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ie SMS, die das Leben von Aaron
Ghebray zum Albtraum machen
wird, kommt morgens um kurz
nach halb acht. Ghebray stammt aus Eri-
trea und ist nach Deutschland geflohen,
gerade ist er dabei, sich an den Alltag in
Köln zu gewöhnen und für seine Deutsch-
prüfung zu lernen. Die Nachricht kommt
von einer unbekannten Nummer aus Li-
byen, am 27. Juni 2018, er hat sie bis heute
auf dem Handy gespeichert. »Ghebray,
melde dich. Ich habe deinen Bruder.« Als
er zurückruft, meldet sich ein Mann, der
7000 Dollar verlangt. Sonst werde er den
Bruder töten. Ghebray sagt, er könne nicht
zahlen. Dann hört er am ande-
ren Ende der Leitung seinen klei-
nen Bruder schreien.
Ghebray, 26, der seinen rich-
tigen Namen nicht veröffent-
licht sehen will, lebt seit dreiein-
halb Jahren in Deutschland. Ein
gutes Jahr nach der SMS sitzt
er in seiner schlichten Wohnung
in Köln, die er sich mit einem
eritreischen Mitbewohner teilt,
und erzählt die Geschichte sei-
nes Bruders Jonas, der ebenfalls
anders heißt.
Die Geschichte der beiden
Brüder aus Eritrea zeigt, wie ein
brutales Geschäftsmodell funk-
tioniert, dem Tausende Flücht-
linge in Libyen zum Opfer fallen:
Menschenhändler verschleppen
Migranten und nötigen sie dazu,
ihre Verwandten im Ausland oder zu Hau-
se per Handy anzurufen, während sie miss-
handelt werden. Manchmal fordern die Er-
presser bis zu 10 000 Dollar. Das Lösegeld
wird über Mittelsmänner oder per Wes-
tern Union überwiesen. In den vergan -
genen Jahren ist das Ausmaß dramatisch
angestiegen, sagen Menschenrechtsorga-
nisationen wie Amnesty International.
Offizielle Zahlen gibt es nicht. Laut Uno
hängen derzeit mehr als 50 000 registrier-
te Flüchtlinge und Asylbewerber im Bür-
gerkriegsland Libyen fest.
Auch für Aaron Ghebray beginnt an je-
nem Tag der Horror am Telefon. Die Män-
ner werden Jonas schlagen, ihn mit Elek-
troschocks quälen, oft während sein Bru-
der mithören muss. Ghebray wird nicht
mehr schlafen können, er wird durch die
Deutschprüfung fallen und verzweifelt ver-
suchen, Geld aufzutreiben, um die Folterer
zu bezahlen. Schließlich wird ihm ein deut-
scher Pfarrer helfen.
Überprüfen lässt sich Ghebrays Ge-
schichte nur in Teilen. Aber sie deckt sich
mit Aussagen von Menschenrechtsorgani-
sationen und von anderen Flüchtlingen,
mit denen der SPIEGELgesprochen hat.
Ende 2016, so erzählt es Ghebray, ver-
lässt sein Bruder das Heimatland Eritrea.
Wie Ghebray flieht er vor dem Militär-
dienst, der in dem Land am Horn von Afri-
ka eine Art Sklavenarbeit ist. Zuerst habe
er sich in den Sudan schmuggeln lassen,
dann weiter nach Ägypten und von dort
durch die Wüste und über das Meer nach
Europa. »Ich habe versucht, ihn zu über-
reden, nicht durch Libyen zu gehen«, sagt
Ghebray.
Er hat selbst erlebt, dass Libyen die Höl-
le ist. Wochenlang harrte er dort in einem
Lager aus. »Man kann nicht duschen. Man
hat nichts zu essen. Alle sind so dünn.«
Ghebray fährt sich über die Arme. »Alle
sagen: Es ist besser, im Mittelmeer zu ster-
ben, als in Libyen zu sein.«
Aber Jonas sei schon immer ein Rebell
gewesen. Irgendwann meldet er sich aus
einem Lager nahe der ägyptischen Grenze,
vermutlich in den Kufra-Oasen, wo er auf
die Fahrt durch die Sahara wartet. Der
Kontakt bricht ab, Wochen später ruft er
aus Tripolis an. »Er hat gesagt, dass er
5000 Dollar braucht. Wenn wir zahlen,
würden sie ihn morgen nach Italien schi-
cken.« Ghebrays älterer Bruder, der seit
Jahren im US-Bundesstaat Minnesota lebt,
schickt die Summe über einen Mittels-
mann nach Libyen. »Aber die haben ihn
nicht freigelassen«, sagt Ghebray. »Sie ha-
ben ihn weiterverkauft.«
Mark Micallef vom Netzwerk »Global
Initiative Against Transnational Organized
Crime« kennt Dutzende solcher Geschich-
ten. Er spricht von einer riesigen Erpres-
sungsindustrie in Libyen. Die Menschen,
die das Lösegeldgeschäft betreiben, seien
sowohl organisierte Schmuggler als auch
lokale Gruppen, die sich auf Entführungen
spezialisiert haben, sagt er. Manchmal wür-
den die Opfer in Lagerhallen festgehalten
und misshandelt, manchmal in private Kel-
ler gesperrt. Laut Amnesty In ternational
finden die Erpressungen auch in offiziellen
Migrantenlagern statt, die von der liby-
schen Einheitsregierung betrieben werden.
»Korrupte Soldaten versuchen, damit Geld
zu machen«, sagt Matteo de Bellis von
Amnesty International. Er gibt der EU
eine Mitschuld, weil sie durch die Unter-
stützung der libyschen Küstenwache dafür
sorgt, dass Migranten in Libyen bleiben.
Wie lukrativ das Foltern am
Telefon ist, hat sich bereits in an-
deren Ländern gezeigt. Auf der
Sinai-Halbinsel in Ägypten wur-
den zwischen 2009 und 2014
Tausende Ostafrikaner in regel-
rechten Foltercamps festgehal-
ten. Auch damals wurden Ange-
hörige überall auf der Welt per
Handy angerufen, während die
Menschenhändler den Migran-
ten Körperteile abtrennten oder
ihre Haut mit heißem Plastik
übergossen. Summen bis zu
50 000 Dollar pro Geisel sollen
geflossen sein.
»Mit dem Sinai-Fall wurde
eine neue Form der Ausbeutung
bekannt«, sagt Mirjam van Rei-
sen von der Universität Tilburg
in den Niederlanden. Menschen-
handel galt bis dahin als Ausbeutung zur
Zwangsprostitution, Zwangsarbeit oder
zum Organhandel, nicht zum Zweck der
Lösegelderpressung. Berichte von Men-
schenrechtsorganisationen zeigen, dass um
das Jahr 2009 herum ähnliche Praktiken
auch im Jemen, in Mexiko, Südostasien
und anderswo auftauchten. Die transnatio-
nale Dimension der Ausbeutung mache es
besonders schwierig, die Verbrechen zu be-
kämpfen. »Die Täter und diejenigen, die
erpresst werden, befinden sich in unter-
schiedlichen Regionen. Dafür ist die Polizei
nicht ausgestattet«, sagt van Reisen.
Es ist ein perfide simples Ausbeutungs-
modell, das auf den Errungenschaften der
Globalisierung basiert: Menschenhandel
per Smartphone, dank grenzübergreifen-
der Finanz- und Kommunikationsströme.
Für Ghebray wird das Smartphone ein
Tor zur Hölle. Im Sommer 2018 ruft sein
90
Ausland
Schreie am Telefon
MigrationLibysche Menschenhändler entführen Migranten und
foltern sie. So erpressen sie Lösegeld von den Angehörigen
zu Hause und im Ausland – ein schreckliches, lukratives Geschäft.
FREDERIKE WETZELS / DER SPIEGEL
Flüchtling Ghebray in Köln: Tor zur Hölle