Süddeutsche Zeitung - 31.08.2019

(Tuis.) #1

A


ngefangen hat es schon im Mai
dieses Jahres. „Da hatten wir im
Swiss Camp bereits Plusgrade
gemessen“, sagt der Schweizer
Glaziologe Konrad Steffen.
Höchst ungewöhnlich für die schweize-
risch-amerikanische Atmosphären-Mess-
station, 1100 Meter hoch auf dem grönlän-
dischen Inlandeis gelegen. „Früher hatten
wir dort im Mai minus 15 Grad Celsius“, so
der Wissenschaftler, der seit mehr als 30
Jahren auf Grönland arbeitet, lange eines
der wichtigsten Umweltforschungs-Zen-
tren in den USA in Boulder, Colorado (Ci-
res) geleitet hat und heute an den Eidgenös-
sisch Technischen Hochschulen in Zürich
und in Lausanne in der Schweiz tätig ist.
Für ihn sind die Plusgrade am Swiss Camp
nicht nur im Hinblick auf die Klimaent-
wicklung interessant, sondern sie verursa-
chen auch ganz praktische Probleme. Das
Flugzeug, das die Station immer um diese
Jahreszeit mit allem Notwendigen ver-
sorgt, kann nicht landen, wenn die übli-
cherweise hart gefrorene Eisdecke taut
und aufweicht.
Dieser Temperatur-Auffälligkeit im
Mai folgten weitere – und die sorgten inter-
national für Schlagzeilen. Rekordschmelze
Mitte Juni – über acht Tage hinweg, melde-
te das amerikanische National Snow and
Ice Data Center (NSIDC). Laut dänischem
Meteorologie-Institut hat Grönland im Juli
aufgrund der andauernden Wärmephase
etwa 197 Gigatonnen Eis verloren, was – so
die Fachleute dort – einem Meeresspiegel-
anstieg von gut einem halben Millimeter
entspricht.
Und dann kam die Sensation: Am höchs-
ten Punkt des gigantischen Eisschildes, an
dem normalerweise eine Jahresdurch-
schnittstemperatur von minus 28 Grad Cel-
sius herrscht, überschritten die Lufttempe-
raturen deutlich die Null-Grad-Grenze.
Am 31. Juli 2019 lagen sie bei plus 1,2 Grad
Celsius – und am 2. August sogar bei plus
3,6 Grad Celsius. „Das hatten wir bisher
nur einmal, im Rekordjahr 2012“, sagt Kon-
rad Steffen, „da wurden kurzfristig aber
nur plus 0,5 oder 0,6 Grad Celsius er-
reicht.“
Wer in diesem Sommer von Ost nach
West über das Inlandeis flog, konnte bei
klarem Wetter die Auswirkungen dieser ex-
tremen Hitzeperiode deutlich sehen. Vor al-
lem im Südwesten der Insel war die sanft
geschwungene Oberfläche des Eisschildes
geschmolzen so weit das Auge nur reicht.
Rinnsale, Bäche und reißende Flüsse aus
hellblau leuchtendem Schmelzwasser
schnitten sich in das weiß-graue Eis ein,
mündeten in oft dunkelblauen, großen
Seen – oder verschwanden plötzlich in ei-
ner Spalte oder einem Loch im Eis. Stellen-
weise hatte man den Eindruck, der ganze
Eisschild löse sich auf in eine Art Eis-
sumpf, so eng mäanderten die Schmelz-
wasserbäche nebeneinander, bildeten weit-
läufige Netze oder vereinigten sich zu im-


mer breiteren Strömen. Das ist schön anzu-
schauen, aber auch ein deutliches Zeichen
dafür, dass sich vor allem der hohe Norden
unseres Planeten aufgrund des Klimawan-
dels drastisch erwärmt.
Die Eismasse auf Grönland, der größten
Insel der Welt, ist riesig. Sie überdeckt
mehr als 80 Prozent des Landes, ist von Sü-
den nach Norden etwa 2500 Kilometer
lang und von Ost nach West bis zu 1100 Kilo-
meter breit. An ihrer dicksten Stelle misst
sie gut 3367 Meter. Ihr höchster Punkt
liegt allerdings mit 3275 Metern über Mee-
resniveau etwas tiefer. Denn diese Eismas-
se lastet so sehr auf der Insel – ähnlich wie
eine schwere Fracht auf einem Schiff, so-
dass die Erdkruste unter dem Eis bis in den
Erdmantel gedrückt wird – und zwar bis
zu 550 Meter tief.
Dieser gewaltige Eiskuchen sei schon
immer in den Sommermonaten an der
Oberfläche etwas geschmolzen, erläutert
Konrad Steffen, „aber nicht auf einem so
großen Gebiet wie heute, sondern nur in
den tieferen Lagen am Rand“. Aufgrund
der klimabedingt steigenden Temperatu-
ren beginnt die Schmelze jedoch immer
früher im Jahr und sie steigt im-
mer weiter nach oben auf dem
sehr flach ansteigenden Eis-
schild.
„Wir sprechen von Ablations-
zone – dort taut der Schnee, der
sich im Winter abgelagert hat,
im Sommer vollständig weg“, er-
klärt der Wissenschaftler. Die
Sonnenstrahlung kann deshalb
die alte, oft graue und unregel-
mäßig gekörnte Eisfläche direkt
angreifen. Sie schmilzt deutlich
schneller als die winterliche wei-
ße Schneedecke, weil sie das
Sonnenlicht nicht so gut reflek-
tiert, sondern mehr davon absor-
biert – deshalb taut sie umso
stärker. Der Schmelzeffekt ver-
stärkt sich dadurch noch mal
von selbst.
„Seit dem Jahr 2000 ist diese
Ablationszone angewachsen“,
sagt Konrad Steffen. Das Swiss
Camp zum Beispiel, die erste von insge-
samt 19 Messstationen zur Atmosphären-
forschung, die der Wissenschaftler seit
1990 nach und nach auf dem grönländi-
schen Eisschild errichtet hat, setzte er ur-
sprünglich direkt auf die sogenannte Equi-
libriums- oder Gleichgewichtslinie. So
heißt die Grenze zwischen dem Ablations-
gebiet, in dem ein Gletscher und eben auch
das gesamte grönländische Inlandeis an
Masse verliert, und dem Akkumulationsge-
biet, in dem die Eismasse Grönlands im-
mer noch anwächst, weil sich der Schnee,
der das ganze Jahr über fällt, ansammelt,
sich verdichtet und allmählich in Eis ver-
wandelt.
Seit dem Jahr 2000 hat sich diese Gleich-
gewichtslinie 50 Kilometer vom Swiss

Camp weg Richtung Eisschildmitte verla-
gert. Das hat auch Folgen für das Camp,
das auf langen Stelzen im Eis verankert ist.
Es ist im Sommer 2009 und danach ein wei-
teres Mal im Jahr 2011 zusammengebro-
chen. Denn: Unter der Station waren einige
Meter Eis weggeschmolzen – die Stelzen
standen frei und die Holzplattform mit den
auf ihr verankerten Messzelten wurde vom
stürmischen Wind einfach umgeworfen.
Die Station wurde jedoch jedes Mal wie-
der aufgebaut, um die Messreihen, die dort
seit ihrer Gründung aufgezeichnet wer-
den, fortzusetzen. 32 Parameter wie zum
Beispiel Lufttemperatur, Windgeschwin-
digkeit, Luftfeuchtigkeit, Sonneneinstrah-
lung, Eistemperatur bis zehn Meter Tiefe
und vieles mehr werden dort – ebenso wie
an den anderen derzeit aktiven 16 Messsta-
tionen – laufend aufgezeichnet und stünd-
lich per Satellit an den meteorologischen
Dienst in Dänemark sowie auf die Compu-
ter von Konrad Steffen in Boulder, Colora-
do, und in Zürich übertragen. Es sind mit
die längsten meteorologischen Messrei-
hen überhaupt, die vom grönländischen
Eisschild existieren.
Am Swiss Camp sind außer-
dem Radargeräte installiert, die
den Wissenschaftlern einen
Blick tief in den Eisschild hinein
erlauben. Damit können sie die
Wege des Schmelzwassers ver-
folgen, das über die Spalten und
trichterförmige Öffnungen –
auch Moulins oder Gletscher-
mühlen genannt – plötzlich in
der Eismasse verschwindet.
Das Wasser durchlöchert den
Eiskuchen. „Es spült dort nicht
nur senkrechte, sondern auch
horizontale Kanäle und Tunnel
hinein“, sagt Konrad Steffen.
Überall, wo Schmelzwasser in
den Eiskuchen eindringen
kann, gleiche dieser „einem
Schweizer Käse“. Er hatte ein-
mal die Idee, zusammen mit Kol-
legen so ein Tunnelsystem zu
durchklettern, er gab das Vorha-
ben jedoch schnell wieder auf.
Denn jederzeit kann von irgendwo her Was-
ser einbrechen. Es wäre lebensgefährlich
gewesen.
Das Schmelzwasser ändert die Tempera-
turen in dem mächtigen Eiskörper, es bil-
det sogar Seen im Eis, die auch wieder aus-
laufen können, und es bahnt sich seinen
Weg Hunderte Meter tief hinunter bis zum
Fels und fließt dort bis zur Küste hinein ins
Meer. Das hat Folgen: Das viele Schmelz-
wasser wirkt wie ein Schmiermittel. Das
Eis fließt schneller Richtung Küste und
dort, wo es das Meer erreicht, kalbt es – Eis-
berge brechen ab und treiben in den Ozean
hinaus. Das Inlandeis verliert also in zwei-
facher Weise an Masse – durch das viele
Schmelzwasser und durch das Abbrechen
von Eisbergen.

Wo
Wasserin
das Eis
eindringen
kann,
gleicht es
Schweizer
Käse

Schrecklich


schön


Temperaturrekord am höchsten Punkt Grönlands:


Am 2. August dieses Jahres wurden dort 3,6 Grad Celsius


erreicht. Das Inlandeis schmilzt schneller als erwartet


und lässt bereits jetzt den Meeresspiegel weltweit um


einen Millimeter pro Jahr ansteigen


text: angelika jung-hüttl, fotos: bernhard edmaier


Der Jakobshavn-Gletscher an der Westküste Grönlands ist einer der Hotspots der Klimaforschung.
Miteiner Fließgeschwindigkeit von 40 Metern am Tag ist er der schnellste Gletscher der Welt.
Seit Beginn der Messungen 1850 ist er dramatisch geschmolzen. Seit 2016 wächst er wieder, aber
vermutlich nur wegen einer vorübergehenden Temperatur-Anomalie im Nordatlantik.QUELLE: GEUS

Nordpol

PAZFIK

ATLANTIK

ASIEN

EUROPA

AFRIKA

NORD-
AMERIKA Grönland

38 WISSEN Samstag/Sonntag, 31.August/1. September 2019, Nr. 201 DEFGH

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