Der Stern - 22.08.2019

(Tuis.) #1

N


eben meinem Laptop steht eine
Schachtel After Eight (#keine-
werbungtrotzmarkennennung),
meine Linke blättert zunehmend
hektisch durch die schon leeren
Papiertütchen. Verdammt, das
kann doch nicht wahr sein, da muss doch
noch was drin sein, ich kann doch unmög-
lich schon ... Doch. Alles alle.
Keine zehn Minuten, nachdem
ich die Packung aus dem Kühl-
schrank geholt habe, ist nichts
mehr übrig von dem Zeug,
nicht mal die Erinnerung, es
überhaupt gegessen zu haben.
Und mich ärgert nicht etwa die
Tatsache, die Packung so ge-
dankenlos in mich hineinge-
räumt zu haben, sondern dass
nicht mehr drin gewesen ist.
Ich beobachte an mir, dass
ich inzwischen bestimmte
Dinge nur noch in ganzen Pa-
ckungen zu mir nehme, und
zwar ohne jedes schlechte
Gewissen. Eine Tüte Gummi-
bärchen oder Chips muss kom-
plett geleert werden, was denn
sonst? Der 500-ml-Becher Eis-
creme ist meine Standardgrö-
ße. Kann man weniger essen als
das? Gar einen halbgeleerten
Becher wieder ins Eisfach stel-
len? Nee. Dasselbe gilt für Me-
dienkonsum. Eine einzige Fol-
ge einer neuen Serie sehen?
Undenkbar, zwei bis vier müs-
sen es mindestens sein. Zum
Einschlafen dann noch eine
Handvoll Podcast-Folgen, über
die ich meist wegdöse. Um
dann nachts um drei von Stim-
men geweckt zu werden, die
mir neben meinem Kopfkissen was erzäh-
len: Vermutlich läuft da gerade die vierte
Stunde eines fünfeinhalbstündigen Inter-
view-Podcasts. Der Exzess ist zum Normal-
fall geworden.
Über das Phänomen Bingeing, also den
übermäßigen Konsum von Genussmitteln
aller Art – Essen, Alkohol, Netflix-Serien,
Videospiele – ist in den letzten Jahren
viel nachgedacht und geschrieben worden.

Interessant ist, dass sich der Begriff, der
ursprünglich ein Krankheitsbild bezeich-
nete, von einer Vokabel des Pathologischen
zur Beschreibung einer Kulturtechnik ge-
wandelt hat. Der Binge, das Reinziehen, das
Zuviel von etwas, für das es kein Genug
mehr zu geben scheint, gilt inzwischen als
Standard – so sehr, dass es schon Unter-
formen des Bingeing gibt: den Comfort
Binge etwa, also das wiederholte Binge

Watching von Serien, die man schon so oft
gesehen hat, dass man sie mitsprechen
kann. Oder das Binge Racing: den gefühl-
ten Zwang, sofort dann, wenn die neue
Staffel der Lieblingsserie auf Netflix hoch-
geladen wird, alle Folgen hintereinander
wegzugucken, im Idealfall innerhalb von
24 Stunden. Ich wollte mich vor Kurzem
mit einer Freundin verabreden,
die allen Ernstes schrieb: „Mor-
gen geht nicht wg QE4“. Über-
setzt: Die vierte Staffel von
„Queer Eye“ wurde hochgela-
den, acht Folgen à 46 Minuten,
werbefrei, gute sechs Stunden
unverschnittene Ware, selbst
wenn man Intro und Abspann
überspringt. Ich weiß nicht, ob
es für oder gegen mich spricht,
dass ich absolutes Verständnis
dafür hatte, den Termin ver-
schieben zu müssen.
Wie merkwürdig, dass einem
nur noch ein Gefühl aufstei-
gender Übelkeit signalisiert,
dass es jetzt aber echt genug ist.
Wieso ist das so schwer? Wieso
zieht man sich etwas eigentlich
Genussvolles auf komplett ge-
nussfreie, am Ende lustlose,
aber trotzdem unstoppbare
Weise rein? Welche Lücke soll
da gestopft werden? Oder ist es
reine Notwehr, weil man hofft,
den Strom des Immerneuen
wenn schon nicht mit Tassen,
dann wenigstens mit Eimern
leerschöpfen zu können? Kei-
ne Chance, natürlich nicht.
Ich habe mir ein persönli-
ches Resozialisierungspro-
gramm auferlegt. Kündige mit
Bedauern Podcast-Abos, nutze
nur noch einen statt drei Streamingdiens-
ten und werde in Zukunft vermutlich nicht
mehr mitreden können. Aber durchatmen
und durchschlafen. Die Sache mit dem Eis
regle ich dann im nächsten Jahr. 2

Krankheit oder Kulturtechnik? Vom Phänomen


Bingeing: Wir konsumieren Genussmittel aller


Art im Übermaß – ob Essen, Alkohol oder Netflix


Immer volle Kanne


100 22.8.2019

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Die Bestsellerautorin Meike Winnemuth („Das große Los“, „Um es kurz zu machen“) schreibt alle zwei Wochen im stern

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