von wolfgang görl
G
eorg Maier war im München
der Biedermeierzeit eine stadt-
bekannte Figur, allerdings ei-
ne, die vermutlich weniger Be-
wunderung als Spott, Hohn
oder bestenfalls Mitleid erregte. Die
Münchner nannten ihn den „Ewigen Hoch-
zeiter“, und als solcher hat er es posthum
immerhin geschafft, als kleine Steinskulp-
tur einen Platz am Torbogen des Karlstors
zu ergattern, wo auch andere städtische
Originale verewigt sind. Es passt zum tragi-
schen Leben dieses Mannes, dass er den
Platz eines Tages räumen musste zuguns-
ten des Pferdehändlers Franz Xaxer
Krenkl, der den unsterblichen Satz „Majes-
tät, wer ko, der ko!“ erfunden hat.
Maier war von der Natur nicht gerade
begünstigt, er kam krumm, vielleicht so-
gar bucklig daher, und auch sonst war er
recht wunderlich, so dass man eine psychi-
sche Krankheit vermuten kann. Er hat
Säckler gelernt, also die Fertigkeit, Klei-
dung aus Leder zu schneidern, aber wegen
seiner psychischen Probleme musste er
den Beruf aufgeben. In puncto Amore aber
schien ihm das Glück hold zu sein, er hatte
eine Frau gefunden, und die Hochzeit
stand bevor. Doch einen Tag vor dem Ja-
wort machte sich die Dame aus dem
Staub, und Maier stand da, verlassen und
verzweifelt. Seitdem sahen ihn die Münch-
ner nur noch in seinem Hochzeitsgewand:
hellblauer Frack mit goldenen Knöpfen,
Blümchen im Knopfloch, Zylinder, Hand-
schuhe und Stöckchen. Damit trottete er
durch die Stadt und fragte jeden: „Ham S’
mei Nanni net gsehn? Morgen is Hochzeit.“
Später hat er jeder hübschen Frau, die ihm
begegnete, einen Antrag gemacht – form-
vollendet mit einem Blumenstrauß. Er-
hört worden ist er nie. Maier, der als
Pfründner im Gasteig-Spital wohnte,
starb ledig am 25. Mai 1840.
Die Geschichte des Ewigen Hochzeiters
Georg Maier – andere Quellen behaupten,
sein Name sei Andreas Mägerlein gewesen
- ist in dem soeben erschienenen Buch
„Münchner Originale“ zu lesen, das der
Journalist Karl Stankiewitz geschrieben
hat. Stankiewitz erzählt mehr oder weni-
ger knapp die Lebensgeschichten dieser
Originale, von denen einige wenige noch
heute bekannt sind, wohingegen die meis-
ten vergessen oder nur noch älteren
Münchnern vertraut sind. Die Biografien
des Rosshändlers Krenkls, des Wiesnwirts
Michael Schottenhamel, des Steyrer-
Hans, der Hochstaplerin Adele Spitzeder
oder des „Kohlrabiapostels“ Karl Wilhelm
Diefenbach sind gut dokumentiert,
schwierig aber wird es, wenn man den Le-
bensweg des ersten Münchner Hochrad-
fahrers Josef Stängl oder des Hausierers
Anton Heinz, genannt „Zwickermann“,
nachzeichnen will. In Einzelfällen musste
dabei auch der erfahrene Journalist Stan-
kiewitz kapitulieren.
Was das Buch aber vor allem auszeich-
net, sind die Fotografien. Diese Bilder hat
Karl Valentin gesammelt, der ja stets be-
müht war, Fotos, Postkarten und andere
Abbildungen zu ergattern, auf denen Mün-
chen, seine Häuser, Straßen und Plätze zu
sehen waren, aber auch die Menschen, die
in der Stadt lebten und insbesondere die
Münchner Originale. Michael Stephan,
der Direktor des Stadtarchivs, schreibt in
seinem Vorwort: „Valentins Sammlung
war aber nicht Selbstzweck, immer ver-
suchte er auch mit Lichtbildervorträgen
und kleinen Ausstellungen bei der Münch-
ner Bevölkerung ein Bewusstsein für die
Welt von gestern zu schaffen.“
Mitte der 1930er-Jahre dachte Valentin
daran, seine Fotoschätze in eine öffentli-
che Sammlung zu integrieren. Dazu legte
er ein Verzeichnis an, das einen guten
Überblick über den beeindruckenden Um-
fang seiner Fotokollektion bietet. Unter an-
derem besaß er 1225 Originalfotografien
von Volkssängern und Volkssänger-Gesell-
schaften, er hatte Bilder von sämtlichen
Münchner Vergnügungsstätten, zudem Fo-
tos, Glas-Diapositive und Stereoskopbil-
der mit Ansichten des alten Münchens,
Kitsch- und Ansichtspostkarten allerart,
darunter solche, die König Ludwig II. feier-
ten, und schließlich verfügte der Komiker
über eine Sammlung von Porträts Münch-
ner Originale vom 17. Jahrhundert bis zur
Gegenwart. Einen Großteil der Kollektion
hat er 1939 für 20 000 Reichsmark an das
Stadtarchiv verkauft. Heute besitzt das Ar-
chiv insgesamt 2313 Fotos und Postkar-
ten, die Valentin zu Lebzeiten zusammen-
getragen hat.
Stankiewitz’ Texte ranken sich gewis-
sermaßen um 75 Glasdiapositive, die Va-
lentin gesammelt und bei seinen Lichtbil-
dervorträgen gezeigt hat. Ob jeder dieser
Gaudiburschen, Kraftlackln, Schausteller,
Musiker, Spinner, Käuze und Sonderlinge
wirklich den Ehrentitel „Original“ ver-
dient, ist gewiss Ansichtssache. Einige von
ihnen, wie etwa der Hotelier Gregor Tref-
ler oder der Großgastronom Georg Lang,
würde man eher als gewöhnliche Promi-
nente klassifizieren, denen die immer
auch etwas volkstümlich-skurrile Aura,
die ein Original umflort, vermutlich ab-
ging. Aber das kann man so oder auch an-
ders sehen, entscheidend ist ja, wen Karl
Valentin als Original betrachtet hat, und
da gehören die zwei nun einmal dazu.
Der vielleicht größte Wert dieses wun-
derbaren Buches ist ohnehin ein anderer:
Es vergegenwärtigt eine Welt, die längst
versunken ist, das alte München mit sei-
nen Gassen, Winkeln und verschnarchten
Ecken, eine Welt, die noch überschaubar
war und in der man sich kannte, in der die
Leute in Wirtshäusern und Hinterhöfen zu-
sammenkamen und darüber plauderten
und lästerten, was in der Stadt, die man als
einen kleinen Kosmos betrachtete, gerade
passiert war. Spinner, Halbverrückte und
Außenseiter gehörten zum Stadtbild, man
lebte mit ihnen und lachte über sie, was
für die Betroffenen nicht unbedingt lustig
war. Heute würde sich wahrscheinlich ir-
gendeine Fürsorge-Institution um diese
Schicksalsgestalten kümmern, was einer-
seits ein Fortschritt ist, andererseits aber
auch zeigt, dass die Gesellschaft jeden, der
nicht der Norm entspricht, vorzugsweise
der Betreuung durch Experten überant-
wortet.
Die Lebensgeschichten, die Stankiewitz
erzählt, fügen sich wie ein Mosaik zu ei-
nem Bild, auf dem die Spitzen der Gesell-
schaft ebenso zu sehen sind wie die Ge-
strandeten und Verkommenen. Der 1745
in München geborene Georg Pranger et-
wa, der den bayerischen Herrschern dien-
te, gehört gewiss zu den Privilegierten. Er
wirkte als angesehener Kammermusiker
im Hoforchester, vor allem aber fungierte
er als Hofnarr, als letzter seiner Art in Bay-
ern. Seine derben Scherze machten ihn
auch bei den Bürgern populär, und seinem
Amt entsprechend schreckte der „Pran-
gerl“, wie ihn die Münchner nannten, auch
nicht davor zurück, König Max I. Joseph
oder dessen Gemahlin Karoline zum Nar-
ren zu halten.
Auf der anderen Seite sind da die beina-
he dörflich anmutenden Figuren aus dem
Kleine-Leute-Milieu, deren Biografien
Stankiewitz mitunter nur bruchstückhaft
oder gar nicht rekonstruieren konnte: Xa-
ver Mayer etwa, der Stiefelputzer vom
Karlstor; Josef Robl, der fahrende Sägfei-
ler von der Au, oder Eduard Bachmayer,
der „Rahmerlmo“. Welch großartige Käu-
ze lebten einstmals in der Stadt: Der „Hof-
bräuhaus-Lenbach“, das „Trambahnpfei-
ferl“, der „Pfui-Teifi-Professor“, der „Was-
serbeschwörer“, die „Mina-Hupf“, der „Bal-
sam-Bene“ und so weiter. Viele von ihnen,
wenn nicht die meisten, waren arme Teu-
fel, manche wurden verspottet, andere be-
lächelt, und doch, so scheint es, gehörten
sie dazu, waren nicht nur geduldet, son-
dern oft auch beliebt, und in der Regel war
ihr absonderliches Treiben die Basis ihres
Lebensunterhalts.
Es ist Karl Valentins Verdienst, der Nach-
welt eine Bildergalerie überliefert zu ha-
ben, die zeigt, was für unterschiedliche
und originelle Menschen im alten Mün-
chen gelebt haben. Und Karl Stankiewitz’
Verdienst ist es, dass diese Fotos nun in ei-
nem Buch zu bewundern sind, versehen
mit der Lebensgeschichte der Porträtier-
ten. Die einen waren erfolgreich, die ande-
ren sind gescheitert, was sie aber verbin-
det, ist die Konsequenz, mit der sie, wie
man heute sagt, ihr Ding gemacht haben –
egal, was die Leute dazu sagten.
Karl Stankiewitz: Münchner Originale. Fotografien
aus der Sammlung Karl Valentin im Stadtarchiv
München.AlliteraVerlag, 288 Seiten mit vielen Bil-
dern, 24,90 Euro.
Sein Theater in der Blumenstraße gibt es heute
noch, überdem säulenbestückten Portal steht in
goldenen Lettern „Marionettentheater“. Das von Theodor Fischer um die Jahrhun-
dertwende errichtete Gebäude war die Wirkungsstätte von Josef Leonhard Schmid,
den die Münchner liebevoll „Papa Schmid“ nannten. Als junger Mann war Schmid,
geboren 1822 in Amberg, nach München gekommen, wo er sich als Tagelöhner her-
umschlug. Nebenher bastelte er Krippen- und Kasperlfiguren, und im Dezember
1858 eröffnete er sein Marionettentheater, das zunächst in verschiedenen Veranstal-
tungssälen und Wirtshäusern gastierte. Sein Hausautor war der Hofbeamte Franz
Graf von Pocci, der „Kasperlgraf“. Papa Schmid führte das Theater bis kurz vor sei-
nem Tod am 31. Dezember 1912. FOTO: STADTARCHIV MÜNCHEN, DE-1992-FS-NL-KV-2293
Von Mittag bis Mitternacht stand Heinrich Haas mit
seinem selbstgebastelten Fernrohr am Stachus, wo
er jedermann gegen eine kleine Gebühr die Gelegenheit gab, etwa Sonnenflecken zu
beobachten oder in den Mond zu schauen. Haas, geboren 1874, war gelernter Opti-
ker, war aber auch astronomisch bestens bewandert, sodass seine Kunden beim
Blick ins Fernrohr ein sachkundiges Referat erhielten. Karl Valentin sagte in seinen
Vorträgen über Haas: „Er war der erste ,Gell-Sager‘ in München. Wer um 10 Pfennig
in sein Fernrohr hineinsah, dem gab er die astronomische Erklärung: ‚Hier sehen Sie
den Mond – gell! –, die weiße Scheibe um den Mond ist der Hof des Mondes – gell!‘“
Heinrich Haas, der „Fernrohrmann vom Stachus“, starb 1929 und wurde auf dem
Waldfriedhof bestattet. FOTO: STADTARCHIV MÜNCHEN, DE-1992-FS-NL-KV-2250
Der Schriftsteller Frank Wedekind war so
begeistert von ihr, dass er in einem Ge-
dicht schrieb: „Von vorn besehen bist du die schönste Maid, die je mein Herz aus Lie-
besnot befreit.“ Die „schönste Maid“ hieß Mary Irber, war im Juni 1884 im niederbay-
erischen Langenisarhofen auf die Welt gekommen und stand bereits mit zehn Jah-
ren im Ballett des „Deutschen Theaters“ auf der Bühne. Es dauerte noch ein paar Jah-
re, dann trat sie in Münchens Kabaretts und Vergnügungspalästen auf, unter ande-
rem bei den „Elf Scharfrichtern“. Die Polizei protokollierte akribisch ihr Auftreten:
„Beine frei bis weit übers Knie, sehr kurzer Rock, den sie beim Singen hinten hoch-
hebt, wobei sie sich wie beim Geschlechtsakt bewegt.“ Es versteht sich von selbst,
dass ihr die Männer reihenweise verfielen. FOTO: STADTARCHIV MÜNCHEN, DE-1992-FS-NL-KV-1934
Kaspar Hofmann war der auffälligste
Breznverkäufer im München der 1920er-
Jahre. Aufgebrezelt hatte er sich wie ein
Operetten-Offizier: Weiße Uniformja-
cke, Schärpe, Handschuhe, goldener Or-
den und riesige Epauletten, dazu eine
Kette aus kleinen Brezn. Auf seiner Re-
klamepostkarte, die der Mann natürlich
auch hatte, stand der Spruch: „Alles Gu-
te in großer Zahl, wünscht Dir der Bre-
zen-General“. Den Münchnern gefiel es
offenbar, ihre Brezn bei einem Händler
zu kaufen, der seine Ware mit dem Ruf
anpries: „Parrrrade-Brrrretzn gefällig?“
Hofmanns Brezn gingen weg wie warme
Semmeln. Der Mann gelangte zu be-
trächtlichem Wohlstand, der aber nicht
lange anhielt. Die Inflation 1923 brachte
den Brezen-General um sein Vermögen.
FOTO: STADTARCHIV MÜNCHEN, DE-1992-FS-NL-KV-2280
Der Ferngucker
Der Puppen-Papa
Münchens berühmtester Wurzelsepp
war wohl der 1830 in Trautenberg in der
Oberpfalz geborene Josef Neumeier. Er
hatte mehr als 35 Jahre lang einen
höchst beliebten Stand auf dem Oktober-
fest, wo er selbst gebrannten, scharfen
Enzianschnaps ausschenkte – angeblich
immer im selben unausgespülten Stam-
perl. Einmal, so wird erzählt, hat er der
Dame eines Offiziers, die den dreisten
Wunsch geäußert hatte, ein frisch ge-
spültes Schnapsglas zu bekommen, mit
den Worten „Do hoscht dei Gwasch“ ei-
nen vollen Kübel Wasser über den Kopf
geschüttet. Just solche Grobheiten mach-
ten den Wurzelsepp populär. Außerhalb
der Wiesnsaison verkaufte Josef Neu-
meier sein hochprozentiges Gebräu in
Steingutflaschen in der Stadt.
FOTO: STADTARCHIV MÜNCHEN, DE-1992-FS-NL-KV-2310
Thekla Foag, Jahrgang 1868, hatte in ei-
nem Hausdurchgang in der Blumenstra-
ße einen kleinen Laden für „Schlüssel,
Altmetalle und Tandlerei“. Zahllose
Schlüssel hingen an der Flügeltür, auch
der winzige Geschäftsraum war vollge-
stellt wie eine Rumpelkammer mit „ver-
rostetem Gelump“ (Karl Valentin). Wer
auch immer in München einen Schlüssel
verloren hatte, bei Thekla Foag fand er
Ersatz. Und wenn der neue Schlüssel
nicht ganz exakt ins Schloss passte, griff
sie zur Feile und machte ihn passend.
Für diese Art von Service verlangte sie
normalerweise 20 Pfennige. Thekla Fo-
ag, „das Schlüsselfräulein“, war die Toch-
ter eines Münchner Schlossers. Geheira-
tet hat sie nie, obwohl sie als Hausbesitze-
rin eine gute Partie gewesen wäre.
FOTO: STADTARCHIV MÜNCHEN, DE-1992-FS-NL-KV-2292
Viele waren arme Teufel,
manche wurden verspottet.
Und doch gehörten sie dazu,
waren nicht nur geduldet,
sondern oft auch beliebt
Die Unwiderstehliche
Kolossale
Käuze
Ein neues Buch – „Münchner Originale“ –
stellt mit wunderbaren Fotografien
die Lebensgeschichten von Menschen vor,
die das Bild der Stadt einst prägten
Der fesche
Brezen-General
Der Wurzelsepp
aus derOberpfalz
Die Herrin
der Schlösser
„Ham S’ mei Nanni net gsehn?“ Der „Ewige Hochzeiter“, hier ein abfotografiertes
Ölgemälde vonJosef Widmann. FOTO: STADTARCHIV MÜNCHEN, DE-1992-FS-NL-KV-2248
MÜNCHNER SEITEN
R2 MÜNCHEN – Nr. 201, Samstag/Sonntag, 31. August/1. September 2019 DEFGH