Süddeutsche Zeitung - 24.08.2019

(National Geographic (Little) Kids) #1
hatten ein langes Horn, das wahrschein-
lichdazu diente, die Beute festzunageln.
Sie waren die Tyrannosaurier der Ameisen-
welt. Bizarr waren auch frühe Phasen der
Spinnenevolution. Da gab es etwa Arten
mit spinnenartigen Körpern, die von lan-
gen, skorpionartigen Schwänzen gezogen
wurden, aber auch schon über Seiden-
spinnorgane verfügten.
Auf den ersten Blick ohne Glanz, aber
von größter Bedeutung waren kleine, mit
Pollen bedeckte Käfer. Sie zeugen von ei-
nem dramatischen Wandel in der Geschich-
te des Lebens, dem Auftauchen der Blüten-
pflanzen, deren Pollen hauptsächlich von
Insekten verbreitet werden. Andere bern-
steinfarbene Exemplare aus demselben
uralten Wald weisen Pollen einer älteren
Baumgruppe auf, die Gymnospermen –
Nadelbäume und Ginkgos –, die heute
größtenteils vom Wind bestäubt werden.
Aber einige der Pollen auf den Käfern se-
hen zu groß aus, um vom Wind verweht zu
werden. Der Bernstein scheint den Mo-
ment eingefangen zu haben, in
dem viele Insektengruppen ih-
re Fütterung von Gymnosper-
men auf Blütenpflanzen um-
stellten und diejahrmillionen-
lange Koevolution auslösten, die
heute zu der außergewöhnli-
chen Vielfalt der Blumen und ih-
rer Bestäuber führte.
Mit dem Studium dieser Pro-
zesse wollen Forscher verste-
hen, warum Insekten gedeihen
oder scheitern, eine wichtige
Frage in einer Zeit, in der Klima-
wandel ein Massensterben von
Insekten auslösen könnte, sagt
der Paläo-Entomologe Michael
Engel von der Universität von
Kansas in Lawrence. „Myanma-
rischer Bernstein passt perfekt
zu diesem großen, tragischen
Experiment, das derzeit auf der
Welt stattfindet“, sagt Engel.
Nachdem Xing Lida in Teng-
chong die Stände im Freien durchgesehen
hat, geht er von Geschäft zu Geschäft, setzt
sich an einen eleganten Teetisch nach dem
anderen, um mit den Besitzern zu plau-
dern. Unter den Glastheken der Juwelierge-
schäfte werden Farne, Blumen, Skorpione,
furchterregende Spinnen und ein winziger
Tannenzapfen ausgestellt. Ein Geschäft
bietet sogar ein Vogelbaby an, dessen zar-
ter Flügel – mit der verräterischen Klaue –
deutlich zu erkennen ist. Aber der Händler
verlangt 145 000 Dollar. Ein bisschen viel.
Am Ende des Tages trägt ein Student Xings

einen gepolsterten Rucksack, gefüllt mit
wirbellosen Tiere in Plastikhüllen sowie
den beiden Echsen. Als Nächstes fliegt
Xing in die nahe Großstadt Kunming, um
sich mit Xiao Jia zu treffen, einem wohlha-
benden Privatsammler und Online-Händ-
ler, der ihm die erste Bernsteinschlange
zur Untersuchung geliehen hatte. Nach-
dem Xiaos Fahrer Xing vom Flughafen
abgeholt hat, summt sein Telefon: Ein
Händler in Myitkyina möchte das Fragment
eines Bienenstocks in Bernstein verkaufen.
Xing bespricht sich mit Xiao. Wenn kei-
ner der beiden zugreift, könnte ein konkur-
rierender Sammler zugreifen, etwa Xia
Fangyuan aus Shanghai – Sammler, Händ-
ler und begeisterter Koautor von etwa ei-
nem Dutzend hochkarätiger wissenschaft-
licher Papers. Xia sagt, er gebe jährlich
rund 750 000 US-Dollar für myanmari-
schen Bernstein aus. Wissenschaftler
haben nach ihm Kakerlaken-, Angler-, Pa-
rasiten- und Köcherfliegenarten benannt.
Zu seiner Sammlung, die in einem Banktre-
sor aufbewahrt wird, gehören ein Vogel,
Eidechsen und ein Frosch. Sein Lieblings-
exemplar ist ein perfekt erhaltenes Insekt:
eine Gottesanbeterin, die er für 22 000 US-
Dollar gekauft hat und die so aussieht, als
könnte ihr jeden Moment der Kopf abbre-
chen.
Zu Xias Sammlung gehört auch eine ku-
riose Muschel, die von einem Händler als
Schnecke verkauft wurde. In einem CT-
Scan entdeckte Wang die für einen Ammo-
niten charakteristischen inneren Kam-
mern – es handelte sich um einen ausge-
storbenen marinen Kopffüßer, der einem
Nautilus ähnelte. Die bemerkenswerte Mu-
schel muss in einem Strandwald im Harz
gelandet sein, vielleicht nachdem ein
Sturm sie an Land gespült hatte.
Solche Arrangements zwischen Privat-
sammlern und Wissenschaftlern sind
nicht ungewöhnlich. Chinesische Samm-
ler zögern, den Museen Ausstellungsstü-
cke einfach zu überlassen, weil sie für sol-
che Spenden keine Steuererleichterungen
erwarten können. Einige westliche Paläon-
tologen tun sich jedoch schwer damit, über
Fossilien zu publizieren, die sich in priva-

ter Hand befinden. So ist nicht gewährleis-
tet, dass andere Forscher eine Hypothese
zu einem Objekt jederzeit überprüfen
könnten.
Dabei istPNASnicht die einzige Zeit-
schrift, die zu Exemplaren aus Chinas
privaten Bernsteinsammlungen veröffent-
licht hat.Science Advancesetwa hat über
die Bernsteinschlange veröffentlicht, die
jetzt in einer Ausstellung in Xiaos Spiel-
zeuggeschäft in Kunming zu sehen ist. Al-
lerdings fühlen sich sowohl Xiao als auch
Xia schon wegen der Bedeutung ihrer Ob-
jekte der Öffentlichkeit verpflichtet. Sie
planen, ihre Sammlungen in private Muse-
en umzuwandeln und wollen auch Anfra-
gen ausländischer Forscher akzeptieren.
Einige Forscher bleiben skeptisch. Pa-
läo-Entomologe Michael Engel von der Uni-
versität von Kansas erinnert sich, wie er
einmal einen publizierten Fund aus einer
Fundstätte in Jordanien untersuchen woll-
te. Das vermeintliche, von einem Sammler
betriebene Museum entpuppte sich als pri-
vater Keller. „Er sagte, ja sicher,
Sie können den Fund untersu-
chen – kostet 10 000 US-Dollar.“
Doch die Faszination der
Bernsteinfossilien könnte noch
wachsen, allein schon wegen ih-
rer Knappheit. Das Angebot ist
seit einem Peak um 2015 deut-
lich gesunken. So schnell sich
das Fenster zur Kreidezeit auch
geöffnet hat. So schnell könnte
es auch wieder zugeschlagen
werden.
Im Juni 2017 schwirrten Hub-
schrauber der Armee Myan-
mars über Tanai. Sie warfen
Flugblätter ab, in denen sie die
Bergleute und Bewohner der
Stadt zur Flucht aufforderten.
Es folgten Luftangriffe und Stra-
ßensperren. Seitdem hat die Ar-
mee die Aufständischen aus
den Bernsteinabbaugebieten
von Kachin vertrieben. Ein Er-
mittler der UN sprach in einem Bericht aus
dem Jahr 2018 von vier toten Zivilisten und
bis zu 5000 Eingeschlossenen.Ein anderer
UN-Report forderte, dass gegen vier Top-
Generäle wegen Völkermordes und Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit ermittelt
werden müsse.
Zwei ehemalige Minenbesitzer sagen in
einem Telefongespräch, dass die Steuern
noch gestiegen seien, seitdem die Regie-
rungstruppen Kontrolle über das Gebiet
übernommen hätten. Beide schlossen ihre
Minen, als sie nach der Regierungsüber-
nahme unrentabel wurden, und fast alle
Tiefbauminen seien jetzt außer Betrieb.
Nur noch Minen nahe der Oberfläche und
vielleicht ein paar verborgene Unterneh-
men liefen noch.
Von außen ist nur schwer nachzuvollzie-
hen, wie die Einnahmen aus Bernstein die
Armee und Milizen von Myanmar finan-
ziert haben. „Als Verbraucher“, sagt Paul
Donowitz von der NGO Global Witness,
„sind Sie Teil dieses Konflikts, weil Sie zur
Wertsteigerung dieser Waren beitragen.“
Das ist nicht das einzige ethische Pro-
blem beim Bernstein. Viele fossilreiche
Nationen, darunter China, Kanada, die
Mongolei und Myanmar, haben Gesetze
erlassen, um einzigartige Fossilien inner-
halb ihrer Grenzen zu halten. Nach den Re-
geln in Myanmar drohen bei Verstößen ei-
gentlich fünf bis zehn Jahre Gefängnis,
Tausende Dollar Geldstrafe oder beides.
Dennoch verlassen Bernsteinfossilien als
vermeintliche Edelsteine das Land, und so
„wird Myanmars kulturelles Erbe, das palä-
ontologische Erbe, einfach großflächig aus
dem Boden gerissen und über die ganze
Welt verteilt“, sagt Engel.
Xing betont, er sei nur an wissenschaftli-
chen Details interessiert, nicht an Besitz.
Er sei sensibel für das Thema, weil auch
viele chinesische historische Objekte heu-
te in ausländischen Museen untergebracht
sind. „Wenn Myanmar eines Tages Frieden
findet und sie ein Museum für Bernstein
oder ein Museum für Naturgeschichte bau-
en wollen, würden wir (Xings eigenes Insti-
tut, d. Red.) gerne alle Exemplare nach My-
anmar zurückbringen“, sagt er.
Einige Paläontologen hoffen auch auf
eine Bernsteinsammlung in der Nähe der
Minen oder zumindest innerhalb der Lan-
desgrenzen. „Wenn Myanmar ein Museum
zu Bernstein bauen wollte“, sagt David Gri-
maldi vom American Museum of Natural
History, „wäre es ein Riesenspaß, mein
Fachwissen einzubringen.“
In den vergangenen Monaten wurde in
Yangon, Myanmars größter Stadt, ein pri-
vates Bernsteinmuseum eröffnet. Neben
der Ausstellung bietet die englische Web-
site auch Bernstein zum Verkauf, maßge-
schneiderten Schmuck sowie begleitete
Einkaufstouren zu Bernsteinmärkten.
Für die Bewohner von Tanai sind die Dis-
kussionen um den Bernstein angesichts
der alltäglichen Gefahren verblasst. „Im
Moment gibt es keine Stabilität und keine
Rechtsstaatlichkeit“, sagt ein arbeitsloser
Bergmann in einem Telefonat. Aber er ha-
be noch eine Frage. Die Bergleute, die den
Bernstein ausgraben, wüssten nicht, war-
um sich Wissenschaftler für die Insekten
und andere Kreaturen interessieren, die
darin eingeschlossen sind. „Wenn Sie es
wissen, teilen Sie es uns bitte mit.“
mitarbeit: wudan yan

Dieser Beitrag ist im Original im Wissenschaftsma-
gazinScienceerschienen,herausgegeben von der
AAAS. Deutsche Bearbeitung: cwb. Weitere Infor-
mationen: http://www.aaas.org.

Im Juni
2017
schwirrten
Helikopter
der Armee
Myanmars
über der
Stadt

Die einst üppigen
Wälderum Tanai im
Kachin-Staat im
Norden Myanmars
werden gerodet, um
Platz für Bernstein-
Minen zu schaffen. Ein
potenzieller Käufer auf
einem lokalen Markt
prüft mit einer Taschen-
lampe die Qualität des
Rohbernsteins. Das
fossile Harz wird vor
allem in der Stadt
Myitkyina in Myanmar
gehandelt oder über die
Grenze nach Tengchong
in China geschmuggelt.
Ausländer dürfen
Kachin wegen der
Konflikte zwischen
Regierungsarmee und
Separatisten nicht
besuchen.
FOTOS : HKUN LAT / REDUX / LAIF (4)

Mit behelfsmäßigen
Zeltplanen haben die
Bergleute von Tanai die
Minen abgedeckt. Sie
treiben die engen
Schächte bis zu hundert
Meter in die Tiefe,
bis sie auf Bernstein-
Schichten stoßen, meist
ohne die Unterstützung
von Maschinen. Kommt
es zu Unfällen, müssen
sich die ärmlichen
Arbeiter selber um
ihre medizinische
Versorgung kümmern.
Beide Konfliktparteien
in dem Krisengebiet
verlangen Bestechungs-
gelder für Schürfrechte
und Ausrüstung,
außerdem müssen die
Schürfer zehn Prozent
ihrer Gewinne als
Steuer abtreten.

Yangon
(Rangun)

Tanai
Myitkyina

Kachin-Staat

Tengchong

Naypyidaw

Provinz
Yunnan

Golf von
Bengalen

CHINA


MYANMAR
LAOS

VIETNAM

INDIEN

200 km
SZ-Karte: Mainka/
Maps4News
Bernstein- und Fossilienmärkte

Bernstein-Minen

SZ-Grafik: Mainka; Quelle: Andrew Ross

Flut aus Myanmar


Gesteigerte Ausbeute
in den Kachin-
Bernstein-Minen

321


3


Über Jahrzehnte kamen nur wenige
Stücke myanmarischen Bernsteins bei
Wissenschaftlern an. Gegen 2000
steigerte sich der Zufluss erst langsam
und wurde dann zu einer Flut,
die zur Entdeckung hunderter
neuer Arten führte.

300

250

200

150

100

50

0
1916 2018

DEFGH Nr. 195, Samstag/Sonntag, 24./25. August 2019 HF2 WISSEN 35


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