FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Wirtschaft MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019·NR. 203·SEITE 17
F
orstwirtschaft ist wie Fußball. Jeder
glaubt, dass er es besser weiß als die
Profis, die ihn tagtäglich trainieren und
spielen. Es lohnt sich jedoch, auch einmal
die Ansichten derjenigen zu erfahren, die
sich tatsächlich praktisch damit befassen.
Hier sind sieben forstwirtschaftliche The-
sen.
- Der Wald ist der Verlierer des
Klimawandels
Der Wald ist zwar die CO 2 -Senke und da-
her für viele der Hoffnungsträger gegen
den Klimawandel. Tatsächlich ist er aber
in erster Linie der Verlierer des Klima-
wandels. Denn der Wald wird geschädigt
durch Stürme, Insektenkalamitäten, Dür-
ren, Temperaturanstieg, Hitzewellen und
zunehmende Waldbrände, alles Ereignis-
se, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit
auf den Klimawandel zurückführen las-
sen. Zudem verstärken sich die Ereignisse
wechselseitig. Wir befinden uns derzeit in
einem Teufelskreis. - Gegen Klimawandel ist
bewirtschafteter besser als nicht
bewirtschafteter Wald
Wenn Bäume absterben, binden sie kein
neues CO 2 mehr. Wird das Holz dann
nicht durch aktive Forstwirtschaft aus
dem Wald geholt, werden Unmengen an
CO 2 freigesetzt. Denn Bäume binden
CO 2 und dieses CO 2 wird wieder freige-
setzt, wenn das Holz verrottet. Daher
wird ein unbewirtschafteter Wald zum rie-
sigen CO 2 -Emittenten. Demgegenüber
wird das CO 2 durch Bewirtschaftung des
Waldes für längere Dauer, z.B. in Dach-
stühlen und Balken, gebunden. So wohnt
einer der Autoren demnächst in einem
denkmalgeschützten Haus mit einem 500
Jahre alten Dachstuhl. Der andere hat ein
Fachwerkhaus gebaut. Und zum anderen
ersetzt Holz andere Rohstoffe (wie Ze-
ment, Stahl oder Aluminium), die viel
Energie bei der Erzeugung verbrauchen
und damit CO 2 freisetzen.
3. Der Schutz des bestehenden
Waldes ist zentral
Wenn der Wald erst großflächig abgestor-
ben ist, ist es viel schwieriger, wieder
Wald zu begründen. Den kleinen Bäumen
fehlt dann das Waldklima und damit
Schutz gegen Wind, Sonne und Frost. Als
Folge davon können hauptsächlich wie-
der nur Pionierbaumarten wie Kiefer
oder Birke gepflanzt werden. Und im Er-
gebnis dauert der Waldumbau dann viel
länger. Zum Schutz des Waldes ist daher
gegen Insektenmassenvermehrungen als
Ultima Ratio der Einsatz von Pflanzen-
schutzmittel erforderlich.
4. Die Verteufelung der Kiefer und
aller fremdländischen Baumarten
macht einen klimawandelstabilen
Wald unmöglich
Von den heimischen Baumarten ist die
Kiefer am besten gegen den Klimawandel
gewappnet. Kiefern sind robust gegen Hit-
ze und Regenmangel. Wie in diesem Som-
mer zu sehen, kommt demgegenüber die
Buche – aber teilweise auch die Eiche –
auf vielen Standorten nicht mehr zurecht.
Eine Alternative, um klimastabile Wälder
zu schaffen, sind bislang hier nicht heimi-
sche Baumarten, vor allem Douglasie,
Küstentanne und Roteiche, vielleicht
auch die Baumhasel und Esskastanie
oder die türkische Tanne. Wenn wir bei
uns bald südeuropäisches Klima haben,
dann werden bei uns vor allem solche
Bäume überleben, die wir in heute schon
wärmeren Gefilden finden. Wer sich dage-
gen sperrt, gefährdet die Existenz des
Waldes und die daran hängenden
CO 2 -Ziele. Allerdings ist in Deutschland
die Ablehnung fremdländischer, also
nicht heimischer Baumarten sehr einfluss-
reich.
- Schützt die Arbeitsplätze der
Forstwirtschaft in strukturschwachen
Regionen
Wir schließen bis 2038 die Braunkohleta-
gebaue in der Lausitz und in Sachsen-An-
halt mit dem Verlust Tausender Arbeits-
plätze. Wollen wir gleichzeitig in diesen
Regionen auf die Forstwirtschaft und da-
mit die daran hängenden Arbeitsplätze
verzichten? Die wenigsten wissen es: Der
Wald in Deutschland ist auch wirtschaft-
lich von erheblicher Bedeutung. Überwie-
gend in strukturschwächeren Regionen
beschäftigt das Cluster Forst 1,2 Millio-
nen Menschen und erzielt einen Umsatz
von 180 Milliarden Euro pro Jahr. - Nationalparks in der heutigen
Form sind ein Problem
Nationalparks wie im Harz oder im Baye-
rischen Wald sollten eine Vorbildfunk-
tion für die Waldentwicklung haben. Tat-
sächlich sind diese „Parks“ teilweise
Mondlandschaften: Der Wald ist abgestor-
ben und ersetzt durch Sukzessionsgesell-
schaften mit einzelnen Baumgruppen,
ein Zustand, bei dem ein privater Waldbe-
sitzer regelmäßig von den Forstbehörden
eine amtliche Aufforderung zur Wieder-
aufforstung erhält. In den Nationalparks
verbleibt zudem das gesamte tote Holz
auf den Flächen. Dadurch sind diese
Flächen in ihrer CO 2 -Bilanz im Vergleich
zu bewirtschafteten Wäldern deutlich
schlechter. Als CO 2 -Emittent sind diese
Flächen übergangsweise so etwas wie der
deutsche Mini-Amazonas. Der unbewirt-
schaftete Wald ist zudem eine Brutstätte
für Schädlinge. Derzeit sehen wir dies im
Harz, in dem der Wirtschaftswald rund
um den Nationalpark nun schwerstens
durch den Borkenkäfer geschädigt ist und
großflächig abstirbt.
- Forstwirtschaft benötigt und
verdient mehr Förderung
Viele Wälder sind durch die Folgen des
Klimawandels in ihrer Existenz bedroht.
Die Reparaturmaßnahmen werden erheb-
liche finanzielle Anstrengungen erforder-
lich machen. Anders als die Landwirte er-
halten die Waldbesitzer bislang keine flä-
chenbezogenen Zuschüsse. Die Waldflä-
chen erzeugen eine Vielzahl öffentlicher
Güter, also Güter, die wir alle dringend
brauchen, die aber bis heute nicht vergü-
tet werden. Dies sind vor allem die
CO 2 -Bindung/-Senke, die Wasserreini-
gung/Wasserspeicherung, die Luftreini-
gung und Produktion von Sauerstoff und
der Erholungsraum/Tourismus. Daher
schlagen die Waldverbände vor, dass die
Waldbesitzer zumindest für die Leistung
als CO 2 -Speicher eine flächenbezogene
Vergütung erhalten. Wenn ein Wald
durch seinen Zuwachs durchschnittlich 5
Tonnen CO 2 pro Hektar und Jahr bindet
und der aktuelle Zertifikatpreis von 25
Euro pro Tonne CO 2 zugrunde gelegt
wird, dann ergibt sich daraus eine mögli-
che Vergütung dieser Leistung von 125
Euro pro Jahr und Hektar.
Franz Schenckingist Vorstandsvorsitzender der
Forstbetriebsgemeinschaft Südbrandenburg.
Leon Mangasarian ist Vorstandsmitglied in der
Forstbetriebsgemeinschaft Südbrandenburg.
STANDPUNKT
WASHINGTON / PEKING, 1. Sep-
tember (dpa-AFX). Der Handelskrieg
zwischen Amerika und China hat eine
neue Eskalationsstufe erreicht. Am
Sonntag traten auf beiden Seiten, wie
angekündigt, neue Strafzölle in Kraft.
Die neuen Sonderabgaben der Verei-
nigten Staaten von 15 Prozent auf wei-
tere chinesische Importe im Wert von
mehr als 100 Milliarden Dollar konter-
te China mit Gegenzöllen von 5 und 10
Prozent. Erstmals erheben die Verei-
nigten Staaten auch Strafzölle auf in
China hergestellte Konsumgüter wie
Fernseher, Bücher, Windeln und Turn-
schuhe. Am 15. Dezember sollen dann
Strafzölle von ebenfalls 15 Prozent auf
weitere Konsumgüter aus China im
Wert von rund 160 Milliarden Dollar
in Kraft treten. Dann werden auch Pro-
dukte wie Smartphones, Laptops und
Kleidung erfasst werden.
Die chinesischen Gegenzölle traten
am Sonntag gleichzeitig mit den ameri-
kanischen Zöllen in Kraft und treffen
unter anderem amerikanische Bauern.
10 Prozent werden zusätzlich auf Im-
porte von Fleisch, Gemüse, Obst, Mee-
resfrüchte, Kleidung und Lederwaren
erhoben. 5 Prozent entfallen auf Soja-
bohnen, Milchprodukte, Pilze und Che-
mikalien. China plant weitere Gegen-
zölle von 5 und 10 Prozent am 15. De-
zember, wenn die weiteren amerikani-
sche Abgaben in Kraft treten.
Am Wochenende wurde auch be-
kannt, dass die chinesische Industrie
den vierten Monat in Folge ge-
schrumpft ist, was auch als Folge des
Handelsstreits gewertet wurde. Der
Einkaufsmanager-Index der Industrie
gab im August zum Vormonat um 0,
Prozentpunkte auf 49,5 Punkte nach.
Damit entfernt er sich weiter von der
wichtigen Marke von 50 Punkten, ober-
halb der Wachstum angezeigt wird.
BERLIN, 1. September (dpa-AFX). Je-
der fünfte Vollzeitbeschäftigte arbeitet
für einen Niedriglohn. In ganz Deutsch-
land verdienten 4,14 Millionen Men-
schen, 19,3 Prozent der Vollzeitbeschäf-
tigten, weniger als 2203 Euro brutto im
Monat, wie aus der Antwort des Ar-
beitsministeriums auf eine Kleine An-
frage der Linken hervorgeht. Lag in
Westdeutschland der Anteil der
Niedriglöhner bei 16,5 Prozent, waren
es in Ostdeutschland 32,1 Prozent. 26,
Prozent der Frauen arbeiteten für einen
Niedriglohn, unter den Männern wa-
ren es 19,3 Prozent. Ziemlich hoch ist
der Anteil der jungen Niedriglöhner: In
der Altersgruppe unter 25 Jahren wa-
ren es 40,6 Prozent.
Der Wald verliert im Klimawandel
Von Franz Schencking und Leon Mangasarian
mj.FRANKFURT, 1. September. Das
Bundesministerium der Justiz und für Ver-
braucherschutz bleibt unter der Leitung
von Christine Lambrecht (SPD) produk-
tiv. Vor zehn Tagen hat es den Referenten-
entwurf zum Verbandssanktionengesetz
(„Unternehmensstrafrecht“) vorgestellt
und nun ein Eckpunktepapier zur Reform
des anwaltlichen Berufsrechts. In zwan-
zig Punkten geht es um die weitgehende
Öffnung für Rechtsformen, die Möglich-
keiten der Zusammenarbeit von Anwäl-
ten mit anderen Berufsgruppen und die
Frage, ob Kanzleien für Investitionen
Geldmittel von Wagniskapitalgeber auf-
nehmen dürfen. Die notwendige Neuge-
staltung der Bundesrechtsanwaltsord-
nung (BRAO) würde die größten berufs-
rechtlichen Veränderungen seit Jahrzehn-
ten bewirken. Es ist ein lange brachliegen-
des Projekt. Die drängenden Fragen hat-
ten schon Lambrechts Amtsvorgänger auf
dem Schreibtisch. Doch sowohl Heiko
Maas als auch Katarina Barley widmeten
sich überwiegend Verbraucherthemen.
Dabei hatte das Bundesverfassungs-
gericht im Februar 2016 einen dringen-
den Appell an den Gesetzgeber gerichtet,
einzelne BRAO-Normen zu modernisie-
ren. Karlsruhe kassierte damals eine Re-
gelung, wonach nur eine Zusammenar-
beit von Patentanwälten, Steuerberatern,
Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprü-
fern und vereidigten Buchprüfern erlaubt
war – nach dem Richterspruch sollen sich
Anwälte auch mit anderen Berufsgrup-
pen „interprofessionell“ in Sozietäten zu-
sammenschließen dürfen. Aber die letzte,
kleinere Gesetzesreform 2017 blendete
das anwaltliche Gesellschaftsrecht völlig
aus. Das wir nun nachgeholt. Nach dem
Eckpunktepapier will man Anwälten in ih-
ren „Berufsausübungsgesellschaften“
möglichst freie Hand lassen – sie können
zum Beispiel auch mit Ärzten oder Apo-
thekern zusammenarbeiten und die
Rechtsform weitgehend frei wählen. Inter-
essant wird das für Zusammenschlüsse
von Bauplanern, Ingenieuren, Architek-
ten und Fachjuristen im Bau- und Verga-
berecht. Grundsätzlich sollen alle natio-
nalen und europäischen Rechtsformen
zur Verfügung stehen, heißt es. Ein Vorbe-
halt zeichnet sich lediglich gegen die
Rechtsform der GmbH & Co. KG ab; dort
steht nach Angaben des Ministeriums
noch ein „in dieser Legislaturperiode vor-
gesehenes Gesetzesvorhaben“ an.
Ein Chaos möchte das Justizministeri-
um verhindern, indem alle anwaltlichen
Berufsausübungsgesellschaften in ein Ver-
zeichnis eingetragen werden müssen.
Beim Thema Fremdbesitz und der Öff-
nung für Investoren bleibt das Ministeri-
um aber zurückhaltend: Reine Kapital-
beteiligungen an Anwaltskanzleien soll
es (weiterhin) nicht geben. Nur für be-
stimmte IT-Anschaffungen und den Zu-
kauf softwareunterstützter Beratungsleis-
tungen („Legal Tech“) soll eine Ausnah-
me von dem Verbot geprüft werden.
In einer Stellungnahme hieß der Deut-
sche Anwaltverein (DAV) das Eckpunkte-
papier gut. Viele der vom Ministerium auf-
gegriffenen Punkte finden sich auch in ei-
nem Vorschlag, den Martin Henssler,
Rechtsprofessor aus Köln, im Vorjahr im
Auftrag des Anwaltvereins erstellt hat.
„Die Anwaltschaft benötigt ein Berufs-
recht, bei dem es im Wesentlichen ihr
überlassen wird, mit wem und wie sie ih-
ren Beruf ausübt“, teilte Edith Kinder-
mann, Präsidentin des Anwaltsvereins,
mit. Das bedeute zum einen die Möglich-
keit, mit anderen Berufen zusammenar-
beiten zu können; zum anderen müsse
Kanzleien offenstehen, in verschiedenen
Rechtsformen zu agieren.
Diese Öffnung gefällt auch der Bundes-
rechtsanwaltskammer (BRAK), der Dach-
organisation der anwaltlichen Selbstver-
waltung. Die vorgesehene Möglichkeit,
Wagniskapital für den Bereich Legal Tech
zuzulassen, sieht man hingegen kritisch.
„Eine solche Öffnung stellt letztlich eine
Kapitalbeteiligung durch die Hintertür
dar und ist nicht kohärent zu dem grund-
sätzlichen Verbot der Fremdkapitalbeteili-
gung“, erklärte der Präsident der Kam-
mer, Ulrich Wessels. Mit Nachdruck lehnt
die Anwaltskammer zudem die geplante
„Verbesserung interprofessioneller Zu-
sammenarbeit“ ab. Dies bedeutet, dass So-
zietäten mit beinahe jedem Berufstätigen
- außer dem Makler – gebildet werden
können. „Das ist nicht hinnehmbar und
gefährdet die Unabhängigkeit unseres Be-
rufsstandes“, meint Wessels. Er betont,
dass man weiterhin die Auffassung des
Bundesverfassungsgerichtes teile. Eine
Erweiterung hält er aber nur in Richtung
vergleichbare Berufe denkbar, die ihrer-
seits über eigene Berufspflichten und ins-
besondere eigene Verschwiegenheits-
pflichten verfügen.
Zustimmung erhält Wessels aus der Be-
rufsgruppe der Notare. Es sei unbedingt
darauf zu achten, dass die Kernwerte der
rechtsanwaltlichen Tätigkeit – Verschwie-
genheit, Unabhängigkeit und Verbot der
Vertretung widerstreitender Interessen –
nicht unüberlegt aufs Spiel gesetzt wür-
den, sagt ein Sprecher der Bundesnotar-
kammer. Eine Erweiterung der interpro-
fessionellen Zusammenarbeit sollte „nur
mit Augenmaß“ erfolgen.
tp.ROM, 1. September. Für den Fall,
dass in Italien eine neue Regierungskoali-
tion der Fünf-Sterne-Protestbewegung
und der Mitte-links orientierten Demo-
kraten entsteht, will der bisherige und
dann auch künftige Ministerpräsident
Giuseppe Conte mehr Spielraum für
Haushaltsdefizite. Dieses Ziel steht hin-
ter der Aussage von Conte auf einer Ver-
anstaltung der Fünf-Sterne-Bewegung:
„Es würde mich sehr freuen, wenn Ita-
lien einen kritischen Beitrag leisten könn-
te, um den Stabilitätspakt an den neuen
Konjunkturzyklus und an die neuen wirt-
schaftlichen Aussichten anzupassen.“
Der Stabilitätspakt von 1997 sollte in
der damals neuen Europäischen Wäh-
rungsunion garantieren, dass die Haus-
haltskriterien von Maastricht, zum Bei-
spiel eine Grenze für die Haushaltsdefizi-
te von 3 Prozent des Bruttoinlandspro-
dukts (BIP), nicht nur für den Eintritt in
die Währungsunion gelten, sondern dau-
erhaft auch für die folgenden Jahre.
Ohne den Stabilitätspakt, der Italien vor
den hohen Haushaltsdefiziten der Ver-
gangenheit abhalten und zu einem Ab-
bau der Staatsschulden bewegen sollte,
hätte das Land im Jahr 1998 wenig Chan-
cen gehabt, in die Währungsunion aufge-
nommen zu werden und damit seine
Staatsfinanzen durch niedrige Zinsen zu
stabilisieren. Doch in Italien wird der Sta-
bilitätspakt mehrheitlich als Symbol ei-
nes angeblich deutschen Diktats der Aus-
terität beschrieben. Sowohl die Fünf-Ster-
ne-Bewegung als auch die Demokraten
wünschen sich nun mehr Spielraum für
Defizite im Staatshaushalt des kommen-
den Jahres.
Ministerpräsident Conte hat noch in
der jüngsten Regierung, der inzwischen
gescheiterten Koalition der Fünf-Sterne
mit der rechten Lega, für 2020 ein Haus-
haltsdefizit von 1,8 Prozent des Bruttoin-
landsprodukts versprochen. Damit ver-
suchte er ein Vertragsverletzungsverfah-
ren der EU wegen überhöhter Defizite
und Schulden abzuwenden. Nun aber
will von diesem Versprechen niemand
mehr etwas wissen. Denn beide potentiel-
le Regierungspartner möchten die schon
für den Beginn des kommenden Jahres
gesetzlich beschlossene Erhöhung der
Mehrwertsteuer auf 25 Prozent rückgän-
gig machen. Diese Steuererhöhung war
schon im vergangenen Jahr als Garantie-
klausel gegenüber der EU-Kommission
genutzt worden, um die Sorge zu zerstreu-
en, dass die Wahlversprechen der jüngs-
ten Regierung, Bürgergeld und Rückkehr
zur Frührente, das Defizit 2020 steigen
lassen könnten. Um die Steuererhöhung
für 2020 rückgängig zu machen, sind 23
Milliarden Euro oder Mittel in Höhe von
1,3 Prozent des BIP nötig.
Für eine eventuelle Regierung haben
die beiden potentiellen Koalitionspart-
ner aber weitere teure Versprechen ge-
macht. Beide wünschen sich eine Sen-
kung der Sozialabgaben, um damit die
Beschäftigung zu fördern. Zugleich wün-
schen beide vielerlei Arten von Investitio-
nen. In den zwanzig Punkte umfassen-
den Forderungen der Fünf-Sterne-Bewe-
gung für die Koalitionsverhandlungen ist
die Rede von einem „außerordentlichen
Investitionsplan für den Süden“ sowie
„Investitionen in Infrastruktur, Umwelt
und Kultur“. Die Demokraten wünschen
in ihrem 15-Punkte-Programm „Investi-
tionen für eine moderne Infrastruktur“,
zugleich „Investitionen in die junge Ge-
neration“, mit zusätzlichen Sozialleistun-
gen für junge Italiener in Haushalten mit
niedrigen Einkommen.
Zur vielfachen Nutzung des Wortes In-
vestitionen passt die Forderung beider
potentieller Regierungsparteien, dass im
Stabilitätspakt künftig Ausgaben für In-
vestitionen ausgeklammert werden müss-
ten. Das hieße, dass Italien dann für die
laufenden Ausgaben ein Defizit von bis
zu 3 Prozent des BIP einplanen könnte
und darüber hinaus eine weitere Neuver-
schuldung für sehr großzügig definierte
Investitionen eingehen könnte. Die
Fünf-Sterne-Bewegung geht noch einen
Schritt weiter mit der Forderung nach
dem „Schutz der öffentlichen Güter wie
die staatlichen Schulen und das staatli-
che Gesundheitswesen, ohne Berücksich-
tigung der Kriterien von Maastricht“.
Das Verlangen nach mehr Ausgaben
und größeren Defiziten passt zwar nicht
zur wachsenden Staatsschuld, die Ende
März des laufenden Jahres den Wert von
134 Prozent des BIP erreicht hat. Doch
für die Finanzmärkte sind die Aussichten
auf eine Koalition der Schuldenmacher
offenbar das kleinere Übel gegenüber
der Perspektive von Neuwahlen und ei-
nem Wahlsieg des euroskeptischen Lega-
Vorsitzenden Matteo Salvini. Dieses Ur-
teil spiegelt sich in der Entwicklung des
Risikozuschlags für zehnjährige italieni-
sche Staatstitel gegenüber den deutschen
wider. Dieser Wert, „Spread“ genannt,
machte Anfang August einen Sprung von
2,1 auf 2,4 Prozentpunkte, als Lega-Chef
Salvini die Koalition aufkündigte und
Neuwahlen mit einem Wahlsieg der Lega
und Diskussionen über Italiens Mitglied-
schaft im Euro wahrscheinlich schienen.
Die Aussicht auf die neue Koalitionsre-
gierung mit den Demokraten hat den
Spread auf 1,6 Prozentpunkte sinken las-
sen. Auseinandersetzungen vor Beginn
der Koalitionsgespräche sorgten für ei-
nen Anstieg auf 1,8 Prozentpunkte.
Wirtschaftsvertreter betrachten die
Verhandlungen mit Misstrauen: Zwar hät-
ten sie gerne eine Aussetzung der Mehr-
wertsteuererhöhung und niedrigere Sozi-
alabgaben. Doch die potentielle neue Ko-
alition vertritt vor allem den Süden Ita-
liens, weniger den wirtschaftlich erfolg-
reichen Norden.
BERLIN, 1. September (AFP). Die Euro-
päische Union will das im vergangenen
Jahr in Deutschland eingeführte Baukin-
dergeld genauer unter die Lupe nehmen.
Wie die Zeitungen der Funke Medien-
gruppe am Wochenende berichteten, hat
die EU-Kommission Bedenken, dass die
Bedingungen der staatlichen Förderung
von Wohneigentum EU-Ausländer be-
nachteiligen könnten. In einem Schreiben
kritisiert die EU-Kommissarin für Sozia-
les, Marianne Thyssen, dass Anträge auf
Baukindergeld nur für in Deutschland er-
worbenes Wohneigentum gestellt werden
können und dass der Antragsteller seinen
Hauptwohnsitz in Deutschland haben
muss. Beide Voraussetzungen könnten
eine „indirekte Diskriminierung für
Grenzgänger darstellen“, schreibt Thys-
sen. Sie kündigt zudem an, „die deut-
schen Behörden zu kontaktieren, um die
rechtliche Situation zu klären“.
Die EU-Kommission hatte schon im
März ein Vertragsverletzungsverfahren
gegen Deutschland wegen der Wohnungs-
bauprämie eingeleitet. Auch damals ging
es um Grenzgänger, EU-Bürger, die in
Deutschland etwa als Arbeitnehmer steu-
erpflichtig sind, jedoch ihren Wohnsitz in
einem anderen EU-Staat haben und dort
Wohneigentum erwerben wollen. Brüssel
hatte Deutschland aufgefordert, die Dis-
kriminierung solcher Grenzgänger zu be-
seitigen und mit einer Klage vor dem Eu-
ropäischen Gerichtshof (EuGH) gedroht.
Das Bundesinnenministerium wies die
Kritik zurück. Die EU-Kommission sei
bisher auch nicht offiziell an das Ministe-
rium herangetreten, sagte ein Sprecher
den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Das Baukindergeld war im vergangenen
Jahr eingeführt worden, um Familien den
Erwerb von Immobilien zum Eigenbedarf
zu erleichtern.
ami.BERLIN, 1. September. Die deut-
schen Kassenärzte geben einen Millio-
nenbetrag aus, um die bundesweite Ruf-
nummer 116 117 für den ärztlichen Be-
reitschaftsdienst besser bekanntzuma-
chen. Dazu werden auch Fernsehspots
geschaltet. Um die Telefonnummer ein-
prägsamer zu machen, läuft die Kampa-
gne für die Nummer „Elf6, Elf7“ unter
dem Stichwort „Die Elfen, die helfen“.
Die hinter der Nummer stehenden Call-
center sollen zu einer zentralen Steue-
rungsplattform werden, über die Patien-
ten Ärzte finden, Arzttermine zugewie-
sen bekommen und sich mit akuten Be-
schwerden melden können. Für die Kas-
senärzte ist das auch wichtig, weil sie
der Politik beweisen wollen, dass sie
sich aktiv darum bemühen, Patienten
auch außerhalb der Sprechstundenzei-
ten zu versorgen.
BUENOS AIRES, 1. September (dpa-
AFX). Die argentinische Regierung
will die Abwertung des Pesos stoppen
und eine weitere Kapitalflucht aus
dem hochverschuldeten Land verhin-
dern. Kreditinstitute müssen größere
Verschiebungen ihres Vermögens künf-
tig von der Zentralbank genehmigen
lassen, wie die Notenbank mitteilte.
Laut einem Bericht der Zeitung „La Na-
ción“ will die Zentralbank von der
kommenden Woche an zudem stark
am Devisenmarkt intervenieren, um
die Landeswährung zu stützen.
Zuvor hatten die Ratingagenturen
Fitch und Moody’s ihre Einschätzun-
gen zur Kreditwürdigkeit Argentiniens
abermals gesenkt. Fitch korrigierte das
Rating von „CCC“ auf „RD“. Das be-
deutet „Restricted Default“, einge-
schränkter Kreditausfall, und ist nur
eine Stufe vom Rating für Zahlungsaus-
fall entfernt. Argentinien habe einsei-
tig beschlossen, fällige Schuldtitel erst
später zurückzubezahlen, teilte die Ra-
tingagentur mit. Moody’s stufte die
Schulden von Argentinien von „B2“
auf „Caa2“ hinab. Damit gelten die
Kredite des Landes für die Ratingagen-
tur nun als „extrem spekulativ“.
Neben der Fälligkeit von Staatsanlei-
hen will die argentinische Regierung
auch den Rückzahlungstermin für die
Milliardenkredite des Internationalen
Währungsfonds (IWF) verschieben.
Neue Strafzölle
im Handelsstreit
Anwälte sollen sich mit Ärzten zusammenschließen dürfen
Anwälte auf neuen Wegen Foto mediacolors
Italiens wahrscheinliche Regierung ruft nach höheren Schulden
Die potentiellen Koalitionspartner wollen teure Versprechen finanzieren / Für die Finanzmärkte das kleinere Übel
EU prüft deutsches
Baukindergeld
Wie Patienten
Ärzte finden
Viele arbeiten
für Niedriglohn
Argentinien ist kaum
noch kreditwürdig
Das Berufsrecht muss
modernisiert werden: Das
Justizministerium plädiert für
eine Zusammenarbeit mit
vielen anderen Berufen.
Ist die anwaltliche
Unabhängigkeit in Gefahr?