Handelsblatt - 28.09.2019

(Axel Boer) #1

„Grundsätzlich sehen wir bei der OECD


Vorteile in einer Vermögensbesteuerung.


Sie ist auch in der Regel verteilungsgerecht,


weil Vermögen insbesondere in Deutschland


sehr ungleich verteilt sind.“


Nicola Brandt, Deutschland-Expertin der Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Worte des Tages


Landtagswahlen


Das Dilemma


der Grünen


M


anch ein Grüner dürfte
sich verwundert die Augen
reiben. Über zweistellige

Umfragewerte in den neuen Bundes-


ländern, wo die Partei seit jeher


schwach abgeschnitten hat. Über ei-


nen grünen Zeitgeist in der Republik,


der keine Anstalten macht, wieder


zu verschwinden. Doch der Hype


könnte schnell vorbei sein, wenn die


Grünen in ihren bevorstehenden Rei-


feprüfungen die hohen Erwartungen


nicht rechtfertigen.


Die Partei hat einen unschlagbaren


Vorteil. Sie ist unentbehrlich, weil sie


in alle Richtungen regierungsfähig


ist. In Brandenburg könnten die Grü-


nen nach der Wahl an diesem Wo-


chenende eine führende Rolle in ei-


nem rot-rot-grünen Bündnis über-


nehmen und in Sachsen gleichzeitig


in eine Landesregierung mit CDU


und FDP eintreten. Diese Flexibilität


ist im Hinblick auf die nächste Bun-


destagswahl strategisch günstig, aber


auch risikoreich.


Die Grünen können nicht gleich-


zeitig für und gegen die Vermögen-


steuer, den Mietendeckel, die Ab-


schaffung von Hartz IV und schärfere


Abschieberegeln sein. Es wäre un-


möglich, das öffentlich glaubwürdig


zu erklären. Zu viel Beliebigkeit kann


die grüne Marke schnell bis zur Un-


kenntlichkeit abschleifen und beför-


dert den Vorwurf, es gehe der Partei


nur um Macht. Der Absturz der SPD


muss eine Warnung sein.


Nur: Wie könnte ein guter Plan


aussehen, dieses Luxusdilemma zu


bewältigen? Die Grünen sollten eine


Variante – Jamaika oder Rot-Rot-


Grün – zur eindeutig priorisierten er-


klären. Außerdem sollten sie mit drei


oder vier unverhandelbaren Forde-


rungen in Sondierungsgespräche ge-


hen. Vor allem beim Herzensanlie-


gen Klimaschutz schaden schlechte


Kompromisse. Der moderne Wähler


ist launisch und weder besonders ge-


duldig noch treu.


Für die Glaubwürdigkeit der Partei


wäre es gut, auch mal auf eine Regie-


rungsbeteiligung zu verzichten. „Wir


müssen radikal sein“, sagt Grünen-


Chef Robert Habeck. Er verspricht ei-


nen anderen Politikansatz. Das müs-


sen die Grünen einlösen. Mal gu-


cken, wie gut es ihnen gelingt.


Sogar im Osten sind die Grünen
jetzt erfolgreich. Ob der Trend
anhält, hängt davon ab, dass sie sich


nicht in Beliebigkeit verlieren,
sagt Christian Rothenberg.

Der Autor ist Redakteur für


Wirtschaft & Politik.


Sie erreichen ihn unter:


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E


rleichterung – wer wollte das bestreiten – ist
das Wort, das die Stimmung nach diesem
denkbaren Gipfel in Biarritz am besten
trifft. Angela Merkel, die mit Abstand gipfel -
erfahrenste Regierungschefin unter den sie-
ben und mit einer gesunden Skepsis ausgestattet,
sprach von einem „großen Fortschritt“. US-Präsident
Donald Trump sah einen „fantastischen“ und „sehr gut
gemachten Gipfel“. Und Gastgeber Emmanuel Macron
selbst strahlte sichtbar stolz, als er gemeinsam mit
Trump zum Schlussakt des Gipfels vor die Kameras trat.
Ja, so viel Harmonie und Freundlichkeit war selten
in den vergangenen zwei Jahren. Das an sich ist schon
ein Wert, wenn man sich vor Augen führt, wie der vor-
herige Gipfel in Kanada im vergangenen Jahr geendet
hatte: Der beleidigte US-Präsident war fünf Stunden
vor Ende abgereist, zog seine Unterschrift unter der
Abschlusserklärung per Twitter zurück und beleidigte
Gastgeber Justin Trudeau.
Kein Eklat – das darf in diesen Tagen schon als Erfolg
gelten –, so ist es um die einst so stolze „westliche“
Wertegemeinschaft bestellt. Denn bei genauer Betrach-
tung der Ergebnisse – nichts als Absichtserklärungen
und Hoffnungswerte: ein mögliches Treffen zwischen
Trump und seinem iranischen Amtskollegen Hassan
Ruhani, wobei sich niemand auch nur ansatzweise vor-
stellen kann, wie ein Kompromiss im ebenso komple-
xen wie geopolitisch höchst relevanten Atomkonflikt
aussehen könnte. Ein paar freundliche, aber vollkom-
men unverbindliche Aussagen im transatlantischen
und amerikanisch-chinesischen Handelsstreit. Ein
neuer Anlauf zur Befriedung der Ostukraine – mehr ist
es noch nicht. Ein möglicher Interessenausgleich im
Streit über die Digitalsteuer, aber nur wenn es eine
globale Lösung gibt, die auf absehbare Zeit alles ande-
re als wahrscheinlich ist. Immerhin Soforthilfen im
Kampf gegen den brennenden Regenwald in Brasilien.
Solange Gespräche geführt werden, ist zumindest ei-
ne Eskalation der zahlreichen Konflikte unwahrschein-
licher. Das ist das unumstrittene Verdienst des originell
taktierenden Gipfelmanagers Macron. Wohin aber sol-
che Gespräche am Ende führen können und sollen, ist
nach Biarritz genauso unklar wie vorher.
Das grundsätzliche Problem: Die Worte des US-Prä-
sidenten gelten eben nur so lange, bis sie nicht mehr
gelten. Trump schert sich nicht um diplomatische Ge-
pflogenheiten. Regeln mögen für die meisten Sterbli-
chen gelten, nicht so für Donald. „Emanuel Macrone“
schrieb der Präsident respektlos im Vorfeld des Gipfels
in einem Tweet. Böswillige würden behaupten, Trump
habe den Namen seines französischen Amtskollegen
mit Absicht falsch geschrieben. Wahrscheinlicher ist –
und das ist nicht weniger schlimm: Es ist dem ameri-

kanischen Präsidenten schlichtweg egal, ob die Ortho-
grafie stimmt. Motto: „Der französische Präsident hat
so zu heißen, wie ich, Donald, ihn schreibe.“
Was schon im Kleinen ein Affront darstellt, setzt
sich im Großen fort: Niemand weiß, was Trump, der
sich im Normalfall bei solchen Veranstaltungen nicht
mit Mikroaggressionen aufhält, dazu brachte, sich in
vielen Fragen der Geopolitik in Biarritz so versöhnlich
zu zeigen. War es das herrliche Urlaubsambiente in
dieser malerischen Bucht, das den Präsidenten sanft-
mütig stimmte? Waren es die angenehmen Tempera-
turen? Oder doch die Schmeicheleien Macrons?
Viel spricht dafür, dass die Gemütslage des Präsiden-
ten die Leitlinien seiner Politik bestimmt. Eine rationa-
le Strategie jedenfalls, die diesen Namen verdient, gibt
es nicht. Mal abgesehen von der Tatsache, dass „Ame-
rica first“ die Maxime seines Handelns ist. Auch hier
gilt aber: Längst nicht alles, was bauchgefühlt gut für
Amerika ist, entspricht langfristig den Interessen des
Landes. Oft ist, wie etwa bei protektionistischen Refle-
xen Trumps, das Gegenteil der Fall.
Fakt ist: Die Wankelmütigkeit Trumps macht eine
rationale Politik ihm gegenüber fast unmöglich. In ei-
nem gewissen Grad kann man sogar von einer Infanti-
lisierung der Außenpolitik sprechen. Niemand würde
sich wundern, wenn der Mann im Weißen Haus das in
Biarritz Gesagte mit einem Tweet zunichtemachte.
Die Unbeständigkeit ist das einzig Beständige in
Trumps Politik, was am Ende auch die G7-Gipfeldiplo-
matie vollständig entwertet, auch wenn die befürchtete
Spaltung zwischen den Multilateralisten auf der einen
und Trump mit Boris Johnson, seinem Bruder im Geis-
te, auf der anderen Seite in Biarritz zumindest nicht of-
fen sichtbar wurde. Aber auch das kann nicht über die
Tatsache hinwegtäuschen, dass die G7 kaum noch als
Wertegemeinschaft wahrgenommen werden kann. Das
gilt für die Handelspolitik, also den Glauben an den
freien Wettbewerb um die bessere Idee auf offenen
Märkten. Und das gilt für die Außenpolitik, also die
Überzeugung, dass es so etwas wie einen Interessen-
ausgleich geben sollte und dass am Ende alle von ge-
meinsamen Regeln profitieren. Der Westen, so scheint
es in der Ära Trump, ist nur noch eine Karikatur seines
von der Freiheit geprägten Selbstbilds.
Und doch gibt es sie, die wirklich positive Botschaft
von Biarritz: Mit Macron steht endlich wieder ein Eu-
ropäer an der Spitze eines EU-Staats, der nicht nur
über Charisma, Mut und Gestaltungskraft verfügt,
sondern sich auch Weltpolitik zutraut.

Leitartikel


Der Scheinfrieden


von Biarritz


Dank des
geschickten
Gipfelmanage -
ments von
Macron
präsentierte sich
der Westen noch
einmal
geschlossen.
Doch die Gräben
sind kaum
zu überwinden,
meint Jens
Münchrath.

Kein Eklat –


das darf in


diesen Tagen


schon als Er-


folg gelten –


so ist es um


die einst so


stolze „west -


liche“ Werte -


gemeinschaft


bestellt.


Der Autor leitet das Auslandsressort.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Meinung


& Analyse


MITTWOCH, 28. AUGUST 2019, NR. 165


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