.


Wir halten bei zwei vor zwölf


Auch aus diesen Gründen steht
die Weltuntergangsuhr der Zeit-
schriftBulletin of the Atomic Scien-
tistsaktuell auf zwei vor zwölf. Da-
mit ist der Wert eingestellt, der
zwischen 1953 und 1960 herrsch-
te, als die damaligen Supermäch-
te recht intensiv Atom- und Was-
serstoffbomben testeten und der
Kalte Krieg tatsächlich heiß zu
werden drohte.
Was aber passiert, wenn die
Atomwaffenarsenale tatsächlich
zum Einsatz kommen sollten? Da-
mit haben sich aus wissenschaft-
licher Sicht in erster Linie Atmo-


sphärenforscher beschäftigt. Eine
der ersten Arbeiten stammt vom
späteren Nobelpreisträger Paul J.
Crutzen, dem Mitentdecker des
Ozonlochs und dem Erfinder des
Begriffs Anthropozän.
Erkam1982miteinemKollegen
zum Schluss, dass es nach einem
atomaren Schlagabtausch zu
enormen Bränden und in der Fol-
ge einer fatalen Freisetzung von
Stickoxiden und Sauerstoffradi-
kalen kommen würde. Das wie-
derum würde zu einer mehrjähri-
gen Abkühlung der Erde und zu
einem Zusammenbruch der Nah-
rungsmittelproduktion auf der
nördlichen Hemisphäre führen.
Ein Jahr später legte der Klima-
forscher Richard Turco mit Kolle-
gen im Fachblatt Science eine
bahnbrechende Modellrechnung
vor, die auch begriffsbildend wur-
de: Turco und seine Kollegen
prägten damals die Bezeichnung
„nuklearer Winter“ für eine radi-
kale Abkühlung der Erde auf Tem-
peraturen von minus 15 bis minus
25 Grad Celsius.
Diese sogenannte TTAPS-Stu-
die wurden in den Modellrech-
nungen seither immer wieder
leicht modifiziert, aber weitge-
hend bestätigt–soetwa auch in
einem Bericht des Goddard-Insti-
tuts für Weltraumforschung der
Nasa im Jahr 2007.
Die neueste Modellrechnung
stammt von einer Gruppe um Jo-
shua Coupe (Rutgers University),
die sich ebenfalls ganz auf die Kli-
mafolgen aufgrund eines Atom-

Atombombentest im Bikini-Atoll im Jahr 1954. 65 Jahre später gibt es
auf der Erde genug Atomwaffen, um den Planeten in einen
jahrelangen nuklearen Winter zu versetzen.

Foto: United States Department of Energy
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