te zwischen Januar 2018 und Mai 2019 im
ganzen Land mindestens 6800 Menschen
ermordet haben sollen. In vielen Stadttei-
len herrschen Gangs, die von Schmuggel
leben. Wer mit einer Tüte Lebensmitteln
an der Straße entlangläuft, riskiert, über-
fallen zu werden. Venezuela gilt inzwi-
schen als gefährlichstes Land Südamerikas.
Während der Plünderungen wurden
Hunderte Menschen durch Schnittwunden
oder Schüsse verletzt. Ärzte mussten im
Schein ihrer Smartphones operieren. Weil
Geräte fehlten, nahmen sie Amputationen
vor, die vermeidbar gewesen wären.
»In den Nächten der Plünderungen ist
Panik unter den Ärzten ausgebrochen«,
erzählt eine Ärztin in einem zentralen
Krankenhaus der Stadt. Hunderte seien in
einer Nacht in die OP-Säle geströmt. »Vie-
le starben uns weg.« Die Ärztin soll zu
ihrem Schutz hier Doktor López heißen.
Journalisten sollen von den Zuständen
in den staatlichen venezolanischen Kran-
kenhäusern, die von der Regierung kon-
trolliert werden, nichts erfahren. Ärzte
bringen sich in Gefahr, wenn sie den Zu-
gang erlauben. Aber López empört sich
zu sehr über den Zusammenbruch des Ge-
sundheitswesens im Land. Als die Wachen
zum Essen fahren, bittet sie herein.
In den Gängen vor ihrem Büro stinkt
es bestialisch nach Blut und Urin. Ein
Mann schreit auf einer Liege. Überall war-
ten Patienten auf ihre Versorgung. »Unse-
re fünf Betten auf der Intensivstation sind
belegt«, sagt López entschuldigend. »Da-
her liegen die Kranken auf dem Gang.«
Das Krankenhaus galt als eines der bes-
ten des Landes. »Wir haben Herz-OPs an-
geboten und Computertomografien ge-
macht«, erzählt sie. »Heute sind fast alle
Spezialisten abgewandert. Junge Ärzte fol-
gen nicht nach.« Rund 22 000 Ärzte haben
Venezuela bis 2017 verlassen – etwa die
Hälfte aller Mediziner des Landes.
Doktor López verdient umgerechnet
zehn US-Dollar im Monat. Warum sie trotz-
dem bleibt? »Dienst an den Menschen.«
Ohne die Hilfe von Verwandten in den USA,
die zu den jährlich bis zu zwei Milliarden
US-Dollar Auslandsüberweisungen nach
Venezuela beitragen, könnte sie nicht leben.
Auch die Patienten haben es schwer.
»Familien, die ihre Angehörigen bringen,
müssen das Material selbst bereitstellen,
mit dem wir behandeln«, sagt López. »Me-
dikamente. Latexhandschuhe. Sogar sau-
beres Wasser.« Es gibt kein Essen für die
Patienten mehr. Putzmittel hat die Ärztin
gerade selbst eingekauft. »Weil die meisten
Familien kein Geld für die Behandlung ha-
ben, liegen viele Patienten einfach nur hier
und werden nicht gesund.«
Das riesige, halb leer stehende Gebäude
ist in der Krise zu einer Art Obdachlosen-
heim geworden. Bewohner Maracaibos
bringen Menschen in Not vorbei, die sie
auf der Straße aufgelesen haben. Ein Dut-
zend Wohnungslose sind eingezogen. Vor
ein paar Tagen habe ein unterernährter
Mann in der Tür gestanden, erzählt Lopez.
Niemand weiß, woher er kam. Verwirrt
und nackt sitzt er jetzt auf einem Bett. »Im-
mer häufiger«, sagt López, »geben Fami-
lien ihre alten Angehörigen ab, die sie
nicht mit ins Ausland nehmen können.«
Anfang des Jahres hofften viele auf ein
Ende des Regimes. Juan Guaidó, der junge
Präsident der Nationalversammlung, berief
sich am 23. Januar auf die Verfassung und
ernannte sich zum Interimspräsidenten Ve-
nezuelas. Rund 50 Länder, auch Deutsch-
land, erkannten ihn an. Bei der Präsident-
schaftswahl im Jahr zuvor, bei der Maduro
wiedergewählt wurde, hatte es massive
Regelverstöße gegeben. Doch die Hoffnung
des Westens, dass die mächtige Armee
Guaidó stützen und sich von Maduro ab-
wenden würde, erfüllte sich nicht.
Jetzt herrscht auf politischer Ebene ein
Stellungskrieg zwischen Opposition und
Regime. Diese Lähmung zieht die Wirt-
schaft des Landes rasant weiter nach unten.
Die Opposition arbeitet mithilfe der
Trump-Regierung weiter an einer Strate-
gie, die amtierende Regierung zu stürzen:
US-Sanktionen sollen Maduros Regime
wirtschaftlich ersticken, während Guaidó
versucht, die Armee zum Umschwenken
zu bringen. Anführern des Militärs, die
sich von Maduro abkehren, stellte er schon
im Januar eine Amnestie in Aussicht.
Die Stromausfälle im Frühjahr hatte
Guaidó als Versagen der Regierung kriti-
siert. Die Maracuchos waren seinem Auf-
ruf zum Protest gefolgt. Die Opposition
hatte damals Aufwind. Doch der ist abge-
flaut. Nach der Verschärfung der US-Sank-
tionen Anfang August hat Maduro diplo-
matische Gespräche mit der Opposition
zu einem Transitionsprozess abgebrochen.
Wie die Krise gelöst werden kann, ist
ungewiss. Bislang leidet unter dem Öl -
boykott vor allem die ohnehin geplagte
Be völkerung. Alle staatlichen Konten des
Ölkonzerns PDVSA in den USA sind ein-
gefroren. Das Regime kann, weil ihm De-
visen fehlen, immer weniger Grundnah-
rungsmittel und Medikamente einführen.
In Maracaibo sitzen fünf Männer im
Hinterzimmer eines Hotels, sie haben ihre
Stühle eng um einen Tisch gerückt. Sie hof-
fen, dass eine Verschärfung der Krise dazu
führt, dass Maduro stürzt. Einer von ihnen
hat ein Foto mitgebracht. Inmitten einer
Gruppe von Menschen ist er bei einer Ver-
anstaltung mit Juan Guaidó abgebildet. Er
lächelt in die Kamera.
»Wegen dieses Fotos haben sie mich ge-
feuert«, sagt der Mann, der bis vor Kur-
zem bei der staatlichen Erdölgesellschaft
PDVSA gearbeitet hat. Jetzt muss er 800
Meter Abstand zu jeder Raffinerie halten,
»als ob ich ein Terrorist wäre«. Seine Kol-
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Ausland
Straßenrand:Real existierende Dystopie
DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019