Der Spiegel - 24.08.2019

(backadmin) #1

D


ie Anfrage kam per Mail in die
Redaktion: Meine Mandanten
baten mich, mit Ihnen Kontakt
aufzunehmen. Sie haben das Ge-
fühl, etwas tun zu müssen. Sie machten bei
schönem Wetter mit ihren Söhnen (9 und
7 Jahre) eine Radtour in Lippe. Auf einer
Landstraße kam von hinten eine 85-jährige
Frau mit ihrem Auto und fuhr in das Fahr-
rad des 9-jährigen Sohnes. Trotz Helm erlitt
er so schwere Verletzungen, dass er in den
Armen der Eltern und des Bruders an der
Unfallstelle verstarb. Wenn Sie an einer Be-
richterstattung Interesse haben, bitte ich
um zeitnahe Rückmeldung. Mit freundli-
chen Grüßen, Dr. André Pott, Fachanwalt
für Verkehrsrecht.
Ein Fachwerkhaus bei Detmold, West-
falen, im Garten blühen Flieder, Päonien,
Rosen, Nelken. In der Diele brennen Ker-
zen, steht ein Foto von Julian, darunter
eine Kiste aus Holz, in die sein Bruder Stei-
ne legt, von denen er denkt, dass sie Julian
gefallen würden. Ein Stein ist grau und
klumpig und sieht aus wie ein Dino-Fuß.
Die Mutter bittet an den Küchentisch.
Der Vater macht italienischen Espresso.
An der Wand hängen gemalte Bilder, ein
Schneemann mit Skateboard.
»Morgen sind es 30 Wochen«, sagt die
Mutter, Sabine. Sie trägt einen langen
dunklen Zopf und um den Hals einen Ga-
gat, einen schwarzen Stein, der bei Trauer
hilft, und einen Roh-Rubin für mehr Kraft.
Sie legt Fotos auf den Tisch. Korsika, die
Jungs holen Baguette. Sevilla. Julian
taucht. Julian mit den Enten im Garten.
Julians neunter Geburtstag.
Auf dem Bild steht er lachend da mit sei-
nem Geschenk, einem neuen Fahrrad, weiß
und blau, Conway-Jugendfahrrad, Modell
AC 200. Er trägt einen weißen Helm.
Sein Geburtstag war am 1. Oktober,
acht Tage vor dem Unfall.
Julian wurde in Rom geboren, in einer
langen Geburt unter viel Geschrei, erin-
nert sich die Mutter. Als er da war, schaute
sie ihn an und wusste, dass ein Kind nur
ein Geschenk ist. Zum Glück, sagt sie,
habe sie es ihm oft gesagt: »Danke, dass
du bei uns bist.«
Sie stammt aus der Nähe von Trier, stu-
dierte Cello, spielte in vielen Orchestern,
2007 dann in Rom. Dort traf sie Alessandro,
einen Mailänder. Er war Geiger, saß ganz
vorn im Orchester. Sie verabredeten sich,


zogen zusammen, später mit den Kindern
raus aus der Stadt, weiter ans Meer. Als
ihre Stellen am Orchester nicht mehr sicher
schienen, bewarben sie sich in der ganzen
Welt und entschieden sich für Detmold.
Detmold war ländlich, behütet. Det-
mold war sicher. Als Julian vier Jahre alt
war, lernte er im Hof Fahrrad fahren.
Die Mail, das Erzählen, die Öffentlich-
keit. Sie machten das alles nur für andere
Familien, sagen sie. Sie wollen, dass nie-
mand sonst erleiden muss, was sie erleiden.
Sie schreiben ihrem Bürgermeister Brie-
fe, listen auf, wo es sonst gefährlich ist in
Detmold, am Ausgang von Diestelbruch
zum Beispiel, wo der Radweg einfach auf-
hört, die Straße schmaler wird und Autos
100 Stundenkilometer fahren dürfen. Sie
schreiben, was sie nicht verstehen:In fast
allen europäischen Ländern gibt es Gesetze,
um die Fahrtüchtigkeit zu überprüfen. In

Italien ab 80 Jahren sogar alle zwei Jahre.
Sie fragen: Wie viele Kinder müssen noch
überfahren werden, bevor sich die Politiker
in Deutschland um den Schutz der Bevöl-
kerung kümmern?
Anwalt Pott hat seine Kanzlei am Bahn-
hof in Detmold, er hat selbst zwei Kinder,
ist Anfang vierzig, seit 15 Jahren Fachan-
walt für Verkehrsrecht. »Es wird mehr«,
sagt er. Allein im vergangenen Jahr hatte
er mehrere Fälle, in denen Menschen
durch alte Leute am Steuer zu Tode ge-
kommen sind. Ein 85-jähriger Linksabbie-
ger hatte einen Motorradfahrer übersehen,
ein 80-Jähriger einen Nordic Walker.
Er sagt aber auch, wenn jemand in
Deutschland mit 100 Jahren noch Auto
fährt, sei das kein Vergehen.
Pott schlägt das Strafgesetzbuch auf und
liest daraus vor, Paragraf 315c: Wer im Stra-
ßenverkehr ein Fahrzeug führt, obwohl er
infolge des Genusses alkoholischer Geträn-
ke oder anderer berauschender Mittel oder
infolge geistiger oder körperlicher Mängel
nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher
zu führen und dadurch Leib oder Leben ei-

nes anderen Menschen oder fremde Sachen
von bedeutendem Wert gefährdet, wird mit
Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit
Geldstrafe bestraft.
Fahren unter Alkohol ist ein Vergehen,
unter berauschenden Mitteln, mit geistigen
oder körperlichen Mängeln. Fahren im Al-
ter nicht.
Bringt aber das Alter nicht immer geis-
tige und körperliche Mängel mit sich?
»Vielleicht«, sagt der Anwalt, »aber sie
lassen sich oft zum Tatzeitpunkt nicht
nachweisen.« Müdigkeit? Überforderung?
Wie soll ein Staatsanwalt das nachweisen?
Alt wird der Mensch schleichend. Oft
merkt er es selbst nicht.
Nach Potts Erfahrung begehen alte Leu-
te auffällig oft Fahrerflucht, weil ihnen die
Unfälle peinlich sind. Sie verharmlosen
ihre Taten, finden Erklärungen. Pott er-
wähnt eine Fahrprüfung, in der ein Rent-
ner in 20 Minuten 30 Fehler machte.
»Die Fehler passieren eher, wenn eine
Entscheidung erforderlich ist«, sagt er.
Wann biege ich ab? Wechsle ich die Spur?
»Rentner (85) kracht in Hamburger Ein-
kaufszentrum.«
»Auto kracht ins Restaurant.«
»89-Jähriger sorgt für Schlachtfeld auf
Bundesstraße.«
»B 27 gesperrt – Senior verursacht Ver-
kehrsunfall.«
»Senior (91) rast in Supermarkt.«
Und das ist nur ein Auszug an Pressemel-
dungen aus den vergangenen Monaten.
16 Millionen Menschen über 65 Jahre
haben in Deutschland eine Fahrerlaubnis.
Mehr als ein Drittel fährt täglich.
Und Jutta G.? Die Fahrerin auf der
Landstraße?
Am Telefon, auf die Frage, ob sie bereit
wäre für ein Gespräch, sagt sie: »Nein, ich
kann das nicht mehr. Der Unfall hat mich
krank gemacht.« Sie sucht nach Worten
und ringt nach Luft, sie atmet schwer und
kurz.
Sie wurde wegen fahrlässiger Tötung
zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen
zu je 30 Euro verurteilt. Den Führerschein
hat sie freiwillig abgegeben.
Hätte sie nicht müssen?
»Erst mal nicht«, sagt Pott, der Anwalt.
»Aber da reden Sie doch noch mal mit je-
mandem aus der Führerscheinstelle.«
Die Führerscheinstelle in Detmold liegt
im Straßenverkehrsamt, einem großen Ge-

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Gesellschaft

Nicht im Blick


VerkehrEine Familie aus Detmold macht eine Fahrradtour. Auf einer Landstraße wird ihr Sohn,


9 Jahre alt, von einem Auto erfasst. Der Junge stirbt. Die Frau am Steuer ist 85 Jahre alt. Warum
darf in Deutschland jeder selbst entscheiden, wie lange er Auto fährt? Von Barbara Hardinghaus

Sie haben das eine
Kind verloren
und sehen das andere
jeden Tag leiden.

Fotos: Joanna Nottebrock / DER SPIEGEL
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