Frankfurter Allgemeine Zeitung - 02.09.2019

(lily) #1

SEITE 10·MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019·NR. 203 Krimi FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Eine Polizistin, in die man sich sofort
verliebt. Erster Satz: „Als ich Rudy May-
field das letzte Mal so nah war, hatte er
sich im Truck seines Dads zu mir rüber-
gelehnt, um meine erst kürzlich gereif-
ten Brüste zu begrabschen.“ Jetzt hat
Rudy eine Mädchenleiche gefunden,
und Dove Carnahan ist seit zwanzig Jah-
ren Polizeichefin von Buchanan, einer
fiktiven Kleinstadt im ländlichen Penn-
sylvania. Ihren Vornamen hat sie von
der gleichnamigen Seifenmarke.
Die vollbusige Fünfzigjährige ist Sin-
gle, unterhält ein sporadisch ausgelebtes
Verhältnis mit dem Kriminalpolizisten
Nolan Greely (rund dreißig Geschlechts-
akte in fünfundzwanzig Jahren), sie
kocht gut und gern, kommt nie dazu, den
Garten zu machen, aber sie besitzt etwas
im Krimigenre Seltenes – Humor und
Selbstironie. Und das, obwohl ihre Famili-
engeschichte ein einziges heilloses Durch-
einander ist. Ihre Mutter, eine Schönheit,
hatte drei uneheliche Kinder von drei ver-
schiedenen Männern, dazu zahlreiche
Verhältnisse, um es vorsichtig zu sagen.
Bis man sie in der Badewanne mit einem
Baseballschläger erschlug, aber so takt-
voll, dass das schöne Gesicht keinen Scha-
den nahm.
Die beiden Schwestern Dove und Nee-
ly schoben seinerzeit die Tat einem Un-
schuldigen in die Schuhe, der dafür Jahr-
zehnte in den Knast ging. Bei Romanbe-
ginn taucht er auf und droht mit Rache.
Kurz darauf kehrt noch einer wieder,
den man aufgegeben hatte: Champ, der
Bruder Neelys und Doves, im Schlepp-
tau seinen neunjährigen Sohn Mason,
von dessen Existenz die Schwestern
nichts wussten. Sein Erscheinen wühlt
unvermeidlich die traumatischen Ereig-
nisse rund um den Mord an der Mutter
wieder auf. Und das inmitten eines
Mordfalls, wie er in Buchanan nur alle
unheiligen Zeiten mal vorkommt.
Die siebzehnjährige Camio Truly
wird erschlagen, in eine Decke gewi-
ckelt und in eine qualmende Erdspalte
geworfen. In eines jener Minenfeuer, die
seit Jahrzehnten vor sich hin glimmen,
während die verlassenen Bergbau-Städ-
te verrotten. Das Mädchen entstammte
einer kriminellen Redneck-Familie, war
intelligent, fleißig, manipulativ und ehr-
geizig. Es wollte der Existenzform Bo-
densatz entkommen. Vielleicht war Ei-
fersucht ein Mordmotiv?
Erzählt wird aus der Ich-Perspektive
von Chief Carnahan, im historischen Prä-
sens. Die Frau, die Dove erfunden hat,
heißt Tawni O’Dell, ist 1964 im westli-
chen Pennsylvania geboren, wo sie heute
wieder lebt. Sie hat Journalismus stu-
diert, aber viel lieber Romane geschrie-
ben. 2000 fand sie nach langer Suche ei-
nen Verlag: Ihr Debüt „Back Roads“ wur-
de, unterstützt durch ein Lob Oprah Win-
freys, ein Erfolg; die Verfilmung kommt


in den Vereinigten Staaten im Winter in
die Kinos. „Angels Burning“ (2016) ist
O’Dells sechster Roman, ihr erster genui-
ner Krimi – und das erste Buch, das ins
Deutsche übersetzt wurde. Eine Fortset-
zung ist in Arbeit.
Pennsylvania scheint ein gutes Pflaster
für Kriminalromane zu sein. Zuletzt hat-
te Tom Bouman mit zwei Fällen aus dem
nordöstlichen Teil des Bundesstaats reüs-
siert (F.A.Z. vom 7. Mai 2017 und 2. Juli
2018). Wie Bouman nutzt auch O’Dell
die Lösung des Falls als Transportmittel,
um eine gesellschaftliche Tiefenbohrung
durchzuführen. Dove ermittelt häufig jen-
seits der Vorschriften mit weiblichem Ein-
fühlungsvermögen; dass die Täter aus der
Truly-Familie stammen, daran zweifelt
sie keinen Augenblick. Sie kennt nicht
nur ihre Pappenheimer, sie kennt auch
sich selbst und ihre Geschichte, die mit ei-
nem Verbrechen verknüpft ist, das sie nie
wieder loslassen wird. Insofern ist ihre Ar-
beit auch Wiedergutmachung – als „Ta-
gesbetreuungs-Äquivalent der Strafverfol-
gungsbehörde“ lehrt sie die Bürger „ver-
nünftige Umgangsformen und Sozialkom-
petenz“, damit diese erst gar nicht auf die
Idee kommen, Verbrechen zu begehen.
Die Polizei, dein Therapeut und Helfer.
Eine wichtige Stütze ist Doves Schwes-
ter Neely, eine erfahrene Hundeführerin,
die zurückgezogen lebt. Nichts Menschli-
ches ist ihr fremd, weil sie durch den
Blick ihrer phantastisch geschulten Hun-
de in die Herzen ihrer Kundschaft schau-
en kann. Und dann ist da noch die gelieb-
te Großmutter im Altersheim, die auf ih-
rem Smartphone anstelle von Textnach-
richten Emoticons verschickt, die die En-
kelinnen auszudeuten gelernt haben:
„Englische Flagge / Sack voll Geld / Uhr =
Kann jetzt nicht,Downton Abbeyläuft.“
Die Lage spitzt sich weiter zu, als ein
Jugendlicher aus der Truly-Sippe auf Ca-
mios Freund schießt. Dann verschwindet
Champ und überlässt Mason umstands-
los seinen Schwestern. Schließlich taucht
Camios Handy auf und gibt dem Fall eine
neue Wendung.
Tawni O’Dell ist keine Meisterin im
Evozieren von Atmosphäre, weder Land-
schaft noch Wetter spielen eine größere
Rolle. Sie interessiert sich primär für die
Folgen von Missbrauch und Elend, für El-
tern, Kind und Neurose. Ihre kinderlose
Protagonistin hat sich „zu einer scharfen
Beobachterin von Müttern“ entwickelt.
Dove weiß besser als die anderen Figu-
ren, warum. HANNES HINTERMEIER

E


in Geschehnis aus mehreren Per-
spektiven zu schildern ist eine be-
währte Methode des Erzählens.
Viele Ansichten münden in die
Frage nach der Wahrheit. Deutlich kom-
plexer bedient sich Camilla Grebe in ih-
rem Roman „Tagebuch meines Verschwin-
dens“ der Polyperspektivität. Sie wendet
das Verfahren diachronisch an und er-
fasst so Ereignisse, die sich über einen
Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren er-
strecken, bis in die Gegenwart hinein.
Der Prolog spielt im Oktober 2009, als
eine Gruppe von Jugendlichen in einer
Geröllhalde nahe dem schwedischen Ort
Ormberg auf die Überreste eines Skeletts
stößt. Es war Mord, wie sich zeigen wird.
Die eigentliche Handlung spielt im No-
vember und Dezember 2017, als ein
Team von Polizisten diesen „kalten Fall“
wieder aufrollt. Es stellt sich heraus, dass
die Tote mit ihrer Mutter 1993 aus Bos-
nien nach Schweden geflohen war; beide
verschwanden im selben Jahr aus dem
Heim für Geflüchtete, wo sie unterge-
bracht waren. Die gefundenen Knochen
des Kinds, das damals fünf Jahre alt war,
heißen seither bei den wenigen Einwoh-
nern des Orts „das Ormbergmädchen“.
Während der neuerlichen Ermittlun-
gen kommen weitere Taten hinzu, die
mit diesem Leichenfund zusammenhän-
gen müssen. Noch ein Mord an einer un-
bekannten Frau geschieht; Hanne, eine
erfahrene Profilerin, irrt verletzt und
ohne Erinnerung durch den Wald; der
Polizist Peter, ihr Lebensgefährte, ver-
schwindet ohne jede Spur.

Das Raffinement von Camilla Grebe,
die für den Roman den Skandinavischen
Krimipreis und die Auszeichnung für
den besten schwedischen Thriller 2017
erhielt, besteht darin, drei Personen
über die Vorgänge um die Aufklärung
des ersten und der weiteren Verbrechen
aus ihrem jeweiligen Blickwinkel berich-
ten zu lassen. Diese Erzähler sind zudem
tief in die Geschehnisse, die sich ständig
beschleunigen, involviert. Wie Grebe
das macht, ist wirklich trickreich: An die
Stelle des klassischen Spannungsbogens
tritt eine doppelte, teils dreifache Bewe-
gung für die Leser, während die Dinge ih-
ren fatalen Lauf nehmen und die Polizis-
ten lange im Dunkeln stochern.
Ormberg ist ein trauriger Ort, mit weni-
gen, undurchschaubaren Bewohnern, de-
ren ganzer Argwohn – wenn nicht mehr –
den Flüchtlingen im Heim am Ortsrand
gilt. Arbeitslosigkeit, Landflucht und
Überalterung, gepaart mit Engstirnigkeit
und Frustration, sorgen für das Gefühl,
abgehängt zu sein vom Wohlstand.
Da folgt man Malin, der jungen Polizis-
tin, die in ihren Heimatort vorüberge-
hend zurückkehrt und bei ihrer Mutter
wohnt für die Zeit der Ermittlungen. Ma-
lin war es auch, die 1993 das Ormberg-
mädchen im Geröll fand. Sie hadert mit
Ormbergs Beschränktheit seit der Depra-
vierung durch die Stilllegung des Berg-
baus, sie ist sich selbst zudem eine Frem-
de, vor allem im Verhältnis zu ihrer Mut-
ter und zu ihrer Tante Margareta und de-
ren zurückgebliebenem Sohn Magnus,
für den Malin Mitleid empfindet.
Da ist Jake Olsson, fünfzehn Jahre alt,
der unversehens in die Geschehnisse ge-
rät, weil er eines Abends in einem Paillet-
tenkleid seiner gestorbenen Mutter und
geschminkt im Wald unterwegs ist, um
vor den anderen zu verbergen, was er an
sich als „widernatürlich“ empfindet, als
„die Krankheit“ diagnostiziert, die ihn
zum Außenseiter macht. Die dritte Stim-
me gehört Hanne, der Profilerin, die an
einer zunehmenden anterograden Amne-
sie leidet – sie verliert die Erinnerung an
neue Erfahrungen innerhalb kürzester
Zeit. Sie schreibt ein minutiöses Tage-

buch, um ihre Krankheit möglichst zu ver-
bergen: „Das hier ist das Tagebuch über
mein Verschwinden. Nicht physisch, son-
dern bildlich – denn mit jedem Tag, der
vergeht, gleite ich tiefer in den Nebel hin-
ein.“ Es ist Jake, der Hannes braunes
Buch im Wald findet. Indem er es liest,
wird er Teil der sich beschleunigenden Er-
eignisse: „Ich hole mir wieder Hannes’ Ta-
gebuch. Ich habe fast ein schlechtes Ge-
wissen, weil ich noch immer nicht alles
gelesen habe, denn auf irgendeine seltsa-
me Weise habe ich jetzt das Gefühl, sie
zu kennen. Fast, als wäre sie wirklich mei-
ne Freundin, nur, weil ich ihre Aufzeich-
nungen gelesen habe.“ Jake wird versu-
chen, Hanne gerecht zu werden.
Geduldig und mit Sorgfalt – exzellent
ins Deutsche übertragen von Gabriele
Haefs – folgt Camilla Grebe auf sechs-
hundert Seiten Malin, Jake und Hannes’
Tagebuch, parallel dazu der Polizei, die,
zunehmend getrieben von den neuen
Entwicklungen, den Schlüssel für die Ver-
brechen fieberhaft sucht. Dass die Re-
chenschaftsberichte der drei – im Wort-
sinn – teilnehmenden Beobachter im Prä-
sens abgelegt werden, im Vollzug des Ge-
schehens, schafft für die Leser eine unge-
wöhnliche Nähe, irritierend und fes-
selnd in ihrer Intimität, sowie in kontinu-
ierlich steigender Spannung.
Camilla Grebe verbindet auf unge-
wöhnliche Weise das Genre des Psycho-
thrillers mit dem Psychogramm einer
zerbrechlichen Gemeinschaft. Eindeuti-
ge Identitäten, sichere Zuschreibungen
kommen in Fluss, nicht bloß die Täter-
Opfer-Dichotomie, und es gibt eine un-
erwartete, keineswegs aber unplausible
Auflösung. Erlösung findet in Ormberg
nicht statt. ROSE-MARIA GROPP

Die entscheidende Frage könnte philoso-
phischer nicht sein: Was ist die Wahr-
heit? Darum geht es zwar in jedem Kri-
mi, doch Olaf Kühls Spionagethriller
„Letztes Spiel Berlin“ will es genauer
wissen, wie sich schon dem vorangestell-
ten Bibel-Zitat entnehmen lässt: „Ihr
werdet die Wahrheit kennenlernen, und
die Wahrheit wird euch frei machen.“
Wann aber ist man frei? Und gibt es ei-
nen Unterschied zwischen persönlicher,
politischer und historischer Wahrheit?
Auf der Suche nach Antworten erzählt
der Autor eine Geschichte, die wie das
Echo großer Agentenstorys aus dem Kal-
ten Krieg erscheint.
Paweł, polnischer Nietzsche-Enthusi-
ast und das Gegenteil des Übermen-
schen, führt ein improvisiertes Leben in
Berlin. Ohne seine Frau, die als Thera-
peutin arbeitet und das Geld ranschafft,
säße er auf der Straße, ohne seine kurdi-
sche Geliebte in puncto Romantik auf
dem Trockenen. Eines Tages verschwin-
det sein politisch radikaler, schwuler
Freund Konrad, der alles, was „linken
Wolkenkuckucksheimern so durch den
Kopf geht“, verinnerlicht hat. Paweł
sucht ihn, lernt dabei die siebzehnjähri-
ge Jana kennen und verliebt sich unsterb-
lich in sie. Als heruntergekommener
Humbert-Humbert-Verschnitt aus Moa-
bit begibt er sich mit seiner Lolita auf Re-
cherchetour, wobei er Konrad bald nur
noch als Aufhänger für weitere Liebes-
treffen zu schätzen weiß. Was mit dem
Freund tatsächlich passiert ist, interes-
siert ihn nicht mehr.
Ganz im Gegensatz zur CIA. Der ame-
rikanische Auslandsgeheimdienst hält
Konrad für den Mörder eines russischen
Überläufers und beschattet, um an ihn
heranzukommen, ausgerechnet den ins
Hingabenirwana schlitternden Paweł.
Die Beamten verwanzen dessen Woh-
nung und werden am Ende Ohrenzeu-
gen privater, nicht politischer Wahrhei-
ten: Streit, Türenknallen, Ehekrise. Hier
marschiert kein Spion mehr aus der Käl-
te hinaus, hier gehen Eheleute in die
Kälte hinein. Olaf Kühl mobilisiert das
ganze Inventar des Agentenromans, um
andauernd ins Beziehungsfach zu wech-
seln oder einstige Gewissheiten gerade-
zurücken: Die Vereinigten Staaten ge-
gen die Sowjetunion, das war mal der
wichtigste Konflikt der Welt. Heute ist
die Lage unübersichtlich geworden. Kur-


den, Türken, Ukrainer, Polen, Deutsche
und Amerikaner verfolgen Interessen,
die vor allem eines verdeutlichen – es
wächst nirgends zusammen, was eventu-
ell zusammengehört.
Eine Ausnahme bilden der Erzähler
und seine Figuren. Immer wieder
schmiegt er sich so eng an sie, dass er
sich ihrer Sprache bedient, wobei mitun-
ter ideologisch abgestandene Linken-
folklore herauskommt: „Gefangen in
den ökonomischen Zwängen des Sys-
tems, hetzten die Menschen zu ihrer Ar-
beit, saßen, wenn auch um diese frühe
Stunde nicht sehr zahlreich, als selbst-
ausbeutende Existenzen mit ihrem Lap-
top an Kaffeehaustischen und wähnten
sich dabei großartig frei.“ Die reaktionä-
re Variante klingt keinen Deut besser:
„Er sympathisierte mit der neuen ameri-
kanischen Revolution, wollte mit dem
Präsidenten den Sumpf in Washington
trockenlegen. Einer von den jungen, wei-
ßen Kräften gegen das verfaulte Estab-
lishment der Ostküste.“ Pawełdarf im
Gegensatz zum Rest des Personals als
Ich-Erzähler auftreten und mit lyrischer
Unmittelbarkeit von seiner Liebe
schwärmen: „Ihr Blick fing das Licht die-
ser Welt ein und war stark genug, es
auch zu ertragen.“
Dass Jana tatsächlich ein äußerst kom-
pliziertes Mädchen ist, welches eine
Idée fixe mit sich herumträgt, muss sich
Pawełvon seiner Frau erklären lassen.
Sie, Jana, vergöttere die Wahrheit als Re-
ligionsersatz und verstehe nicht, dass es
absolute Sicherheiten niemals geben
könne. Die salomonische Lösung, auf
welche dieser feinnervige und kluge Ro-
man allenthalben hinausläuft: Alles
hängt vom Standpunkt, den Umständen
und der Zeit ab. Insofern handelt es
sich bei dem Eingangszitat um einen
kleinen Etikettenschwindel. Niemand
findet in Olaf Kühls Thriller die letzte
Wahrheit – von der großen Freiheit
ganz zu schweigen. KAI SPANKE

Der Schock kommt schnell, auf der zwei-
ten Seite, und er trägt schwarze Jeans
und Air Jordan 33. Siebzehn Jahre nach
einem One-Night-Stand erfährt Nizar Be-
nali, „Online-Detektiv“ und Ex-Dealer,
dass er einen Sohn hat: Lesane, benannt
nach dem bürgerlichen Namen des er-
schossenen Rappers Tupac Shakur. Um
das komplizierte Verhältnis von Vater
und Sohn, um Drogenhandel im Dark-
net, um Rap, Familie, Loyalität und wie
man am Ende dem Knast entgeht dreht
sich alles inSelim ÖzdogansKriminal-
roman„Der die Träume hört“(Edition
Nautilus, 288 S., br., 18,– €).
Es ist ein hartes Buch, das aus seiner
Härte nie eine Pose macht und sie schon
gar nicht mit Coolness verwechselt. Die
Sprache ist knapp und nicht um jeden
Preis auf Milieu getrimmt, die Dialoge
sind schnell, mal wie ein Schlagabtausch,
mal wie das Passspiel beim Basketball,
aus dem Özdogan auch die eine oder an-
dere existentielle Metapher gewinnt. Ni-
zar hatte mal davon geträumt, Profi zu
werden, es hat nicht gereicht. Aber er hat
es immerhin geschafft, aus Westmarkt
wegzukommen, wo er in einer türkisch-
stämmigen Pflegefamilie aufgewachsen
ist. Es ist ein fiktiver Kiez, irgendwo im
Ruhrgebiet, Oberhausen ist nicht weit.Ni-
zar ist ein Kämpfer, der einstecken kann,

er kennt die Tricks und Wege im Drogen-
geschäft, aber er ist nicht glücklich damit,
sein Gewissen lässt ihn nicht in Ruhe.
Und er weiß: „Wir würden Westmarkt
nie aus unseren Knochen und Köpfen krie-
gen.“ Aber seine Straßentauglichkeit ist
nützlich, weil sein Sohn richtig Mist ge-
macht hat und bei einem örtlichen Groß-
dealer verschuldet ist. Dass er ihn da wie-
der herausholen will, obwohl das sehr ris-
kant und sein Sohn nicht gerade koopera-
tiv ist, betrachtet Nizar als eine Art Wie-
dergutmachung, von der er sich bis zum
Schluss nicht abbringen lässt.
DassKerstin Ehmermit ihrem Mann
seit vielen Jahren in Berlin eine Bar be-
treibt, dass sie als Mode- und Porträtfoto-
grafin gearbeitet hat, ist ihrem Buch„Die
schwarze Fee“(Pendragon, 400 S., br.,
18,– €) gut bekommen. Nicht nur, weil es
meist die richtigen Getränke gibt, vom
Absinth bis zum Champagner, sondern
vor allem, weil sie ein gutes Auge hat für
Details, die eine Szene, ein Milieu auf ei-
nen Schlag beleuchten und so das Berlin
der zwanziger Jahre aufleben lassen. Das
Elend, die Armut, den Dreck einer Hin-
terhauswohnung im Wedding, die von Sy-
philis zerfressenen Körper auf einer Sta-
tion im Krankenhaus, die Kneipen russi-
scher Emigranten oder das Restaurant
im Adlon.
Trotz Volker Kutscher und „Babylon
Berlin“, trotz der Inflation historischer
Kriminalromane über die Weimarer Repu-
blik wird man der Szenerie bei Ehmer
nicht überdrüssig. Was auch daran liegt,
dass sie sich nicht auf die Perspektive ih-
res Kommissars Ariel Spiro beschränkt,
der schon in „Der weiße Affe“ aus Witten-
berge in die Hauptstadt kam. Ehmer er-
zählt, wie man bei Filmen gern sagt, eher
character drivenalsplot driven, mit einer
Dringlichkeit, die sich durch das histori-
sche Präsens ergibt. So wird der Roman zu
einer lockeren Montage verschiedener Per-
spektiven. Über jedem Kapitel steht der
Name der zentralen Person, und wenn die
Szenen oft schnell abbrechen, liegt das
nicht am Cliffhangerprinzip, sondern an
Ehmers Gespür für Timing.
Die Sprache ist leicht, elegant und bild-
haft, mal andeutend, mal drastisch genau.
Nur selten verrutscht eine Metapher oder
wird zu blumig. Natürlich gibt es auch Mor-
de, Ermittlungen und eine Lösung, auch
Liebe, Politik und ein paar Nazis, aber wor-
auf es ankommt in dieser kleinen Rhapso-
die der Großstadt, das ist die Atmosphäre.
BeiWolfgang Kaes, dem gelernten Re-
porter und Journalisten, fehlt diese
Leichtfüßigkeit. Dafür bekommt man die
minutiöse Genauigkeit einer langen Re-
cherche, die auch zu gewissen Redundan-
zen führt. Oder zumindest zu einem Man-
gel an Verdichtung. „Endstation“(Ro-
wohlt, 432 S., br., 16,99 €) erzählt vom
kaltgestellten Zielfahnder Thomas Mohr,
den man nach einem dienstwegfernen
Einsatz gegen einen Albaner-Paten zum
Leiter und einzigen Mitarbeiter einer Ab-
teilung für Cold Cases gemacht hat. Der
erste Fall, den er sich vom Aktenstapel
greift: der fünf Jahre zurückliegende Tod
eines Studenten, bei dem die zuständi-
gen Ermittler nicht nur geschlampt, son-
dern, wie Mohr schnell spürt, vorsätzlich
nicht ermittelt haben.
Kaes’ Vorbild für Mohr könnte, was
Hartnäckigkeit und Obsessivität angeht,
Michael Connellys Harry Bosch sein,
auch wenn das Kölner Umland den Ver-
gleich mit Los Angeles nicht aushält.
Connellys Drive hat das Buch auch nicht,
aber man bleibt dabei, weil sehr bald klar
ist, dass hier nicht ein haarsträubend kon-
struierter Plot gelöst wird wie ein Sudo-
ku-Rätsel, sondern dass sich Kaes mehr
für lose Enden und Sackgassen, für die
Fehlbarkeit und Unvollständigkeit jeder
Ermittlung interessiert. So oft erlebt
man das nicht. PETER KÖRTE

Tawni O‘Dell:
„Wenn Engel brennen“.

Aus dem Englischen
von Daisy Dunkel.
Argument Verlag,
Hamburg 2019.
352 S., geb., 21,– €.

Camilla Grebe:
„Tagebuch meines
Verschwindens“.
Psychothriller.

Aus dem Schwedischen
von Gabriele Haefs.
btb Verlag, München 2019.
608 S., br., 15,– €.

Olaf Kühl:
„Letztes Spiel Berlin“.
Roman.

Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2019.
352 S., geb., 22,– €.

Undurchschaubarer Argwohn


STREIFSCHUSS


Mütter sind unser Fluch


Tawni O’Dell überzeugt mit „Wenn Engel brennen“


Wahrheit als Religionsersatz


Olaf Kühl spielt klug mit dem Spionageroman


So viele lose


Enden und


Sackgassen


Krimis in Kürze: Selim


Özdogan, Kerstin Ehmer


und Wolfgang Kaes


Schwedische Finsternis:


Camilla Grebe verknüpft


in „Tagebuch meines


Verschwindens“ den


Psychothriller mit einem


Gesellschaftsporträt.


Ein kalter Fall, und mehrere warme: Seltsame Gestalten verbergen sich in den Kiefernwäldern rund um Ormberg. Foto F1 online
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