Frankfurter Allgemeine Zeitung - 02.09.2019

(lily) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik MONTAG, 2. SEPTEMBER 2019·NR. 203·SEITE 3


POTSDAM/WERDER, 1. September. Da-
vor oder doch dahinter? Das versprach
die größte Frage an diesem Wahlabend in
Brandenburg für SPD und AfD zu wer-
den. Natürlich mit entgegengesetzten
Hoffnungen. Die AfD wollte zum ersten
Mal in einem Bundesland stärkste Kraft
werden. Die Sozialdemokraten wollten
die Spitzenposition verteidigen, wenigs-
tens das aus ihrer Sicht Schlimmste ver-
hindern. Ein Sieg der AfD, so hatten sie
argumentiert, wäre ein enormer Image-
schaden für Brandenburg, das von der Flä-
che her größte Bundesland im Osten.
Die SPD hatte daher ihren Wahlkampf
ganz auf die Gegnerschaft zur AfD ausge-
richtet. Es gehe um Stabilität und Zusam-
menhalt, um „EIN Brandenburg“, wie der
Wahlslogan der Sozialdemokraten laute-
te. Am Ende hatte der nicht zu Verbalatta-
cken neigende Ministerpräsident Diet-
mar Woidke sogar den AfD-Spitzenmann
Andreas Kalbitz persönlich angegriffen.
„Er war immer ein Rechtsextremist und
steckt tief im braunen Sumpf“, hatte
Woidke am Freitag beim Wahlkampfab-
schluss der SPD gesagt. Brandenburg
habe es nicht verdient, einen Stempel des
Extremismus aufgedrückt zu bekommen.
Am Abend um 18 Uhr zeigt sich, dass
die Strategie der SPD aufgegangen ist. Bis
vor drei Wochen hatte sie in den Umfra-
gen noch deutlich hinter der AfD gelegen,
bei nur 17 Prozent. Zuletzt lagen beide
Parteien in den Umfragen bei rund 22 Pro-
zent. Am Abend ist die Erleichterung bei
der SPD, die auf der Wissenschaftsetage
im Bildungsforum Potsdam nahe dem
Landtag ihre Wahlparty feiert, noch grö-
ßer als der Jubel. Mit fünf Prozentpunk-
ten liegt die SPD laut Prognose vor der
AfD. Später verringert er sich nach einer
Hochrechnung. Doch die SPD bleibt mit
rund 26 Prozent vorne, die AfD kommt
danach auf knapp 24 Prozent. Woidke
spricht von einem „sehr, sehr guten Ergeb-
nis“ für die SPD. Seine Partei sei „immer
besser geworden“ in diesem Wahlkampf.
„Was mir Sorge macht, ist das Ergebnis
der AfD“, sagt der Ministerpräsident wei-
ter. Auch Vizekanzler Olaf Scholz ist ge-
kommen, er wohnt in der Landeshaupt-
stadt, präsentiert sich mit der Potsdame-
rin Klara Geywitz, beide kandidieren zu-
sammen für den SPD-Vorsitz und nutzen
die Gelegenheit für einen Auftritt.
Es war die Polarisierung gegen die
AfD, die das Aufholen der SPD möglich
machte – aber wohl auch der Amtsinha-

berbonus. Der 57 Jahre alte Ministerpräsi-
dent Woidke ist zwar kein guter Redner
und tut sich mit neuen Ideen schwer. Vie-
le Wähler haben ihm übelgenommen,
dass er die Kreisgebietsreform durchdrü-
cken wollte. Dennoch ist der 1,96-Meter-
Mann mit der sonoren Stimme immer
noch der beliebteste Politiker im Land,
passt in seiner bodenständigen Art gut zu
den meist unaufgeregten Brandenbur-
gern. Der „Den kenn ich“-Faktor hat of-
fenbar bewirkt, dass die Sozialdemokra-
ten am Ende noch zulegten.
Dennoch erlebt die SPD am Wahl-
abend herbe Verluste. Brandenburg war
stets der Leuchtturm der Partei im Osten.
Seit der Wende hat sie den Ministerpräsi-
denten gestellt, erst Manfred Stolpe, dann
Matthias Platzeck, seit 2013 Woidke.
Knapp 32 Prozent hatte sie mit Woidke
vor fünf Jahren noch erreicht. Die Zeit, in
der sich die SPD eine Partei, CDU oder
Linke, zum Regieren aussuchen konnte,
ist vorbei. Sie braucht mindestens zwei
Partner, um weiter regieren zu können.
Manche sehen an diesem Abend die
Schwäche der Bundespartei als den
Grund für dieses Abschneiden der märki-
schen SPD. Doch viele sind auch mit
Woidke unzufrieden, halten eine Erneue-
rung mit ihm an der Spitze für unmög-
lich. Geywitz wird intern als mögliche
Nachfolgerin genannt.
Die AfD hingegen könnte eigentlich zu-
frieden sein – hätte sie nicht selbst das
Ziel ausgegeben, stärkste Kraft in Bran-
denburg zu werden. Bei der Europawahl
im Mai war ihr das schon gelungen – 19,
Prozent hatten dafür gereicht. Nun zeigt
sich, dass dem Erfolg Grenzen gesetzt
sind. Als „Sahnehäubchen“ hätte er sich
gewünscht, stärkste Kraft zu werden, sagt
Kalbitz, als bei der Wahlparty auf der Bis-
marckhöhe in Werder (Havel), zehn Kilo-
meter westlich von Potsdam, die erste Pro-
gnose bekanntgegeben wird. Trotz allem
sind die Gäste außer sich. „Kalbitz, Kal-
bitz“, skandiert die Menge. „Es ist nicht
Kalbitz, es ist die AfD“, sagt der Spitzen-
kandidat, der seinen Parteifreund Björn
Höcke nach der Bekanntgabe der Zahlen
fest umarmt hat. Die beiden Politiker sind
die führenden Köpfe im sogenannten Flü-
gel. Der 46 Jahre alte Kalbitz hatte in sei-
ner Vergangenheit eine Vielzahl an Ver-
bindungen zu rechtsextremistisch einge-
stuften Vereinen. Man kann vermuten,
dass das am Ende das Ergebnis der AfD
noch geschmälert hat. Dass die Partei kei-

ne Chance hat, Regierungsverantwortung
zu übernehmen, war ohnehin klar – denn
keine der anderen Parteien will mit ihr ko-
alieren. Aber die AfD ist mit sich zufrie-
den. „Wir haben hervorragende Arbeit ge-
leistet“, sagt Kalbitz. Im Vergleich zur vo-
rigen Landtagswahl sieht das Ergebnis tat-
sächlich gut aus. Vor fünf Jahren war sie
in Brandenburg zum ersten Mal mit ei-
nem zweistelligen Ergebnis in einen Land-
tag eingezogen, hatte 12,2 Prozent der
Stimmen erreicht. Nun hat sie das Ergeb-
nis fast verdoppelt – und feiert ihren Er-
folg. Auch der Ko-Parteivorsitzende Alex-
ander Gauland spricht auf der Wahlparty:
„Ja, ich gebe zu, wenn wir Nr. 1 geworden
wären, wäre es noch schöner.“ Die AfD,
sagt Gauland, sei in Brandenburg „die
große bürgerliche Opposition“. Vorsichts-
halber bittet er deshalb seine Parteifreun-
de, sich „im Siegestaumel“ vernünftig zu
benehmen. Der Organisator der Wahlpar-
ty tritt schließlich ans Mikrofon und ruft
in den Saal mit Stuck und drei großen
Kronleuchtern: „Das Wahlergebnis ist ex-
trem geil, und das Buffet ist eröffnet.“ Da
strömen die Gäste gerne hin.
Die Grünen hatten sich mehr erhofft.
Nur 10,6 Prozent lautet ihr Ergebnis laut
Hochrechnung. Die Polarisierung zwi-
schen SPD und AfD hat den Grünen of-
fenbar erheblich geschadet. Zwischenzeit-
lich waren für sie 17 Prozent in Umfragen
gemessen worden, Spitzenkandidatin Ur-
sula Nonnemacher hatte sich sogar genö-
tigt gesehen, ihre Bereitschaft zu bekun-
den, Ministerpräsidentin des Landes zu
werden. Davon sind die Grünen weit ent-
fernt gelandet. Doch eigentlich gehört die
Partei, die im Osten lange ein Kümmerda-
sein fristete und in Brandenburg 2014 nur
6,2 Prozent holte, zu den Gewinnern, hat
ihr Ergebnis deutlich verbessert. Die Grü-
nen in Brandenburg sind von einer klei-
nen Oppositionskraft zum mitentschei-
denden Partner geworden. Für eine Regie-
rungskoalition werden sie sehr wahr-
scheinlich gebraucht.
Enttäuschend verlief der Wahlabend
hingegen für die CDU. Vor fünf Jahren
hatte die Partei 23 Prozent geholt, nun
werden ihr nur um die 16 Prozent. Vor al-
lem aber wollte die brandenburgische
Union vor der SPD liegen. Ihr Spitzen-
mann Ingo Senftleben hatte sich seit lan-
gem das Ziel gesetzt, Ministerpräsident
zu werden. Und er hatte viel dafür getan,
dass dies erreichbar erschien. So wurde
die Brandenburger CDU, die notorisch

zerstritten war, unter seiner Führung zu
einer Kraft, die endlich geeint schien.
Senftleben, der im liberalen Merkel-Flü-
gel der Partei zu Hause ist, suchte zu-
gleich nach einer Machtoption, um die
CDU aus der Abhängigkeit von der seit
fast 30 Jahren regierenden SPD zu lösen.
Dafür beging er sogar einen Tabubruch.
Er suchte nicht nur nach Gemeinsamkei-
ten mit den Grünen, sondern schloss
auch ein Bündnis mit der Linkspartei
nicht aus. Die Konservativen in seinem
Landesverband zahlten es ihm im Som-
mer heim, gaben ihm bei der Wahl des
Spitzenkandidaten nur gut 69 Prozent
und zerpflückten die von ihm aufgestellte
Landesliste. Senftleben war also durch sei-
ne eigenen Leute schon vor der Wahl be-
schädigt worden. Er gehörte zu seiner
Strategie, seinen Wahlkampf um das Mi-
nisterpräsidentenamt als Duell mit Woid-
ke zu gestalten. Doch diese Strategie ging

nicht auf. Er sei enttäuscht, sagte Senftle-
ben in einer ersten Stellungnahme. Die
entscheidende Wahlkampfphase sei von
der Frage, ob die AfD erstmals stärkste
Kraft werde, geprägt worden. Landesthe-
men hätten keine Rolle mehr gespielt.
„Eine Bestätigung der SPD oder des Mi-
nisterpräsidenten ist darin nicht zu erbli-
cken“, so Senftleben.
Er machte zugleich klar, dass die CDU
zum Eintritt in eine Koalitionsregierung
bereit sei. Seine innerparteilichen Geg-
ner vom konservativen CDU-Flügel könn-
ten nun aber die Führungsfrage in der Par-
tei stellen.
Die Linkspartei, die seit zehn Jahren
mit der SPD regiert, hat ebenfalls deut-
lich verloren. Der Sieg der SPD ging auch
auf Kosten des Koalitionspartners. Zwar
war klar, dass die 18,6 Prozent, die die Par-
tei vor fünf Jahren erzielte, nicht zu hal-
ten sein würden. Nun wurden ihr 11 Pro-

zent prognostiziert. Die Partei hatte
schon Schlimmeres befürchtet, nachdem
ihre Hoffnungsträgerin, die frühere Sozi-
al- und Gesundheitsministerin Diana Gol-
ze, wegen eines Pharmaskandals hatte zu-
rücktreten müssen und nicht mehr als
Spitzenkandidatin in Frage kam. Zudem
hat die Linke den Nimbus der Ostpartei
bei den Wählern weitgehend verloren.
Der Protest hat sich von links außen nach
rechts außen zur AfD verschoben. Die
Partei erlebt zudem einen Generationen-
wechsel. Während die alte Garde, die aus
pragmatisch orientierten Leuten besteht,
langsam ihre Führungsämter abgibt, will
eine jüngere Generation die Partei deut-
lich nach links verschieben. Viele aus die-
ser Generation würden es vorziehen,
wenn sich eine Neuorientierung in der
Opposition vollzöge.
Erfreulich ist die Entwicklung der
Wahlbeteiligung. Mehr als 60 Prozent der
Brandenburger gingen zur Wahl, zwölf
Prozent mehr als vor fünf Jahren. Wie
sich der Landtag zusammensetzen wird,
das hat auch mit zwei kleinen Parteien zu
tun: der FDP und den Freien Wählern.
Die FDP, die vor fünf Jahren mit 1,5 Pro-
zent ein Desaster erlebt hatte, lag in den
Umfragen zuletzt stets bei fünf Prozent,
aber schaffte nicht den Einzug in den
Landtag – laut Hochrechnung kam sie auf
4,4 Prozent. Knapp geschafft haben es
hingegen wohl die Freien Wähler. Die
Hochrechnungen sahen sie knapp über
fünf Prozent. Nach dem brandenburgi-
schen Wahlgesetz könnte ein Direktman-
dat ihnen aber auch mit dem Verfehlen
dieser Marke den Einzug in den Landtag
bescheren. Dann nämlich entfällt die
Fünfprozenthürde, so dass eine Gruppe
von mehreren Abgeordneten entspre-
chend dem Zweitstimmenergebnis in den
Landtag einziehen könnte. So war es vor
fünf Jahren. Auch diesmal hat ein Kandi-
dat, Péter Vida, Chancen, das Direktman-
dat im Wahlkreis Bernau zu gewinnen.
Wenn der Landtag sich am 25. Septem-
ber konstituiert hat, dann haben die Par-
teien drei Monate Zeit, sich auf eine Ko-
alition zu einigen. Am wahrscheinlichs-
ten scheint eine rot-rot-grüne Koalition.
Die innerparteilichen Folgen der Wahl in
der SPD, der CDU und bei den Linken
sind allerdings kaum abschätzbar. „Bran-
denburg. Es kann so einfach sein“ – so lau-
tet der Leitspruch der Imagekampagne
des Landes. Zumindest für diese Wahl hat
er sich schon als ungeeignet erwiesen.

DRESDEN/BAUTZEN/LEIPZIG,


  1. September


V


ergleicht man das Ergebnis
mit der Wahl vor fünf Jahren,
war es eine Niederlage – fast
sieben Prozentpunkte weniger
als damals, ein klarer Verlust.
So sieht das an diesem Abend niemand
auf der Dachterrasse des Dresdner Land-
tags, wo sich die sächsische CDU versam-
melt hat. Als um 18 Uhr die ersten Pro-
gnosen über den Ticker laufen, zeigt sich
in den Reihen der Parteimitglieder vor al-
lem Erleichterung: Jubel im Saal, Freu-
denschreie, in die Höhe gereckte Arme.
Demnach kommt die Partei auf 33 Pro-
zent der Stimmen, das sind fünf Punkte
mehr als die AfD, die bei 28 landet. Und
schnell wird klar, warum das für die CDU
kein Tag der Trauer ist, sondern das glatte
Gegenteil. Im Wahlkampf waren die bei-
den Parteien noch vor wenigen Wochen
gleichauf, die CDU bangte um ihre füh-
rende Rolle im Freistaat – und jetzt das,
jetzt dieses Ergebnis klar über 30 Prozent,
jetzt dieser deutliche Abstand zur AfD.
Als Ministerpräsident Michael Kretsch-
mer auf die Bühne tritt, wird er von sei-
nen Anhängern stürmisch begrüßt. Seine
Botschaft lautet: „Wir haben es ge-
schafft.“ Dass sich am Sonntag dann doch
deutlich mehr Wähler für die CDU ent-
schieden haben als gedacht, sei ein Zei-
chen, ein Signal. „Das freundliche Sach-
sen hat gewonnen“, sagt Kretschmer. Mit
dem Ergebnis lasse sich eine stabile Regie-
rung bilden. Und Kretschmer, der seinen
Wahlkampf auf den Dialog mit allen Sach-
sen ausgerichtet hat, kündigt an, sich nun
weiter um jene zu bemühen, die er bis-
lang nicht erreicht habe und die ihr Kreuz
dann doch bei der AfD gemacht hatten.
Der Ministerpräsident sagt: „Wir wollen
miteinander reden, nicht übereinander.“
Noch größer wird der Jubel, als am spä-
ten Abend aus Görlitz die Nachricht
kommt, dass Kretschmer auch das Direkt-
mandat in seiner Heimatstadt gewonnen
hat. „Wir hatten hier noch eine Rechnung
mit der AfD offen“, sagt seine Mitarbeite-
rin, die miterleben musste, wie Kretsch-
mer vor zwei Jahren sein Bundestags-Di-
rektmandat an den AfD-Bewerber verlor.
Die Scharte hat er ausgewetzt – und mit
acht Prozentpunkten Vorsprung vor Se-
bastian Wippel von der AfD, der im Mai

bereits die Oberbürgermeisterwahl in
Görlitz verloren hatte, klar deklassiert.
Als sich die prognostizierten Stimmen-
anteile der Parteien im Lauf des Abends
verfestigen, da die inzwischen vorliegen-
den Hochrechnungen aus den Wahlkrei-
sen ein immer schärferes Bild erlauben,
bleibt die Stimmung bei der CDU gelöst.
Doch es mischen sich auch erste Sorgen
darunter, insbesondere, als der CDU in
Ostsachsen immer mehr Wahlkreise an
die AfD verloren gehen. Doch die CDU-
Wähler, mit denen man lange nicht ge-
rechnet hatte, seien von Anhängern der
SPD und den Grünen gekommen, sagt
Werner Patzelt. Der Dresdner Politikwis-
senschaftler hat das Wahlprogramm der
CDU mit verfasst. Er sagt: „Das Ziel, der
AfD Wähler abzuwerben, ist nicht er-
reicht worden.“ Vor dieser Aufgabe steht
die sächsische CDU nach wie vor.
Ein paar Räume weiter trifft der AfD-
Bundesvorsitzende Jörg Meuthen eine
ganz ähnliche Analyse. „Das, was die
CDU gewonnen hat, hat sie nicht von uns
geholt, sondern bei SPD und Grünen, und
das freut mich ganz besonders.“ Schon als
um 18 Uhr bei der AfD die ersten Ergebnis-
se hereinkommen, brandet zwei Mal or-
dentlich Applaus auf. Das erste Mal, als
im Fernsehen der rote Balken für die SPD
bei acht Prozent stehen bleibt. Im Laufe
des Abends wird er eher noch fallen. Noch
lauter wird es, als der hellblaue Balken der
eigenen Partei bis auf 27,5 Prozent klettert


  • der Wert steigt später sogar noch auf 28
    Prozent. Das sind etwa 18 Punkte mehr als



  1. Die Freude hält allerdings nur kurz
    an, denn zwei Ziele hat die Partei verfehlt:
    Weder hat sie mehr als 30 Prozent er-
    reicht, noch ist sie stärkste Kraft gewor-
    den. Da ist es nicht ohne Ironie, dass die
    AfD ihre Wahlparty im größten Raum des
    Landtags veranstaltet, dem Sitzungssaal
    der CDU-Fraktion. Der wird der CDU
    wohl auch künftig zur Verfügung stehen.
    Zwar hatte die AfD mit dem Ergebnis
    angesichts der jüngsten Umfragen vor
    dem Wahltag bereits gerechnet, den Tri-
    umph des starken Zugewinns will sie am
    Sonntag gleichwohl auskosten. „Begrüßt
    mit mir den Wahlsieger des heutigen
    Abends“, ruft der Bundesvorsitzende Jörg
    Meuthen, bevor der sächsische Spitzen-
    kandidat Jörg Urban ans Mikrofon tritt.
    Er hat bereits einen Sprechzettel vorberei-


tet, in dem er das Ergebnis für seine Par-
tei als „historisch“ bezeichnet. „Unsere
junge Partei hat die CDU-Hochburg Sach-
sen gehörig ins Wanken gebracht“, ruft er
seinen Anhängern zu. Angesichts des
größten Zuwachses aller Parteien sei die
AfD „heute der Wahlsieger“. Urban wäre
aber nicht Urban, wenn er in den allge-
meinen Jubel nicht auch noch eine Klage
anstimmen würde: Die AfD sei wie keine
andere Partei im Wahlkampf behindert
worden, ihre Plakate seien zerstört, ihre
Wahlkämpfer angegriffen und ihre Lan-
desliste gekürzt worden. Für den neuen
Landtag, in dem Partei voraussichtlich
mit 30 Abgeordneten vertreten sein wird,
kündigte er als erste Maßnahme an, einen
Untersuchungsausschuss zur Landtags-
wahl einzurichten.
Tatsächlich ist bis zum späten Abend
unklar, wie viele Kandidaten die Partei in
den Landtag schicken kann. Nachdem die
AfD Fehler bei der Aufstellung ihrer Lan-
desliste gemacht hatte, konnte sie ledig-
lich mit 30 ihrer 60 gewählten Listenkan-
didaten zur Wahl antreten. Und während
die sächsischen Kandidaten im Anschluss
an die 18-Uhr-Prognose schnell auf den

am Terrassenufer bereitliegenden Elb-
Dampfer für die parteiinterne Wahlparty
eilen, bleibt Jörg Meuthen im Landtag,
um seiner Partei vor Journalisten eine gro-
ße Zukunft vorauszusagen. „Das Potenti-
al der AfD ist noch lange nicht ausge-
schöpft“, erklärt er. Im Gegenteil, das
Sachsen-Ergebnis werde der Alternative
„bundesweit einen Schub“ geben.
Allerdings war die AfD noch vor Be-
ginn der parlamentarischen Sommerpau-
se drauf und dran, die CDU auch bei der
Landtagswahl zu überholen und damit
nach ihren Siegen bei der Bundestags-
und Europawahl in Sachsen ihren dritten
Triumph in Folge einzufahren. Jörg Ur-
ban träumte schon vom Amt des Minister-
präsidenten und einer Koalition mit der
CDU, in der sich die Union als Junior-
Partner fortan „unterordnen“ sollte. „Ich
würde wirklich gern regieren“, sagte er
noch zehn Tage vor der Wahl in Bautzen.
Allerdings nur, wenn die AfD den Ton an-
gebe. Dann aber wird am späten Abend
bekannt, dass Urban auch sein schon si-
cher geglaubtes Direktmandat im Wahl-
kreis Bautzen 5 gegen den langjährigen
CDU-Inhaber Marko Schiemann verliert,

der sich am Ende noch einmal knapp
durchsetzt. Der AfD-Mann ist trotz größ-
ten Zuwachses für seine Partei mit allen
Wahlzielen gescheitert.
Dass es der CDU gelungen ist, an den
letzten Tagen des Wahlkampfs zuzulegen,
hat auch etwas damit zu tun, dass Kretsch-
mer noch einmal alle Reserven mobili-
siert. „Das tut so gut, dass Sie alle hier
sind“, rief er kurz vor dem Wahltag in
Leipzig am Platz an der Nikolaikirche den
rund tausend Menschen zu, die zur Ab-
schlussveranstaltung seines Wahlkampfs
gekommen waren.
Es war ein bemerkenswerter Wahl-
kampf im Freistaat, denn es ging erstaun-
lich oft um Inhalte; um Bildung, Sicher-
heit, Bürokratie, Klima, Migration. Und
Bürger und Politiker sprachen miteinan-
der, hörten einander zu, manchmal viel-
leicht mit zu viel Verständnis auch für un-
verständliche Positionen, aber überwie-
gend mit Respekt. Alle Parteien hatten da-
für fast ausnahmslos auf Großveranstal-
tungen verzichtet und eher kleine, persön-
liche Formate angeboten, die sich viel we-
niger fürs Hassen und Wüten eignen –
schon gar nicht, wenn einem CDU-Chef

Michael Kretschmer eine selbst gegrillte
Wurst in die Hand drückt, wenn Linke-
Spitzenkandidat Rico Gebhardt symbo-
lisch einen einstigen Tante-Emma-Laden
im Dorf wieder aufmacht, wenn die Grü-
nen zum Austausch in sogenannten
Town-Hall-Meetings laden, die AfD im
DDR-Wohnanhänger vorfährt oder wenn
der SPD-Vorsitzende in der Fußgängerzo-
ne auf Augenhöhe mit den Leuten redet.
Zu erkennen ist das auch an der Wahlbe-
teiligung, die diesmal deutlich steigt. Laut
Prognosen stimmten am Sonntag fast
zwei Drittel der wahlberechtigten Sach-
sen ab. Vor fünf Jahren war am Ende
nicht einmal die Hälfte der Wahlberech-
tigten zur Abstimmung gegangen.
Eher verhalten jubelten die Grünen,
die im Vergleich zu 2014 zwar zulegten,
entgegen aller Prognosen aber nicht zwei-
stellig abschneiden. Dafür haben die Grü-
nen erstmals Wahlkreise in Sachsen di-
rekt gewonnen; im Wahlkreis Dresden 5
setzte sich der Kandidat Thomas Löser
durch, im Kreis Leipzig 5 gewann die Lan-
desvorsitzende Christin Melcher, in Leip-
zig 4 Norman Volger. Gleichwohl sieht es
im Laufe des Abends dann sogar so aus,
als könnte die CDU mit der SPD allein
weiterregieren. Die Grünen haben von
Anfang an klar gemacht, dass sie nicht als
bloßer Mehrheitsbeschaffer zur Verfü-
gung stehen, sondern eine Beteiligung
vielmehr abhängig von klaren inhaltli-
chen Anpassungen der Regierungspolitik
hin zu mehr Umweltverträglichkeit und
Weltoffenheit machen werden. Die grund-
sätzliche Bereitschaft aber, Verantwor-
tung zu übernehmen, ist in dem Landes-
verband vorhanden – vor fünf Jahren hat-
te er sich einer damals bereits möglichen
Koalition mit der CDU verweigert.
Ein Drama mit Ankündigung liefert da-
gegen die SPD. Trotz guter und skandal-
freier Arbeit in der Koalition kommt sie
nicht gegen das Chaos an der Bundesspit-
ze in Berlin an. Die Sozialdemokraten im
Freistaat sacken auf knapp acht Prozent
ab. Auf der Wahlparty im neu eröffneten
Dresdner Herbert-Wehner-Haus ist die
Stimmung dennoch verhalten positiv.
Denn am Ende könnte es für die SPD wie-
der zum Mitregieren reichen.
Wenig zu holen gibt es bei dieser Wahl
für die Linkspartei. Sie konnte – ebenso
wie SPD und FDP – angesichts der Polari-
sierung zwischen AfD, CDU und Grünen
nicht viel erwarten. Das Ergebnis von gut
zehn Prozent der Stimmen, halb so viel
wie vor fünf Jahren, ist dann aber doch
ein Schock. So klein war die Linke noch
nie im Freistaat, zudem muss sie ihren bis-
herigen Dauerstatus als stärkste Oppositi-
onspartei im Landtag in Dresden an die
AfD abgeben. Die FDP wiederum, die
Sachsens Wähler 2014 auch angesichts
des verheerenden Bundestrends aus der
Regierungsverantwortung direkt in die au-
ßerparlamentarische Opposition ge-
schickt hatten, wollte es unbedingt schaf-
fen, nach fünf Jahren Abstinenz wieder
ins Parlament zurückzukehren. Doch die-
ses Projekt ist gescheitert. Auf der Wahl-
party der Liberalen im Dresdner Kon-
gresszentrum war schon kurz nach Ver-
kündung der ersten Hochrechnungen gäh-
nende Leere.

Brandenburg und der „Den kenn ich“-Faktor


Die SPD profitiert am Ende dann doch vom Amtsinhaberbonus des Ministerpräsidenten / Von Tobias Schrörs und Markus Wehner


Im Bundesland


des Lächelns


Bekannt im Land:Dietmar Woidke mit Frau am Wahlabend Foto Matthias Lüdecke

Sachsens Ministerpräsident Kretschmer kämpfte in


den letzten Tagen des Wahlkampfs um jeden Wähler



  • ein Einsatz, der sich für seine Partei ausgezahlt hat.


Von Kim Björn Becker und Stefan Locke


Erleichterung:Michael Kretschmer und seine Partnerin Annett Hofmann nach den ersten Hochrechnungen Foto Robert Gommlich
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