Der Spiegel - 24.08.2019

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Es wurde nach neuen Argumenten gesucht. Aber es fand
sich keins von dieser Dringlichkeit.
Da der Schock nachgelassen hatte, konnte die nationale
Idee neuen Raum gewinnen. Der Historiker Dieter Lange-
wiesche hat in seinem Buch »Der gewaltsame Lehrer«
beschrieben, was die Hauptgründe für Kriege im Europa
der Neuzeit waren. Einer ist die Bildung der National -
staaten, im 19. Jahrhundert zum Beispiel in Griechenland,
Italien, Deutschland. »Ohne Krieg keine Nation, ohne
Krieg kein Nationalstaat«, schreibt Langewiesche.
Selbst nach dem traumatischen Zweiten Weltkrieg
konnte die nationale Frage in Europa Kriege auslösen, als
sich der Vielvölkerstaat Jugoslawien in Nationalstaaten
aufteilte. Für andere Länder hatte schon der Weltkrieg
weitgehend Klärung gebracht, da eine seiner Folgen »eth-
nische Säuberungen« waren. Das war mit dem Leid von
Millionen verbunden, begünstigte aber den langen Frie-
den in Europa.
Das ist das schwer Erträgliche einer solchen Betrach-
tung. Der Horror kann für nachfolgende Generationen
positive Folgen haben. Was nicht heißt, dass der hohe
Preis gerechtfertigt war. Man weiß eben nicht, wie die
Geschichte ohne den Zweiten Weltkrieg verlaufen wäre.
Im Europa von heute spielt Nationenbildung kaum
eine Rolle, außer als Wunsch von Separatisten, zum Bei-
spiel in Katalonien oder Flandern. Die Ukraine ist in West
und Ost gespalten, was sich Russland zunutze macht.
Hier mischen sich Krieg und Bürgerkrieg, aber es ist
gelungen, diesen Konflikt einzuhegen. Auch Revanchis-
mus spielt in Europa bislang keine Rolle. Die Grenzen
werden kaum infrage gestellt.
Gleichwohl, die nationale Idee, die für so viele Kriege
verantwortlich ist, befindet sich auf dem Vormarsch.
Während der Eurokrise erlitt der europäische Solidaritäts-

gedanke schwere Einbußen,
genauso beim Thema Flüchtlinge.
Nicht die Grenzen werden hinter-
fragt, sondern die Offenheit
der Grenzen. Und die Briten wol-
len gar wieder ganz für sich sein,
der Brexit ist ein nationalistisches
Projekt.
Als einen weiteren Kriegstreiber
in Europa nennt Langewiesche
die Revolutionen. Nach dem Auf-
stand von 1789 führte die franzö -
sische Revolutionsregierung einen
Bürgerkrieg nach innen und
Kriege gegen die Nachbarn nach
außen. Erst nach Napoleons
Nieder lage bei Waterloo 1815 und
dem Wiener Kongress kam der
Kontinent zur Ruhe. Auch der Rus-
sischen Revolution von 1917 folgte
ein langer Bürgerkrieg, in den sich
andere Staaten einmischten.

W


ie ist es jetzt? Nach
Revolutionen im Sinne
von gewaltsamen Sys-
temveränderungen
sieht es wahrlich nicht aus. Aber
die liberale Demokratie, die ein-
mal zum europäischen Konsens zu
gehören schien, steht unter Druck.
In Ungarn gibt es sie derzeit nicht, kaum noch in Polen, in
Italien ist sie bedroht, und in vielen anderen Staaten sind
rechtspopulistische Parteien zur Herausforderung für das
System geworden.
Innerhalb der Europäischen Union gibt es erste Anzei-
chen einer Systemkonkurrenz, liberal-demokratisch
gegen autoritär. Auch Systemkonkurrenzen haben Kriege
begünstigt, Monarchien gegen Demokratien, Faschismus
gegen Demokratie, Faschismus gegen Sozialismus. Im
Kalten Krieg standen sich Sozialismus und demokrati-
scher Kapitalismus gegenüber und ließen Stellvertreter-
kriege in Entwicklungsländern führen.
Bislang gilt die Regel, dass Demokratien keine Kriege
gegeneinander führen. Auch das schützt den europäischen
Frieden. Ein düsteres Zukunftsszenario könnte jedoch so
aussehen: Ein autoritär regierter Staat in Europa verbün-
det sich mit China, das sich als dessen Schutzmacht ver-
steht. Die Regel würde nicht mehr greifen.
All das ist weit weg. Aber nachlassender Schock, die
Rückkehr des Nationalgedankens, die innere Bedrohung
der liberalen Demokratien, die Möglichkeiten einer Sys-
temkonkurrenz in Europa – das sind vier Parameter, die
Kriege tendenziell begünstigen. Die Schnecke kriecht in
die falsche Richtung. Sie zu stoppen wird wieder zum
Auftrag in Europa. Erinnerung an das, was so schrecklich
war, ist dabei der erste Schritt.

DMITRI BALTERMANTS

Angehörige bei der Identifizierung der Leichen russischer Gefallener auf der Krim 1942


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