Süddeutsche Zeitung - 31.08.2019

(Tuis.) #1
Bis zum Jahr 2000 „war Grönland unge-
fähr imGleichgewicht“, so der Wissen-
schaftler. Der Eiszuwachs über den Schnee-
fall im Akkumulationsgebiet und der Eis-
verlust durch das Schmelzwasser und die
Eisberge im Ablationsgebiet hielten sich
im Großen und Ganzen die Waage. Doch
seither nimmt die Masse des gewaltigen
Eiskörpers ab. Wie viel, das lässt sich heute
mithilfe von Satellitendaten, Bodenmes-
sungen und vom Computer erstellten Mo-
dellrechnungen ziemlich genau abschät-
zen. Konrad Steffen bringt die für den
Laien oft abstrakten Zahlen anschaulich
auf den Punkt: „Grönland verliert derzeit
um die 300 Gigatonnen Eis pro Jahr – das
entspricht in etwa fünf Mal dem Volumen
der Alpengletscher.“ Den Meeresspiegel
lässt das ungefähr um einen Millimeter
jährlich ansteigen.
Ein Millimeter erscheint nicht viel.
Wenn man jedoch bedenkt, dass sich laut
Weltorganisation für Meteorologie (World
Meteorological Organisation WMO) der
Meeresspiegel im vergangenen Jahr insge-
samt um 3,7 Millimeter erhöht hat, ist die
Schmelze in Grönland immerhin für fast
25 Prozent dieses Anstieges ver-
antwortlich.
Wie schnell das Inlandeis ins
Meer abfließen kann, zeigt sich
besonders eindrucksvoll am
Jakobshavn-Gletscher, in der
Sprache der Inuits Sermeq Ku-
jalleq, an der Westküste Grön-
lands. Er ist ein Gletscher der
Superlative und gilt als „Hot-
spot der Klimaforschung“ –
und steht deshalb, zusammen
mit dem über 1000 Meter tiefen
Fjord, in den er kalbt, auf der
Unesco-Weltnaturerbe-Liste.
Sein Einzugsgebiet umfasst
knapp sieben Prozent des In-
landeises. Sein Eis fließt derzeit
mit einer Geschwindigkeit von
40 Metern am Tag Richtung
Küste. Er ist damit der schnells-
te Gletscher der Welt. Jährlich
brechen an seiner Front 46 Ku-
bikkilometer Eis ab. Damit lie-
ße sich, laut Unesco, etwa der jährliche
Wasserverbrauch der USA decken.
Die größten Eisberge, die der Gletscher
kalbt, sind bis zu zwei Kilometer breit und
ragen bis zu 120 Meter über den Meeres-
spiegel. Sie treiben langsam durch den et-
wa 40 Kilometer langen und etwa sieben
Kilometer breiten, mit schwimmendem
Eis vollgestopften Fjord in die Diskobucht
und schließlich ins offene Meer. Einer die-
ser Riesen soll 1912 dem angeblich unsink-
baren PassagierschiffTitaniczum Ver-
hängnis geworden sein.
Am Ausgang des Fjords liegt Ilulissat,
die drittgrößte Stadt Grönlands. Sie wurde
schon Mitte des 18. Jahrhunderts unter
dem Namen Jakobshavn inmitten mehre-
rer Inuitsiedlungen von einem dänischen

Großkaufmann gegründet. „Seit 1850 wird
von hier aus der Gletscher beobachtet und
es werden auch meteorologische Daten ge-
sammelt“, erklärt Aron Peterson, der vor et-
wa 60 Jahren in Ilulissat geboren wurde
und heute als Ranger im Unesco-Weltna-
turerbe arbeitet.
Er hat all die klimabedingten Verände-
rungen an der Westküste Grönlands in den
letzten Jahrzehnten selbst miterlebt. „Frü-
her“, so erzählt er, „hatte es im Winter mi-
nus 20 Grad und das Meer war zugefro-
ren.“ Selbst größere Schiffe konnten erst
im Mai die Diskobucht passieren. Und die
Fischer fuhren noch mit ihren Hundeschlit-
ten weit raus aufs Meereis und versenkten
ihre Langleinen in Löchern, die sie ins Eis
geschlagen hatten. Heute jedoch, so berich-
tet der Ranger, fällt das Thermometer
selbst mitten im Winter selten unter mi-
nus sechs Grad. Größere Schiffe können
den ganzen Winter über den Hafen von Ilu-
lissat anlaufen, „und die Fischer freuen
sich, weil das Meer nicht mehr richtig zu-
friert und sie das ganze Jahr durch mit ih-
ren Booten rausfahren können und ent-
sprechend mehr fangen.“
Dann zeigt er auf ein Satelli-
tenbild des etwa 4000 Quadrat-
kilometer großen Areals des
Weltnaturerbes, das er betreut.
Darauf steht in großen Buchsta-
ben: das Klima-Barometer der
Erde. Es zeigt die starke Reakti-
on des Jakobshavn-Gletschers
auf die globale Erderwärmung
seit 1850. Peterson deutet auf
die vielen Linien, die in dem mit
Eisbergen dicht besetzten Fjord
eingezeichnet sind. Sie markie-
ren die einzelnen Rückzugsstadi-
en des Gletschers – von 1850 bis


  1. Und diese Entwicklung
    geht ständig weiter(siehe Grafik
    linke Seite).
    Deutlich ist darauf der langsa-
    me Rückzug bis Anfang der
    1950er-Jahre und dann eine rela-
    tiv stabile Lage der Gletscher-
    front bis etwa zum Jahr 2000 zu
    erkennen. Gegen 2001 fing die
    Eiszunge an, sich rasant rückwärts zu be-
    wegen, um etwa zehn Kilometer innerhalb
    von zehn Jahren.
    Und der Gletscher wurde immer dünner
    und schneller. Seine Fließgeschwindigkeit
    hat sich von 20 Meter pro Tag in den
    1990er-Jahren auf heute 40 Meter pro Tag
    gesteigert – während sich seine Front nach
    hinten verlagerte. Unmengen Eis brachen
    von seiner Front ab. Wie spektakulär so ein
    großer Eisabbruch ist, kann sich heute je-
    der jederzeit auf Youtube anschauen. Wis-
    senschaftler, aber auch Privatleute, konn-
    ten einige der eindrucksvollen Kalbungs-
    phasen filmen und haben ihre Videos ins
    Internet gestellt.
    Die Ursachen für die Beschleunigung
    des Jakobshavn-Gletschers sind gut unter-


sucht: Es ist das viele Schmelzwasser, das
mit der zunehmenden Lufttemperatur vor
allem in den Sommermonaten vom Inland-
eis her unter dem Gletscher in den Fjord
strömt und das Gletscherbett schmiert.
Hinzu kommen die wärmeren Meerestem-
peraturen, welche das Gletschereis, das
auf dem Fjordwasser aufschwimmt, von
unten her schmelzen lässt.
Doch neueste Messdaten von der
schnellsten Eismasse der Welt sorgten vor
Kurzem für eine Überraschung. Wissen-
schaftler der amerikanischen Weltraumbe-
hörde Nasa, die im Rahmen des Ocean-Mel-
ting-Greenland-Projektes (OMG) seit eini-
gen Jahren die Wechselwirkung zwischen
dem Ozean und den Eismassen auf Grön-
land untersuchen und beobachten, hatten
festgestellt, dass der Jakobshavn-Glet-
scher seit 2016 wieder wächst – und das
drei Jahre in Folge.
„Wir konnten das zunächst gar nicht
glauben“, sagt der Glaziologe Ala Khazen-
dar vom OMG-Forscherteam. „Wir dach-
ten, der Gletscher würde so weitermachen
wie in den letzten 20 Jahren.“ Aber der Glet-
scher ist in seinem Frontbereich pro Jahr
um 20 bis 30 Meter dicker ge-
worden. Das haben Satellitenda-
ten und Radarmessungen von
Flugzeugen aus ergeben.
Als die Wissenschaftler diese
Werte mit den Wassertempera-
turen verglichen, die sie in die-
sem Zeitraum von Schiffen aus
gemessen hatten, entdeckten
sie den Grund dafür: Seit drei
Jahren fließt um ein bis zwei
Grad kälteres Ozeanwasser
vom offenen Meer in den Fjord
hinein – und nicht nur bis zur
heutigen Gletscherstirn, son-
dern noch viel weiter. Denn der
40 Kilometer lange Fjord setzt
sich – unter dem Eis verborgen


  • noch weitere 80 Kilometer un-
    ter den Gletscher hinein fort.
    Aber warum wurde der Oze-
    an an der Westküste Grönlands
    in den vergangenen Jahren um
    ein bis zwei Grad kälter? Die
    Quelle für die Abkühlung vermuten die
    Wissenschaftler knapp 1000 Kilometer
    südlich des Gletschers im Atlantik – zwi-
    schen Island und den Azoren. Dort
    herrscht ein Luftdruckgegensatz zwischen
    dem Azoren-Hoch und dem Island-Tief.
    Meteorologen sprechen von der Nordatlan-
    tischen Oszillation. Dieser Luftdruck
    schwankt, das ist der Grund, wieso sich das
    Ozeanwasser alle fünf bis 20 Jahre um ein
    paar Grad Celsius aufheizt und dann wie-
    der abkühlt. Diese Luftdruckschaukel
    sorgt seit einigen Jahren gerade wieder für
    eine Abkühlung im nördlichen Atlantik.
    Seit 2016 strömt kühleres Wasser nach Nor-
    den bis an Grönlands Westküste – und of-
    fenbar auch hinein in den Ilulissat-Eis-
    fjord.


Das bedeutet jedoch nicht, dass sich der
Jakobshavn-Gletscher ab jetzt wieder auf
Dauer erholt. „Das gewährt ihm nur eine
Atempause“, sagt der Ozeanograf Josh Wil-
lis, Leiter des Nasa-Projektes OMG. Denn
langfristig werden sich die Ozeane auf-
grund des Klimawandels weiter erwär-
men. „Und wenn man sieht, welch großen
Einfluss die Ozeane auf die Gletscher ha-
ben, sind das schlechte Nachrichten für
den grönländischen Eisschild.“
„Wir werden jedes Jahr überrascht
durch neue Prozesse, die wir nicht vorher-
gesehen haben“, sagt Konrad Steffen, „und
Änderungen, die schneller sind als erwar-
tet.“ Das werde vermutlich auch in Zukunft
so weitergehen. Auch er warnt davor, auf-
grund der jüngsten Messwerte am Jakobs-
havn-Gletscher darauf zu hoffen, dass das
Abschmelzen des grönländischen Inlandei-
ses aufhören werde und dadurch der An-
stieg des Meeresspiegels abgebremst wer-
den könnte. Denn trotz des derzeitigen Di-
ckenzuwachses an seiner Front verliert
Grönlands berühmtester Gletscher im
Jahr mehr Eis als er durch den winterli-
chen Schnee dazugewinnt – „nur im Mo-
ment eben langsamer“, so der
Wissenschaftler.
Sobald sich aufgrund der
Nordatlantischen Oszillation
das Wasser im Fjord wieder er-
wärmt, so prognostiziert er,
dann wird auch der Gletscher
wieder mehr Eis verlieren, viel-
leicht sogar noch viel mehr als
bisher. Denn ein Teil der sieben
Kilometer breiten Gletscher-
front liegt derzeit auf einem un-
termeerischen Felsriegel auf,
was den Rückzug des Eises auch
ein wenig bremst. Hinter dieser
untermeerischen Barriere be-
ginnt jedoch – heute noch vom
Eis verborgen, die 80 Kilometer
lange und bis zu 1600 Meter tie-
fe Fortsetzung des Ilulissat-
Fjords. Dort könnten sich Bedin-
gungen auftun, die den Eisab-
fluss im Vergleich zu den letzten
Jahren noch beschleunigen.
Die Bilanz von Konrad Steffen aus mehr
als 30 Jahren Forschung auf Grönland ist
pessimistisch: Wenn die Erderwärmung
fortschreitet wie bisher, „werden wir die
grönländische Eismasse verlieren“. Es
fragt sich nur wie schnell. Wenn man den
Massenverlust der vergangenen Jahre von
300 Gigatonnen pro Jahr – 2012 waren es
sogar 360 Gigatonnen – zugrunde legt,
„dann kann es noch etwa 7000 Jahre so wei-
tergehen, bis die Eiskappe verschwunden
ist – und uns dabei einen Meeresspiegelan-
stieg von sechs bis sieben Metern be-
schert“, so der Wissenschaftler. Es könne
aber auch schneller gehen – je nachdem,
wie sich die Erderwärmung entwickelt und
wie intensiv das grönländische Inlandeis
darauf reagiert.

Früher
konnten
selbst
größere
Schiffe erst
im Mai die
Diskobucht
passieren

Wenn es so
weitergeht
wie derzeit,
wird die
Eiskappe
in 7000
Jahren
weg sein

Das hellblau leuchtende
Schmelzwasser bildet
Muster und Strukturen
von abstrakter Schönheit,
die auf diesen Luftbildern
besonders gut zur Geltung
kommen. Die Rinnsale,
Flüsse und Seen sind aber
zerstörerisch. Das Wasser
dringt durch jede Spalte
und Ritze in das Eis und
zersetzt es. So entstehen
Löcher und Kanäle, die
häufig Hunderte Meter tief
sind und manchmal sogar
den felsigen Untergrund
der größten Insel der Welt
erreichen.


DEFGH Nr. 201, Samstag/Sonntag, 31. August/1. September 2019 WISSEN 39


Die Eisberge an der
Mündungdes Ilulissat-
Eisfjordes sind manchmal
Hunderte Meter breit.
Häufig bleiben sie an einer
untermeerischen Schwelle
hängen, einer eiszeitlichen
Endmoräne. Wenn sie
ausreichend geschmolzen
oder zerbrochen sind,
schwimmen sie aufs Meer
(oben, Mitte). Am Rand des
Inlandeises drücken sich
Unmengen graues,
sedimentbeladenes
Schmelzwasser heraus und
vermischen sich mit dem
Meerwasser (links).

Der schmelzende Eisschild
Gigatonnen Meeresspiegelerhöhung in Millimeter

3000

2000

1000

0
1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012

8

6

4

2

0

Kumulativer Eismassenverlust

Unsicherheitsbereich

Fieberkurve
Temperatur in Grad °C/Kalendertag
4

0

-4

-8

-1 2

-16

-20

-24
183185187189191 193195197199201203205207209211213

Schmelzereignis 2019
Ausmaß der Schmelze in Prozent
70

60

50

40

30

20

10

0
April Mai Juni Juli August September Oktober

Verlauf 2019

1981 bis 2010 Median

SZ-Grafik: Mainka; Quellen: Konrad Steffen, NSIDC, Eos
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