Süddeutsche Zeitung - 31.08.2019

(Tuis.) #1
interview: ferdos forudastan
und oliver das gupta

SZ:Herr Vogel, am 1. September 1939 hat
Hitler-Deutschland seinen Nachbarn Po-
len überfallen. Wie haben Sie als damals
13-Jähriger den Beginn des Zweiten Welt-
kriegs erlebt?
Hans-Jochen Vogel: Lassen Sie mich ein
paar Tage zurückgreifen: Im August vor
80 Jahren haben meine Eltern mit meinem
Bruder Bernhard und mir Urlaub in Tirol
gemacht. Wir haben bei einem Bäcker ge-
wohnt, der Zimmer untervermietete, und
ich verdiente ein kleines Taschengeld, in-
dem ich morgens Semmeln ausfuhr. Wir
waren in Sorge, weil sich die Dinge in Be-
zug auf Polen damals schon sehr zuspitz-
ten, wogen aber noch ab, ob der Krieg aus-
brechen würde oder nicht. Dann einigten
sich die Diktatoren Hitler und Stalin für
uns völlig überraschend auf einen Nichtan-
griffspakt, und wir hofften einige Tage,
dass es nicht zu einem Krieg kommen wür-
de. Da Hitler an seinen Forderungen gegen-
über Warschau festhielt und England und
Frankreich eine Schutzerklärung für Polen
abgaben, wurde die Lage wieder so kri-
tisch, dass wir beschlossen, nach Hause,
also nach Gießen, zu fahren.


Haben Sie damals damit gerechnet, per-
sönlich in den Krieg hineingezogen zu
werden?
Nein. Als 13-Jähriger habe ich damals nicht
damit gerechnet, dass der Feldzug gegen
Polen sich zu einem Weltkrieg auswächst.
Ich hatte eher das Gefühl, dass dies wieder
so ein schneller Erfolg Hitlers wird wie die
Einverleibung des Sudetenlandes auf-
grund des Münchner Abkommens und die
im März 1939 herbeigeführte Abtrennung
der Slowakei und die Übernahme der da-
mals sogenannten Rest-Tschechei als Pro-
tektorat. Mein Vater war allerdings sehr be-
unruhigt. Er hatte ja den Ersten Weltkrieg
mitgemacht und befürchtete, dass es nicht
bei der Auseinandersetzung mit Polen
bleibt.
Er sollte recht behalten. Ein Jahr später
hatte die Wehrmacht Teile von Skandina-
vien, die Benelux-Staaten sowie den Erb-
feind Frankreich unterjocht. Wie haben
Sie diese Triumphe Hitlers damals emp-
funden?
Der schnelle Sieg über Frankreich, der Ein-
marsch in Paris und dass Hitler im selben
Waggon im Wald von Compiègne, in dem
1918 von uns der Waffenstillstand erbeten
worden war, nun die Kapitulation Frank-
reichs entgegennahm: All das hat viele
Deutsche im Sommer 1940 beeindruckt,
darunter auch unsere Familie. Im Jahr dar-
auf folgten der deutsche Überfall auf Süd-
osteuropa, auf Griechenland, der Krieg in
Nordafrika, der Überfall auf die Sowjetuni-
on, der japanische Überfall auf Pearl Har-
bor, unsere Kriegserklärung an die USA ...,
und mein Vater sagte: Diesen Krieg wird
Hitler nicht gewinnen.
1943 machten Sie Abitur und meldeten
sich mit 17 Jahren freiwillig zur Wehr-
macht. Warum?
Nicht aus Begeisterung für den Krieg, son-
dern, um mich zu schützen. Die SS warb
sehr energisch um junge Männer. Vor ihr
war man nur sicher, wenn man einen An-
nahmeschein der Wehrmacht hatte.
Hatten Sie Angst vor dem Krieg?
Das nicht. Ich dachte mir: Herrgott noch
mal, dir geht es jetzt halt wie allen anderen.
Für meine Eltern war es auch so. Die Söhne
wurden eben eingezogen.
Das klingt sehr lakonisch.
Es hat sich dann verändert, durch das, was
ich erfahren und mitbekommen habe. Bei-
spielsweise im Herbst 1943, als ich in Ren-
nes im Lazarett war und dort ein Oberge-
freiter andeutete, dass im Osten Europas
über den Krieg hinaus schlimme Sachen
geschahen. Als man mehr darüber wissen
wollte, hat er nicht weitererzählt, vermut-
lich aus Angst, denunziert zu werden.
Sie kamen zu einem Jägerregiment und
wurden später in Italien verwundet.
Einmal am Bein, bei einem Unfall; später
erlitt ich nördlich von Bologna beim Ge-
fecht mit einer brasilianischen Einheit
einen Bauchschuss.
Dachten Sie damals, das war’s?
Ich hoffte, dass ich überleben würde und
war auch irgendwie zuversichtlich, obwohl
ich nicht beurteilen konnte, wie schwer die
Verletzung war. Aber neben mir, da lag ein
toter Kamerad. Diesen Anblick werde ich
nicht vergessen.
Wann haben Sie erfahren, dass der Krieg
vorbei war?
Das war am 8. Mai 1945 in einem Gefange-
nenlager nahe Pisa, zusammen mit etwa
25000 weiteren deutschen Soldaten. Ich
übersetzte dort Meldungen aus der US-
TruppenzeitungStars & Stripesund damit
auch die Nachricht von der deutschen Kapi-
tulation. Da war das einzige Gefühl: Gott
sei Dank! Gott sei Dank, dass das Morden,
die Zerstörung und hoffentlich bald auch
der Hunger aufhören! Wenn ich an diese
Zeit denke, habe ich übrigens immer sofort
dieses Bild vor Augen: Als ich im Juli 1945
nach Hause kam, hatte meine Mutter wei-
ße Haare. Nur ein halbes Jahr vorher waren
sie noch schwarz gewesen.
Da war das Gefühl der Erleichterung dar-


über, dass der Krieg vorbei war.Was ist Ih-
nen besonders in Erinnerung geblieben?
Dass ich mir damals nicht vorstellen konn-
te, wie dieses zerbombte Deutschland sich
innerhalb der nächsten 15 oder 20 Jahre
wieder in einen erträglichen Zustand ver-
wandeln könnte – was dann aber doch eini-
germaßen rasch geschah. Viel länger hat es
gedauert, bis sich bei den meisten Men-
schen die Einsicht durchsetzte, dass der
8.Mai 1945 ein Tag der Befreiung war. Im
Grunde brachte da erst die Rede des dama-
ligen Bundespräsidenten Richard von
Weizsäcker am 8. Mai 1985 den Durch-
bruch. In Erinnerung geblieben ist mir von
der Zeit unmittelbar nach dem Krieg außer-
dem, dass auch mir erst nach und nach
klar wurde, was alles mit der NS-Gewalt-
herrschaft verbunden war.
Warum hat diese Erkenntnis Zeit ge-
braucht? Sie haben doch vermutlich mit-
bekommen, dass in Ihrer Nachbarschaft
lebende Juden deportiert worden sind.
Ja, aber was dann genau mit ihnen ge-
schah, dass Juden millionenfach systema-
tisch vernichtet wurden, habe ich erst nach
und nach erkannt. Wir hatten am 9. Novem-
ber 1938 die Reichspogromnacht miter-
lebt, wir haben mitbekommen, dass
Münchner Juden deportiert worden wa-
ren. Aber die Erkenntnis vom ganzen Aus-
maß dieses Menschheitsverbrechens setz-
te sich bei mir erst während der Nürnber-
ger Kriegsverbrecherprozesse durch.

Wie haben diese Erkenntnisse und Ihre Er-
fahrungen mit dem Krieg sich auf Ihr wei-
teres Leben im Frieden ausgewirkt?
Auf jeden Fall ziemlich unmittelbar. Schon
während meines Jurastudiums in Mar-
burg ab 1946 war da das Gefühl: Es genügt
nicht, auf einen Beruf hinzuarbeiten. Ich
muss mich darüber hinaus engagieren und
dazu beitragen, dass dieses so weithin zer-
störte Land wieder auf die Beine kommt.
Ich habe mir dann die Grundsatzpapiere

und die Versammlungen verschiedener
Parteien angeschaut – und mich 1949 für
die SPD entschieden.
Was hat den Ausschlag gegeben?
Ich war damals Gerichtsreferendar im
oberbayerischen Miesbach, weil dort
meine Großmutter wohnte. Eines Tages
bin ich mit dem Rad nach Rosenheim
gefahren, um eine Kundgebung vor der ers-
ten Bundestagswahl 1949 zu besuchen.
Und wer sprach? Der SPD-Vorsitzende
Kurt Schumacher. Der Mann hat mich sehr
beeindruckt: den einen Arm im Ersten
Weltkrieg verloren, einen Unterschenkel
nach zehn Jahren im KZ verloren, sein
ausdrucksstarkes Gesicht, die entschiede-
ne Art, in der er sprach... Danach bin ich
heimgeradelt und dachte mir: Diese Partei
ist die Richtige für dich. Mitglied wurde ich
dann aber erst 1950, nach meiner Disserta-
tion.
Was war denn inhaltlich der Anstoß, in die
SPD einzutreten?
Die Geschichte dieser Partei, ihr Kampf für
die Demokratie und ihr Widerstand gegen
die Nazis. Außerdem die soziale Gerechtig-
keit, die für die SPD bis heute eine entschei-
dende Rolle spielt.
Inwieweit hat das Kriegserlebnis den spä-
teren Politiker Hans-Jochen Vogel im Frie-
den geprägt?
Es spielte eine größere Rolle, nicht immer,
aber immer wieder. Zum Beispiel, als es
Mitte der Fünfzigerjahre um die Wiederbe-
waffnung der Bundesrepublik ging. Ich
war zunächst skeptisch, habe mich dann
aber doch überzeugen lassen. Und auch
während der Diskussion um den Nato-Dop-
pelbeschluss hatte ich immer vor Augen,
was Krieg konkret bedeutet ...
... zogen aber, anders als manche andere
Menschen mit ähnlichen Erfahrungen,
nicht den Schluss: „Nie wieder Krieg.“
Nein, ich bin kein Pazifist. Ein völlig unbe-
waffnetes Deutschland hätte sich mögli-
chen Angreifern ausgeliefert. Für mich
galt immer: Militärische Optionen so sorg-
fältig wie möglich prüfen und nur im äu-
ßersten Notfall zustimmen. Wenn ich mir
allerdings anschaue, welche Kriege heute
toben, oder wo die Gefahr wächst, dass aus
politischen Konflikten militärische Ausein-
andersetzungen werden ...

... dann deprimiert Sie das?
Es beunruhigt mich und zwar deswegen,
weil wir heute mit mehreren Konfliktsitua-
tionen zwischen Atommächten oder mut-
maßlichen Atommächten konfrontiert
sind: Stichwort Iran, der Kaschmirkonflikt
zwischen Indien und Pakistan, der andau-
ernde Konflikt im Nahen Osten. Und auch
der Zollkrieg der USA mit China. Deswegen
ist es umso wichtiger, der Vernunft Gehör
zu verschaffen. Und diese Chance haben
wir nur, wenn es eine Europäische Union
gibt, die handlungsfähig ist und ihrer gro-
ßen Verantwortung bei der Bewahrung des
Friedens in der Welt gerecht wird.
Sind Sie jetzt nicht zu optimistisch, was
die EU angeht? Auch sie hat mit heftigen
inneren Konflikten zu kämpfen; auch in
ihr erstarken Nationalismus und Popu-
lismus.
Das Erstarken des Nationalismus macht
mir schon allein deswegen Sorgen, weil es
Europa schwächt und damit die einzige
Möglichkeit mindert, Einfluss auf das Ge-
schehen in der Welt zu nehmen. Und der
Weg vom Nationalismus zum Populismus
ist kurz. Aber trotz aller nüchternen Analy-
se stelle auch ich mir natürlich die Frage,

warum manche Menschen glauben, dass
ihr Leben in einem Nationalstaat alter Prä-
gung einfacher und besser wäre? Ich finde
darauf keine Antwort, kann nur auf meine
Lebenserfahrung verweisen und sagen:
„Ihr seid verrückt!“
Was gehört in Ihren Augen zu einer frie-
densfördernden Politik?
Unter vielem anderen eine möglichst klei-
ne Kluft zwischen den sehr unterschiedli-
chen Lebensstandards. Schauen Sie sich
an, wie es uns in der Mitte Europas geht –
und dass ein Teil der Menschheit kaum
mehr als einen oder zwei Euro pro Tag zur
Verfügung hat. Oder dass wir die meiste
Energie verbrauchen, die Hauptlast der Kli-
makrise aber Menschen in armen Ländern
tragen. Hier die Kluften zu verkleinern wä-
re nicht nur ein Gebot der Humanität; es
würde außerdem die Fluchtursachen ver-
ringern. Und, so gut es uns hier im interna-
tionalen Vergleich geht, auch in Deutsch-
land wächst die Kluft zwischen hohen Ein-
kommen und niedrigen Löhnen, zwischen
großem Vermögen und gar keinem Vermö-
gen. Das statistische Bundesamt hat festge-
stellt, dass der Bodenwert zwischen 2011
und 2018 um mehr als eine Billion Euro
zugenommen hat. Und wem fließt das zu?
Dem obersten Zehntel zu 40 bis 50 Pro-
zent. Lässt sich das irgendwie rechtferti-
gen? Nein!
Der Zusammenhang zwischen gesell-
schaftlichem Frieden und sozialer Gerech-
tigkeit ist ein Kernthema der SPD. Aber
sie dringt damit, wie mit anderen The-
men, kaum noch durch. Wir können
Ihnen die Frage nach dem dramatischen
Zustand Ihrer Partei und den Ursachen
nicht ersparen.
Das erwarte ich auch gar nicht. Aber ich
möchte zunächst schon darauf verweisen,
dass das keine isolierte Entwicklung, son-
dern dass sie auch in anderen europäi-
schen Ländern zu beobachten ist. Trotz-
dem: Wenn etwa in München nur noch
zwölf Prozent SPD wählen, dann tut das
schon weh. Warum wir so in der Krise
sind? Eine Ursache liegt darin, dass unsere
eigenen Konzepte für die Zukunft neben
unserer Mitwirkung in der großen Koaliti-
on kaum noch sichtbar werden. Außerdem
stehen wir viel zu selten selbstbewusst zu

dem, was die SPD in dieser Regierung
durchsetzt – dabei könnten wir mit sehr gu-
tem Grund sagen: Ohne die SPD ginge es
diesem Land schlechter! Und ich vermisse,
dass wir hin und wieder auf unsere Ge-
schichte Bezug nehmen: Herrgott noch
mal! Welche Partei ist denn 156 Jahre alt?
Und welche Partei hat in dieser Zeit zu-
nächst die Demokratie erkämpft, sie dann
unter schweren Opfern verteidigt und
durch die Ostpolitik Willy Brandts den Frie-
den in Europa vorangebracht und die Vor-
aussetzungen für die deutsche Einheit ge-
schaffen? Welche denn?

Wenn die SPD in der Groko zu wenig sicht-
bar ist, müsste sie sie dann nicht verlas-
sen? Im Dezember stimmt ja der Parteitag
darüber ab.
Das hängt davon ab, zu welchem Schluss
wir kommen, wenn wir prüfen, wie die Zwi-
schenbilanz der großen Koalition aussieht
und davon, für welchen neuen Vorsitzen-
den sich die Partei demnächst entscheidet,
ob er im Bündnis mit der Union bleiben
oder es verlassen will.
Für welche neuen Vorsitzenden werden
Sie stimmen?
Das behalte ich vorerst für mich.
Sie arbeiten an einem Buch über ein The-
ma, das Sie empört, der ungerechte Um-
gang mit dem Boden. Sie sind Mitglied
einer Partei, die von Konflikten gebeutelt
wird. Der von Ihnen gegründete Verein
„Gegen Vergessen – für Demokratie“ hat
alle Hände voll damit zu tun, gegen Verro-
hung und Hass anzugehen. Ein friedlicher
Lebensabend sieht anders aus, oder?
Ja, das stimmt. Und ich bin mit Blick auf un-
sere Kinder und Enkelkinder zuweilen
schon besorgt über manche Entwicklun-
gen – einerseits. Andererseits freut es
mich, dass wir ein Land sind, in dem so vie-
le Menschen sich ehrenamtlich für das Ge-
meinwohl einsetzen. Auch das ist Friedens-
arbeit.

HANS-JOCHEN VOGEL


ÜBER


FRIEDEN


„Ich kann nur auf meine
Lebenserfahrung verweisen
und sagen: Ihr seid verrückt!“

56 GESELLSCHAFT DAS INTERVIEW Samstag/Sonntag, 31.August/1. September 2019, Nr. 201 DEFGH


Hans-Jochen Vogel, geboren 1926 in
Göttingen,begann 1943 ein Jurastudi-
um in München, ehe er sich zur Wehr-
macht meldete. Nach dem Krieg setz-
te er sein Studium in Marburg fort.
1960 wurde er Oberbürgermeister in
München. 1972 berief ihn Willy Brandt
zum Bundesbauminister, von 1974 an
war er Bundesjustizminister im Kabi-
nett Helmut Schmidt, 1981 kurz Regie-
render Bürgermeister von Berlin. 1983
trat er als SPD-Kanzlerkandidat an,
scheiterte aber. Er übernahm den Frak-
tionsvorsitz der SPD, später wurde er
auch Parteivorsitzender. 1994 verab-
schiedete er sich aus der aktiven Poli-
tik. Vogel, der 2014 seine Parkinson-Er-
krankung öffentlich machte, hat drei
Kinder, zwei Enkel und lebt mit seiner
zweiten Frau Liselotte in München.

„Ich bin mit Blick auf unsere
Kinder undEnkelkinder
zuweilen schon besorgt.“

FOTO: ALESSANDRA SCHELLNEGGER

„Neben mir, da lag ein toter
Kamerad.Diesen Anblick
werde ich nicht vergessen.“

„Er wartet schon auf Sie“, sagt die Dame am Empfang der Seniorenresidenz in München. Erschrockener


Blick auf die Uhr: Ist man zu spät? Nein. Hans-Jochen Vogels Pünktlichkeit ist legendär. Und legendär ist


auch, wie streng er sein kann, wenn andere es damit nicht so genau nehmen. Im Gespräch über den


Zweiten Weltkrieg und die Jahrzehnte danach erlebt man dann einen milde gestimmten Mann, der geduldig


auf jede Frage eingeht – auch als die vereinbarte Zeit rum ist, und seine Frau beim Mittagessen wartet


Zur Person

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