Der Spiegel - 24.08.2019

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Deutschland

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D


er Krieg änderte alles.« In diesem Satz des briti-
schen Historikers Tony Judt steckt der Keim des
modernen Europa. Es war der Krieg, der einen
langen Frieden möglich gemacht hat. Es musste
sehr, sehr schlimm kommen, damit es gut werden konnte.
Seit fast 75 Jahren schweigen auf dem Kontinent die Waf-
fen, mit wenigen Ausnahmen.
Nun steckt dieses Europa in der Krise. Es ist nicht
mehr das Europa, in dem die Bedeutung der Nationen
allmählich schwindet. Es ist nicht mehr das Europa, das
Schritt für Schritt zusammenwächst. Es ist nicht mehr das
Europa, in dem die Staaten für alle Zeiten demokratisch
verfasst zu sein scheinen. Der Richtungspfeil der euro -
päischen Geschichte hat sich gedreht, weg vom Zusam-
menwachsen, zurück zur Abgrenzung.
Was heißt das für die wichtigste aller Fragen, die von
Krieg und Frieden? Im Moment sieht es überhaupt nicht
nach einem Ende der langen Friedensphase aus. Es gibt
keinen Grund, Alarmstimmung zu verbreiten. Doch
wenn sich der Geschichtspfeil dreht, wenn die falsche
Richtung eingeschlagen wird, sollte
man genau hinschauen, wohin das
führen könnte. Nicht in absehbarer
Zeit, aber langfristig. Geschichte ist
eine Schnecke, die beharrlich ihren
Weg verfolgt.
Vor genau 80 Jahren begann der
Krieg, der alles änderte, am 1. Septem-
ber 1939, als Adolf Hitlers Deutsch-
land die polnischen Nachbarn überfiel.
Fast sechs Jahre später waren
weltweit mehr als 60 Millionen Menschen an den Folgen
dieses Krieges gestorben. Große Teile des Kontinents
waren verwüstet, viele Europäer vertrieben, verarmt,
unter Schock.
Dies war eine Stunde null, in der sich der Geschichts-
pfeil drehte, damals in die richtige Richtung. In Europa
wurde mit der alten Zwangsläufigkeit gebrochen, dass
Rivalität irgendwann Krieg bedeutet.
Ein wesentlicher Grund war der Schock. Einen totalen
Krieg dieser Größenordnung hatte es bis dahin nicht gege-
ben. Nach dem Wiener Kongress von 1814/15 hatten sich
die Großmächte darum bemüht, ihre Kriege einzuhegen,
sie regional zu begrenzen, sie auf Schlachten von Solda-
ten zu beschränken. Die Zahl der zivilen Opfer blieb rela-
tiv niedrig, Städte wurden weitgehend verschont. Das
gelang zum Beispiel bei den drei Kriegen, die in die erste

deutsche Einheit mündeten, gegen Dänemark, Österreich-
Ungarn und, mit Einschränkungen, Frankreich. Danach
bemühte sich Reichskanzler Otto von Bismarck um einen
Ausgleich der Großmächte. Als er 1890 abdanken musste,
wurde die Richtung geändert. Man lebte die Rivalität aus,
steuerte auf einen großen Krieg zu.
Der kam 1914 und forderte rund 15 Millionen Tote.
Aber die Kriegshandlungen beschränkten sich weitgehend
auf die Frontabschnitte, die komplett verwüstet wurden,
vor allem im Osten von Frankreich und in Belgien. Die
Zivilbevölkerung litt unter Verknappung und Hunger,
aber die meisten Städte blieben unzerstört. Deutschland
sah nach dem Ende der Kampfhandlungen am 11. Novem-
ber 1918 so aus wie vor dem Krieg.
Der Schock war nicht groß genug. Nur 21 Jahre nach
dem Ende des Ersten Weltkriegs brach der Zweite aus, und
alle Schranken fielen. Am 6. und 9. August 1945 zerstörten
amerikanische Atombomben die japanischen Städte Hiro-
shima und Nagasaki. Größer konnte der Schock nicht sein.
Die westeuropäischen Politiker der Nachkriegszeit
zogen daraus die richtige Konsequenz. Da nationale Riva-
litäten die beiden Weltkriege ausgelöst hatten, musste
ihnen der Nährboden entzogen werden. Die Deutschen
brauchten in den Augen der Nachbarn eine Einhegung,
Einbindung, weil sich Nationalismus dort besonders
aggressiv geäußert hatte. Das traf auf eine bundesdeut-
sche Stimmung, die gemischt war aus Resignation, Ein-
schüchterung und Scham wegen der Schuld am Krieg und
am Holocaust.
Im Westen konnte Europa daher langsam zusammen-
wachsen. Um den Frieden zu erhalten, wurde der Osten
der Sowjetunion überlassen. Sie etablierte dort unter
brutalem Zwang sozialistische Parteidiktaturen. Der Kalte
Krieg brach aus, die Macht- und Systemrivalität von
Sowjetunion und USA mit den jeweiligen Verbündeten.
Doch der Schock des Zweiten Weltkriegs und die
Angst vor der nuklearen Eskalation sicherten den Frieden
auf dem Kontinent – bis heute.
Gleichwohl zogen europäische Soldaten in Kriege.
Frankreich kämpfte um seine Kolonien in Algerien und
Vietnam, Großbritannien verteidigte die Falkland-Inseln
gegen Argentinien im Südatlantik. Beide Mächte zogen
mit den US-Amerikanern in diverse Kriege, auch Italie-
ner, Spanier, Deutsche, die vor allem in Afghanistan.
Der Schock reichte nicht, um den Krieg ganz zu ban-
nen. Aber er half dabei, die Konflikte einzuhegen,
regional zu begrenzen. Dafür sorgte auch eine Öffent -
lichkeit, die zu einem Teil pazifistisch gesinnt ist und
darauf drängt, Soldaten nach Hause zu holen, stark in
Deutschland, aber auch in den USA. Bis zum Zweiten
Weltkrieg waren Gesellschaften euphorischer, wenn es
um Kriege ging.

Z


udem bestimmten bis weit in die Neunzigerjahre
hinein Männer und Frauen die Politik, die den
Zweiten Weltkrieg selbst erlebt hatten. Ein »Nie
wieder«, das aus dem eigenen Erleben kam,
prägte die deutschen Bundeskanzler bis Helmut Kohl,
die französischen Präsidenten bis Jacques Chirac.
Dass das europäische Projekt an Schwung verlor, hat auch
mit ihrem Abtreten zu tun.
Zeitzeugenschaft verblasste mit den Jahren, verlor
an Einfluss. In den Nullerjahren schien der ewige Friede
in Europa so gewiss, dass die Friedensidee nicht mehr
ausreichte, um eine Vertiefung Europas zu begründen.

Dirk Kurbjuweit


Der falsche Weg


der Schnecke


EssaySeit dem Zweiten Weltkrieg ist Europa


weitgehend friedlich, so sehr standen die Nationen


unter Schock. Doch mit der verblassenden


Erinnerung wächst die Gefahr für neue Konflikte.


Die nationale Idee,


die für so viele Kriege


verantwortlich war,


befindet sich auf dem


Vormarsch.


DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019
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