Der Spiegel - 24.08.2019

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Bruder fast täglich aus Libyen an. Er ist
Opfer eines Netzwerks geworden, das von
der Sahara bis nach Deutschland reicht.
»Meine Gedanken waren wie betäubt«,
sagt Ghebray. Im Deutschunterricht kann
er sich nicht mehr konzentrieren. Sein Leh-
rer schimpft mit ihm, wenn er mal wieder
den Raum verlässt. Schließlich rät ihm ein
Freund, zu einem Pfarrer in der Kölner
Südstadt zu gehen, von dem es heißt, er
würde Flüchtlingen helfen.
Knapp neun Monate später sitzt im
Büro des Pfarrhauses der lutherischen Kir-
che der Mann, der dabei half, den Alb-
traum zu beenden. Hans Mörtter trägt ein
weißes Hemd, an seinem Arm baumelt ein
geknüpftes Kettchen, eine Erinnerung an
seine Arbeit in Kolumbien. Vor fünf Jah-
ren gründete er eine Willkommensgruppe
für Flüchtlinge, inzwischen sammelt er
Geld für Menschen, die verschleppt wer-
den. Er fragt bei Freunden, in der Gemein-
de, manchmal postet er einen Aufruf auf
Facebook. Rund 40 000 Euro seien in den
vergangenen Jahren zusammengekom-
men, sagt er. Etwa 20 Flüchtlingen habe
er geholfen, Angehörige freizukaufen.
Manche werden im Sudan verschleppt,
die meisten in Libyen. Die Fälle hat Mört-
ter in einem Ordner dokumentiert. »Die
Flüchtlinge reden nicht gern darüber, was
dort passiert«, sagt er. Einmal kam eine
Mutter wegen ihres 15-jährigen Sohnes zu


ihm. »Die Entführer wollten 6500 Dollar.
Sie haben gesagt: Wenn du das Geld nicht
zusammenkriegst – wir haben seinen Kör-
per.« Mörtter schüttelt den Kopf. »Sie woll-
ten seine Organe verkaufen.«
Voriges Jahr schickte Mörtter mehrere
Flüchtlinge zur Polizei, damit sie Anzeige
erstatten. »Die Behörden sagen, sie seien
nicht zuständig, weil die Entführten keine
deutschen Staatsbürger sind.« Ein einziger
Fall ist bislang aus Europa bekannt, bei
dem strafrechtlich ermittelt wurde: 2013
verurteilte ein Gericht in Schweden zwei
Männer zu Haftstrafen, die eine Frau am
Telefon erpresst hatten, deren Cousin im
Sinai verschleppt worden war. Allerdings
lebten die Männer in Schweden.
Menschen aus Eritrea werden offenbar
besonders häufig verschleppt. »Unsere
Community ist sehr stark vernetzt«, sagt
Zerai Kiros Abraham, der in Frankfurt den
Verein »Projekt Moses« gegründet hat und
viele Eritreer kennt, die erpresst werden.
»Wir helfen uns gegenseitig, die Schmugg-
ler wissen das.« Abraham findet, die Eri-
treer in Deutschland würden nicht genü-
gend unterstützt. »Wenn ein Flüchtling
einen Sprachkurs abbricht, fragt niemand
nach den Gründen.«
Ghebray, der Eritreer in Köln, handelt
die Entführer seines Bruders schließlich
auf 5000 Dollar herunter. Das Geld gibt
er einem Bekannten, der es für Ghebray

an zwei Männer in Khartum übergibt.
Schließlich lassen die Menschenhändler
seinen Bruder gehen.
Vier Wochen nachdem Ghebray seine
Geschichte erzählt hat, wählt er eine liby-
sche Handynummer. Die Leitung rauscht,
immer wieder bricht die Verbindung ab.
Dann meldet sich Jonas, sein Bruder. Er sei
in einem Lager in Tripolis, wo es ihm bes -
ser gehe, sagt er. Das Flüchtlingshilfswerk
UNHCR habe Zugang zum Camp. Manch-
mal dürfe er sogar einkaufen gehen. Über
die Gefangenschaft spricht er nicht gern.
Er sagt: »Ich war in einem Keller. Es war
dunkel. Wir wussten nie, ob es Tag oder
Nacht war.« Etwa 200 Leute seien mit ihm
in einem Raum gewesen. 50 Menschen teil-
ten sich ein Handy, über das sie täglich ihre
Verwandten anrufen mussten. Zwei- oder
dreimal am Tag seien die Peiniger gekom-
men. »Sie haben uns geschlagen«, sagt
Jonas. Seine Stimme bricht ab. Mehr möch-
te er nicht sagen.
Damit sie telefonieren können, schickt
Ghebray noch immer Geld nach Libyen.
Davon kauft Jonas Handyguthaben und
Essen. Ghebray hofft, dass sein Bruder
bald aus Libyen evakuiert wird. Haupt -
sache, raus aus dem Albtraum. Jonas sagt
am Telefon: »Solange ich in Libyen bin,
geht auch die Angst nicht weg.«
Lucia Heisterkamp

DER SPIEGEL Nr. 35 / 24. 8. 2019 91

DANIEL ETTER
Geflüchtete in einem Lager in Tripolis: »Es ist besser, im Mittelmeer zu sterben, als in Libyen zu sein«
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