mann. Seit Jahren streitet er für Testfahrten,
und tatsächlich sah es 2017 mal so aus, als
gäbe es Hoffnung. Auf dem Verkehrsge-
richtstag in Goslar formulierte der Arbeits-
kreis III, »Senioren im Straßenverkehr«,
eine Empfehlung: »Vorgeschlagen wird eine
qualifizierte Rückmeldefahrt«, notfalls ver-
pflichtend.
Und die Politik?
Die Union ist gegen Leistungsprüfun-
gen, wie die FDP, die SPD.
Der ADAC schlägt »Fahrfitness-Checks«
vor, freiwillig. Eine Forsa-Umfrage hat aber
ergeben, dass die Akzeptanz für freiwillige
Tests mit zunehmendem Alter sinkt.
Was er in den vergangenen Jahren er-
reicht hat?
»In der Politik nichts«, sagt Brockmann.
Immerhin lächelt er dabei noch.
Dann erzählt er, er habe auch mal Ste-
phan Kühn auf seiner Seite gehabt, vor drei
Jahren, als der noch verkehrspolitischer
Sprecher der Grünen im Bundestag war,
und Testfahrten vorschreiben wollte, wenn
Führerscheine älter sind als 15 Jahre. Aber
Stefan Kühn »bearbeitet in dieser Legisla-
turperiode einen anderen fachlichen Zu-
ständigkeitsbereich« und möchte sich, laut
Pressestelle, nicht äußern. Die Fraktion gibt
nun an, auf dem Weg zur Volkspartei, auch
auf Freiwilligkeit zu setzen.
Warum? »Das kann ich Ihnen schnell
erklären«, sagt jemand aus dem Bundes-
tag. Er stimmt einem Hintergrundgespräch
zu, will seinen Namen aber in dem Zusam-
menhang nicht in der Presse lesen.
Treffpunkt Jakob-Kaiser-Haus, ein Büro-
haus der Bundestagsabgeordneten, und
eine kurze Antwort: Alle sind gegen die
Checks, weil keiner sich unbeliebt machen
will. Das habe eine Flughöhe wie Tempoli-
mit oder Benzinpreiserhöhung. »Regierung
plant Zwangstests für Omas«, damit wolle
kein Abgeordneter in der Zeitung stehen.
Die Gruppe der Alten scheint zu groß
und zu mächtig in Deutschland. Sie sind
viele, werden immer mehr, sie kaufen Neu-
wagen noch im hohen Alter. 12,5 Prozent
der Neuzulassungen von Januar bis April
2019 kamen durch Menschen ab 59. 30,2
Prozent der Mitglieder beim ADAC sind
über 60. Und bei der Bundestagswahl 2017
war mehr als jeder dritte Wähler 60 Jahre
alt oder älter.
Dabei treibt die EU die Gesetzgebung
im Sinne von Gesundheitstests voran. Der
Gesprächspartner im Jakob-Kaiser-Haus
legt seinen Führerschein auf den Tisch,
einen EU-Führerschein. Die Plastikkarte.
Im Jahr 1999 wurde die Karte eingeführt,
bis 2033 müssen sie auch in Deutschland
alle haben. Die Idee der EU war es, die
Karten einzuführen, auch, damit jede
Erneuerung verpflichtend an einen Reak-
tions- und Sehtest geknüpft sein könnte.
Es wurde viel diskutiert, das war vor
zwölf Jahren.
Michael Cramer von den Grünen, der
damals schon Mitglied im Europäischen
Parlament war im Ausschuss für Verkehr
und Tourismus, erinnert sich: »Die Deut-
schen waren gegen eine europäische Rege-
lung.« Die Pflicht für Gesundheitschecks
fand im Parlament keine Mehrheit. Und so
heißt es in der Richtlinie der EU: Die Mit-
gliedstaaten können die Erneuerung von
Führerscheinen von einer Prüfung der Min-
destanforderungen an die körperliche und
geistige Tauglichkeit abhängig machen.
Sie können, müssen aber nicht.
In der Präambel der Richtlinie, Absatz
9, steht das Ziel: Der Nachweis der körper-
lichen und geistigen Tauglichkeit zum Füh-
ren eines Kraftfahrzeuges sollte zum Zeit-
punkt der Ausstellung des Führerscheins
und danach in regelmäßigen Abständen
erbracht werden.
Sollte.
In Deutschland gibt es die Plastikkarten,
aber bis heute keine Gesundheitschecks.
Es gibt die Tabuisierung eines Problems,
das wachsen wird. In Brüssel sage man, so
Cramer: Was für Amerika die Waffen sind,
ist für Deutschland das Gaspedal.
Der 9. Oktober 2018 war ein sonniger,
noch warmer Herbsttag. Julian war aus der
Schule gekommen, er hatte eine Eins in
Deutsch und eine Hausaufgabenfreikarte
für seinen Geburtstag. Sie grillten. Die Kin-
der sollten sagen, was sie machen wollten
in den Herbstferien. Julian nahm ein Blatt
Papier und schrieb »Kletterpark«. An die-
sem Nachmittag wollten sie eine Radtour
machen, wollten in den Wald, zum Baum,
in den die Jungs ihre Namen geritzt hatten.
Sie fuhren gern Rad. Julian hatte seinem
Fahrrad einen Namen gegeben, Charly.
Sie fuhren in einer Reihe, der Vater, Ma-
nuel, Julian, die Mutter. Trafen Leonards
Mutter am Nahkauf, kamen auf die Land-
straße; nur ein kleines Stück, dann kam der
Schotterweg in Richtung Wald. Sie sahen
Tim Levi, einen Freund, an der Straße, er
winkte. Sie winkten zurück. Sie wollten vor-
her eigentlich noch zum Friedhof, zum Grab
der Nachbarin, haben sie nicht gemacht.
Hätten sie nur.
Es kam ein erstes Auto, schwarz, sie sa-
hen, wie es sie dicht überholte. Julian dreh-
te sich nach hinten um zu seiner Mutter.
Sie sah ihrem Kind ins Gesicht, sagte: »Ist
alles gut, Julian! Guck nach vorn!«
Er drehte sich zurück, fuhr, ein paar Me-
ter noch, schwarze Collegejacke, dunkel-
blaues Shirt, Shorts, Turnschuhe, den
Blick nach vorn. Dann kam das zweite
Auto von hinten, ein roter Golf, und ein
Auto von vorn, im Gegenverkehr.
Im Unfallgutachten heißt es weiter: Die
Beschuldigte (UB01) befuhr die Bad Mein-
berger Straße mit ihrem Pkw Golf in Fahrt-
richtung Fissenknick. Der UB02 befuhr mit
seinem Fahrrad als dritter Radfahrer in
einer Radfahrerkolonne ebenfalls die Bad
Meinberger Straße in Fahrtrichtung Fissen-
knick. Die UB01 fuhr mit ihrem Pkw nach
dem Überholen der letzten Radfahrerin der
Radfahrkolonne nahe am rechten Fahr-
bahnrand und fuhr in Geradeausfahrt ge-
gen den nächsten Radfahrer in der Kolonne,
den UB02. Der UB02 wurde mit seinem
Fahrrad vom Pkw der Beschuldigten von
hinten erfasst. Der UB02 wurde zunächst
am linken Bein erfasst, auf die Fahrzeug-
front geladen und prallte mit dem Kopf
gegen die A-Säule. Der UB02 wurde auf-
grund des Aufpralles beschleunigt und zur
rechten Seite hin abgeworfen, wo er im Gra-
ben in seine dokumentierte Endlage gelang-
te. Ein Sicherheitsabstand zwischen dem
Pkw der UB01 und dem UB02 lag nicht vor.
Aus technischer Sicht ergeben sich keinerlei
Hinweise auf eine mögliche Unfallursache.
Zum Unfallzeitpunkt herrschte Tageslicht
und die Sicht war nicht beeinträchtigt.
Grundsätzlich wäre an der Stelle ein ge-
fahrloses Überholen möglich gewesen.
Als Julian im Graben lag, war er nicht
mehr bei Bewusstsein. Die Mutter schrie,
so sehr, wie sie nur ein einziges Mal zuvor
geschrien hatte, bei seiner Geburt.
Der Vater hörte nur den Knall und ihre
Schreie.
Die Eltern liefen zu ihrem Kind, riefen
die Rettungskräfte. Blut aus Nase und
Mund.
Die Mutter hielt seine Hand, spürte, wie
sie kälter wurde. Der Vater schob seinem
Sohn das T-Shirt hoch, legte sein Ohr auf
Julians Rücken, horchte, hörte den Herz-
schlag erst noch, schwach, dann nicht mehr.
56 DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019
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Mutter Sabine am Küchentisch
»Ist alles gut, Julian«