J
ust in dem Moment, in dem wir
dachten, exotische Tierhäute wären
aus der Mode, kommen zwei Da-
men zu den MTV Video Awards und
haben lebendige Schlangen um den
Körper. Den Namen der einen haben wir
vergessen, die hier nennt sich H.E.R. (für
„Having Everything Revealed“) und hat
im Februar zwei Grammys gewonnen.
Trotzdem setzte sie auf einen billigen
Showeffekt: Ein lebendes Tier als
Accessoire – Skandal. Wirklich? Da wer-
fe den ersten Stein, wer noch nie mit den
Kindern im Zirkus war. Wir beschränken
uns auf die Frage: Ist das ein guter Look?
Auf dem militärgrünen Overall mit Blu-
menmuster fühlt sich die Python zwar
farblich wohl, allerdings geht sie kom-
plett unter. Mehr Kontrast hätte das
Outfit interessanter gemacht: zum Bei-
spiel mit ein bisschen mehr Haut und
viel weniger Haar! So wirkt das ganze
nicht mutig, sondern wie Schutzklei-
dung. Britney Spears zeigte einst beim
gleichen Event, wie man mit einer
Schlange Stimmung macht: Sie kombi-
nierte ein gelbes Exemplar zu Jungle-Bi-
kini, orangegebräunter Haut und astrei-
ner Showperformance. Schlange als
Accessoire verlangt Körperspannung
und Hautkontakt. Sonst ist die Quälerei
wirklich vergebens. julia werner
D
ie Verleihung der MTV Video
Awards wirft immer mindestens
genauso viele Fragen auf, wie
Preise vergeben werden. Allen voran die,
warum der Sender das Spektakel zwar
veranstaltet, selbst aber kaum mehr
Musikvideos zeigt? Bei den Männern auf
dem roten Teppich reichte die modische
Bandbreite diesmal vom Hawaiihemd
über Smoking bis zur Jeansweste auf
nackter Brust. Der früher berühmte
Designer Marc Jacobs erschien in einem
Maßanzug von der Savile Row, der komö-
diantische Züge hatte. Die übertriebene
Schulterpartie mag noch als englische
Exzentrik durchgehen, die extremen
Hosenbeine aber sagten dem Betrachter
nichts anderes als: Marc Jacobs hat lei-
der keine Füße mehr. Als hätte sich ein
Kind in Papas Kleiderschrank verirrt! Es
ist dem britischen Traditionshaus Hunts-
man übel zu nehmen, dass es auf ameri-
kanischen Druck hin so was anfertigt.
Wankt das Empire nicht schon genug?
Hätte man den Hosenvorhang beiseite-
geschoben, wären prachtvoll pinke
Pumps von Prada zum Vorschein gekom-
men. Die gehören zur Jacobs’ Lieblings-
schuhwerk, wohl auch, weil sie ihn auf
Durchschnittsgröße verlängern. Der
Effekt wird durch die Hose leider ins
Gegenteil verkehrt. max scharnigg
von mercedes lauenstein
W
arum kann sich Arbeits-
kleidung nicht einfach
wie Yogakleidung anfüh-
len, aber trotzdem nach
Arbeitskleidung ausse-
hen? Diese Frage stellen sich jeden Tag
vermutlich Millionen Menschen: Mor-
gens vor dem Kleiderschrank, nachmit-
tags im zehnten Meeting, zwischendurch
in viel zu engen Flugzeugsitzen.
Eine von ihnen war jahrelang die ehe-
malige Investmentbankerin Joanna Dai.
Als sie eines Tages auf Dienstreise nach ei-
nem 16-Stunden-Tag im Flugzeug saß, ih-
re Anzughose ihr wieder mal in die Hüf-
ten schnitt und sie in Bluse und Blazer die
Arme kaum bewegen konnte, traf sie eine
Entscheidung: Ihren Job zu schmeißen
und ein Modelabel zu gründen, das Klei-
dung für Business-Frauen auf den Markt
bringt, die sich nicht wie eine Strafe an-
fühlt. Kleidungsstücke, die nach Autori-
tät und Stil aussehen, aber trotzdem kom-
fortabel sitzen, waschmaschinentauglich
sind und nicht gebügelt werden müssen.
Sie nannte ihr Label „Dai“, die
Entwürfe sind schlicht und
clean, extrem modern und stil-
sicher kombinierbar: Konische
Hosen, kragenlose Blazer und
kurzärmlige Etuikleider, uni-
farben oder gemustert.
Dai ist nicht die Einzige, die
nach neuen Wegen sucht, hart
arbeitenden Frauen ein für alle
Mal sinnvolle, aber seriöse Klei-
dung zu bieten. Ihr geteilter
Hass auf ungemütliche Frauen-
hosen hat auch die beiden
Freundinnen Yehua Yang und
Evelyn Frison dazu bewegt, ein
„low-maintenance“-Modela-
bel für „high-performing“
Frauen zu gründen: Pivotte.
Ebenfalls von faden Hosenan-
zügen gelangweilt stieg die
New Yorkerin Sarah LaFleur
aus der Finanzbranche aus.
Für das Bestseller-Kleid „Etsu-
ko“ ihres Labels M. M. LaFleur kam man
bis vor wenigen Monaten erst mal auf die
Warteliste – so groß war die Nachfrage.
Und die Firma Elizabeth & Clarke hat ge-
rade ihre „Unstainable Workwear Collec-
tion“ herausgebracht. Ihre Oberteile, Ho-
sen und Röcke stoßen Flüssigkeiten ab –
kein Ärger mehr mit Kaffeeflecken, Kle-
ckereien, Schwitzflecken und Babykotze.
Das klingt alles vielversprechend,
doch trotz (oder gerade aufgrund) all die-
ser Bemühungen empfinden das Thema
Businessmode viele als anstrengender
denn je. Man glaubt es dem in New York
ansässigen und von einer globalen weibli-
chen Leserschaft verehrten Modemagazin
Man Repellerjedenfalls sofort, wenn eine
Redakteurin schreibt, das von den Leserin-
nen mit Abstand meistgefragte Thema der
vergangenen Jahre sei die „Work Outfit In-
spiration“. Gleichzeitig sei diese von Seiten
der Redaktion aber auch am schwersten zu
bedienen. Denn nicht nur zwischen einzel-
nen Branchen, auch innerhalb einer
Branche sei die jeweilige Etikette zu indivi-
duell. In den Kommentaren aller Geschich-
ten, die die Website in den vergangenen
Jahren trotzdem zum Thema veröffent-
licht hat, finden sich die immer gleichen
Ausrufe: „So was kann ICH im Büro aber
nicht anziehen!“
Zwar geht seit etwa 1980 vom Silicon Val-
ley ein branchenübergreifender Trend
aus, das Berufsleben vom Dresscode zu be-
freien. Nur erreicht dieser Trend die globa-
le Arbeitswelt in völlig unterschiedlichen
Geschwindigkeiten. Einerseits gibt es sie
noch, die Firmen, in denen der Mann An-
zug und Krawatte und die Frau Hosenan-
zug oder Kostüm zu tragen hat. Anderer-
seits gelten in vielen jüngeren Unterneh-
men, zumal in solchen aus der
neuen Medien-, Tech- und Kre-
ativbranche, seit Jahren über-
haupt keine Kleidungsvor-
schriften mehr. Experten erklä-
ren diese Entwicklung oft da-
mit, dass man heute wesentlich
resultatorientierter und weni-
ger prozessorientiert arbeite.
Der Weg ist schon längst nicht
mehr das Ziel. Wie jemand aus-
sieht, während er etwas tut?
Wurscht! Hauptsache, er tut es
und ist gut darin. Es geht um Ef-
fizienz. Und im Zeitalter eines
viel beschworenen Authentizi-
tätsideals auch darum, dass je-
der einfach anziehen soll, worin
er sich gut fühlt.
Bei Linkedin, dem sozialen
Netzwerk für Beruf und Karrie-
re, heißt es in der Mail, die jeder
neue Arbeitnehmer in der Fir-
ma bekommt, zum Thema
Dresscode jedenfalls nur noch: „Im Zweifel
Jeans und T-Shirt“. Was allerdings nicht be-
deutet, dass nicht jeder Mitarbeiter auch
mindestens ein Sakko oder einen Blazer im
Schrank haben sollte. Marc Nissen, Ver-
triebsleiter bei Linkedin sagt: „Grundsätz-
lich geht es in der Begegnung mit Kunden
immer um Respekt. Während ich in unse-
rem Unternehmen gern in Vans und
T-Shirt herumlaufe und mir auch völlig
egal ist, was jemand für ein Vorstellungsge-
spräch bei Linkedin trägt, weil es mir nur
darauf ankommt, ob er oder sie seinen Job
gut machen wird, ist es völlig selbst-
verständlich, dass ich mich modisch an
mein Gegenüber anpasse, wenn ich ein
Meeting mit jemanden aus einer traditio-
nelleren Branche habe.“
Geradezu streng geht es in den meisten
Unternehmen für heutige Verhältnisse al-
lerdings schon zu, wenn der Arbeitgeber
aufbusiness casualbesteht. Dabei ist auch
dieser Code oft eher frei zu interpretieren.
Entsprechend zahlreich und verwirrend
sind die Magazinbeiträge, Stil-Guides und
Forendiskussionen, die business casual
seit seinem Entstehen in den Achtzigerjah-
ren nimmermüde einer mal mehr mal we-
niger orientierungslosen Leserschaft zu er-
klären versuchen. „Das ganze Thema Busi-
nessmode ist immer noch ungelöst“, sagt
auch die deutsche Stylistin Julia Freitag.
Freitag hat bei der Entwicklung der deut-
schenBusiness Voguemitgewirkt und be-
fasst sich als freie Stylistin und Beraterin
immer wieder mit dem Thema Business-
Dresscode. Schon vor 20 Jahren sei es kom-
pliziert gewesen. Und viel habe sich daran
nicht geändert. Einerseits habe sie als Sty-
listin oft wilde Ideen für eine zeitgenössi-
sche Businessmode-Knigge, andererseits
merke sie im Gespräch mit den Geschäfts-
frauen immer wieder, wie realitätsfern die-
se Ideen seien. Viele No-Gos würden außer-
dem unausgesprochen verhandelt: „Mode
ist immer auch Psychologie. Dresscodes
sind ein Machtinstrument. Da will man als
Arbeitnehmer nicht durch Experimente
auffallen. Man will einfach mithalten.“
Bewusst mit einem eigenen Stil aufzu-
fallen trauten sich oft nur Frauen, die be-
reits angekommen seien. Theresa May war
zum Beispiel so ein Beispiel. Die Message
ihres Stils? Bewusst exzentrisch: Ich bin
die Frau in der Männerwelt. Julia Freitag
ist grundsätzlich Fan von dem Konzept der
Uniform: „Der Uniform-Gedanke ist schon
sehr schlau. Erfolgreiche Businessfrauen
haben eine ausgeklügelte Bausatz-Garde-
robe mit verschiedenen ihrer Persönlich-
keit und ihrer Stellung entsprechenden
Keypieces.“
Oft werde Amal Clooney als Vorbild ei-
ner exzellent gekleideten Geschäftsfrau
mit guter Bausatzgarderobe genannt. Aber
ihre dürre Figur sei nicht gerade exempla-
risch für die meisten Frauen. „Frauen ha-
ben durch ihre Kurven noch viel individuel-
lere Körperformen als Männer. Allein ei-
nen guten Blazer zu finden, ist oft unglaub-
lich schwer, oft sind sie zu kurz und ma-
chen einfach keine gute Figur. So ein Teil
muss einem eigentlich auf den Leib ge-
schneidert werden.“ Freitag selbst hat zwei
Hosenanzüge von Armani. „Die sitzen na-
türlich gigantisch, aber viele Arbeitneh-
mer sind nicht bereit, für ihren Look so viel
auszugeben.“
Wie wenig die Deutschen in ihre Busi-
ness-Garderobe investieren, könne man
laut Freitag im Flugzeug beobachten. Lau-
ter schlecht sitzende Anzüge und Kostüme
an global arbeitenden Männern und Frau-
en. Das große Problem ist hier vor allem
der eingangs schon beschriebe-
ne Komfort. Strenge Anzüge
und Kostüme ignorieren die Le-
bensrealität hart arbeitender
Männer und Frauen. Auch für
Freitag sei es immer wieder
eine Herausforderung, sich ei-
nerseits gut anzuziehen, ande-
rerseits ungestört von zwicken-
den Klamotten ihrer Arbeit
nachgehen zu können. „Ich
muss immer cool aussehen, mei-
ne Klamotten müssen aber
auch etwas abkönnen. Ich habe
keine Lust mehr auf unbeque-
me Schuhe und Hosen. Ich geh
oft in die Hocke, schleppe Zeug
herum, und das geht in Desig-
nermode eigentlich überhaupt
nicht. Die ganze Zeit in Sports-
wear rumlaufen ist aber auch
keine Lösung.“
Tatsächlich waren Jogging-
hose und Sneaker nicht nur
dank Silicon Valley, sondern auch aufgrund
des Sportswear-Trends in der High-Fa-
shion in den vergangenen Jahren omniprä-
sent. Selbst Manager aus der Automobil-
branche wie der ehemalige Daimler-Chef
Dieter Zetsche oder Allianz-Oberhaupt Oli-
ver Bäte haben sich zu offiziellen Anlässen
demonstrativ in Turnschuhen gezeigt.
Aber ist ein ewiges Leben auf Jogginganzug-
Ebene für das eigene Selbstwertgefühl
denn wirklich so erstrebenswert? Es geht
bei Mode schließlich immer auch darum,
sich selbst Form zu geben. Sich durch eine
Haltung in eine Stimmungzu versetzen:
Vom verschlafenen Morgen-Ich ins profes-
sionelle Arbeits-Ich zu wechseln. Sich
durch seriöse Kleidung Seriosität zu verlei-
hen. Stichwort: Power-Dressing.
Möglicherweise sollte man sich auch ein-
fach nur mal wieder fragen, warum das
Wort „Verkleidung“ eigentlich so einen
schlechten Ruf hat. Verkleiden macht
Spaß und gehört zum Leben. „Wir alle spie-
len Theater“ heißt ein Buch des Soziologen
Erving Goffman, und es erklärt, was An-
hängern des sogenannten Authentizitäts-
ideals vermutlich gar nicht gefällt: dass
menschliche Interaktionen grundsätzlich
Schauspiele sind und Authentizität höchs-
tens bedeuten kann, unsere jeweilige Rolle
überzeugend zu spielen. Die Rollenuni-
form für Apple-Gründer und Visionär
Steve Jobs waren der schwarze Rollkragen-
pulli, Jeans und Turnschuhe. Mark Zucker-
berg ist dafür bekannt, ausschließlich grau-
es T-Shirt und den dunkelblauen Zipper-
Hoodie zu tragen. Auch Karl Lagerfeld klei-
dete sich in der Öffentlichkeit immer
gleich, genauso Barack Obama. Das Prin-
zip dahinter: Erstens nicht jeden Tag aufs
Neue viel Zeit damit verschwenden müs-
sen, wie man aussieht. Zwei-
tens: Sich durch einen unver-
wechselbaren Look eine eigene
Marke schaffen. Die eigene Rol-
le unterstreichen. Bis in die
Neunzigerjahre hinein war es
noch selbstverständlich, sich an-
lassbezogen zu kleiden und so
die vielen unterschiedlichen Rol-
len des eigenen Lebens modisch
zu verstärken. Um sich und an-
deren klarzumachen, welches
Stück gerade aufgeführt wird.
Und sich und andere zu schüt-
zen. Vor Grenzüberschreitun-
gen. Vor Themaverfehlung.
Arbeitskleidung ist also im-
mer auch Schutzkleidung. So,
wie der Feuerwehrmann
schlecht beraten ist, im Polyes-
teranzug ins brennende Famili-
enhaus zu rennen, und es dem
Manager eines Unternehmens
aus Autoritätsgründen hilft,
sich modisch von seinen Angestellten abzu-
heben, geht es auch dem Freelancer im
Home-Office auf Dauer besser, wenn er
morgens duscht und sich etwas anzieht,
das ihm eine gewisse Haltung verleiht, be-
vor er sich an den Schreibtisch setzt. Denn
der ist ja meistens auch nur das mit einer
seriösen Tagesdecke verkleidete Bett.
Die Drehbuchautorin Anika Decker übri-
gens zieht sich zum Arbeiten im Home-Of-
fice grundsätzlich seidene 500-Euro-
Schlafanzüge von Olivia von Halle an. Auch
das kann eine angemessene Arbeitsuni-
form sein.
Für sie: Python
vor Blume
Für ihn:
So viel Hose
FOTO: REUTERS, GETTY IMAGES
LADIES & GENTLEMEN
In jeder
Branche
gelten
völlig
andere
Regeln,
was man
tragen darf
Dress
for
success
Zu lässig, zu unbequem,
zu spießig? Noch nie war es
so kompliziert wie heute,
das richtige Outfit fürs Büro
zu finden. Klar ist nur eines:
Es ist nicht egal, was man trägt
Sich
morgens
schick zu
machen ist
wichtig,
um das
Büro-Ich
zu wecken
DEFGH Nr. 201, Samstag/Sonntag, 31. August/1. September 2019 57
STIL
Wer den ganzen Tag
am Schreibtischsitzt,
ist froh, wenn die Hose
nicht einschneidet und
die Bluse nicht knittert.
Das Label Dai ist spezi-
alisiert auf bequeme
Business-Mode (l.), das
Kleid von M.M. LaFleur
(M.) ist so beliebt, dass
es dafür eine Zeit lang
eine Warteliste gab.
Wer im Home-Office
arbeitet, kann das auch
im Schlafanzug tun, am
besten in einem aus
Seide wie dem von
Olivia von Halle (r.).
FOTOS: HERSTELLER
Selten ist Design so menschen-
feindlichwie bei Handtrocknern
und Seifenspendern Seite 59
Luftnummer