Der Stern - 22.08.2019

(Tuis.) #1
Längst über die Lebensmitte, aber
immer noch voll dabei. Frauen wie
„Gloria“ gibt es im Kino leider selten.
Der Chilene Sebastiàn Lelio hat nun
ein Remake seines eigenen Werks ge-
dreht: Das Original spielt in Chile, die
Neuverfilmung in Los Angeles – mit
Julianne Moore in der Titelrolle. Als
geschiedene Mutter driftet sie durch
die Ü50-Single-Tanztreffs. Spaß hat
sie, einsam ist sie dennoch. Das hu-
morvoll-melancholische Porträt folgt
ihr auf Schritt und Tritt, ohne große

Story. Trotzdem schön. (^22222)
Roberto Saviano und die Camorra –
eine unendliche Geschichte. Auch bei
„Paranza – Der Clan der Kinder“
stammen Romanvorlage und Teile
des Drehbuchs von dem italienischen
Mafia-Spezialisten. Nur dass die
Gangster nun noch jünger sind als bei
„Gomorrha“. Nämlich Teenager, die
die etablierten Bosse erst reizen und
dann entmachten. Eine verhängnis-
volle Kombination aus Naivität und
Gewalt, die verstört, am Ende aber nur
wenig Neues erzählt über Neapel im
Bann des Verbrechens. (^22222)
England in der Thatcher-Ära: Javed,
16, pakistanischer Arbeitersohn, will
raus aus Luton, will Schriftsteller wer-
den. Die Songs von Bruce Spring steen
lassen ihn träumen. Die Versatzstücke
von „Blinded by the Light“ mögen
einem vertraut vorkommen, doch
Gurinder Chadas („Kick It Like Beck-
ham“) macht die Musikkomödie zum
Hit, weil sie bei aller fröhlichen Acht-
ziger-Stimmung auch ernste Themen
wie Islamophobie und Rassismus
verhandelt. Dafür gab Spring steen
seine Lieder gern frei. (^22222)
KINO
Viele Arbeiter legten sich anfangs ins
Zeug, um ihren chinesischen Kollegen den
amerikanischen Way of Life schmackhaft
zu machen. Sie luden sie ein zum Barbecue,
Angeln und Waffentraining. Aber bald wird
klar: Mit dem durch Effizienz und Unter-
werfung geprägten Arbeitsethos aus Fern-
ost können sie nicht mithalten. „Sie sind
ungeschickt mit ihren dicken Fingern.
Alles muss man ihnen dreimal zeigen“,
klagt ein Aufseher dem Firmenboss Cao
Dewang gegenüber. Die Abgründe der Glo-
balisierung zeigen sich im Mikrokosmos
einer Fabrikhalle.
„American Factory“ ist die erste Produk-
tion von Barack und Michelle Obama, die
2018 einen Vertrag bei Netflix unterschrie-
ben haben. In ihr ist zu beobachten, wie der
alte amerikanische Traum von Chinesen
zerbröselt wird. Als Nächstes planen die
Obamas eine investigative Doku-Serie über
den Mann, der nach ihnen ins Weiße Haus
zog: über Donald Trump. Hannes Roß
„American Factory“ auf Netflix (^22222)
N
ach der Schicht in der Glasfabrik
gibt ein chinesischer Manager
seinen Landsleuten noch einen
Crashkurs: über das schwer ent-
schlüsselbare Wesen ihrer neuen
amerikanischen Kollegen und
deren lasche Arbeitsmoral. „Ihr müsst wis-
sen: Schon Kinder werden in den USA mit
Komplimenten überhäuft. Die Amerika-
ner lieben es, wenn man ihnen schmei-
chelt.“ Als der Manager in ratlose Gesich-
ter schaut, fügt er hinzu:„Der Esel mag es,
wenn seine Haare mit dem Strich gestrei-
chelt werden. Macht euch das zunutze!“
Die Dokumentation „American Factory“
hat viele Schüssellochszenen mit tragiko-
mischem Charakter. Mit fünf Kamera-
teams begleiteten die Filmemacher Steve
Bognar und Julia Reichert die Wiederbele-
bung eines stillgelegten Werkes im Bun-
desstaat Ohio. Der chinesische Investor
Cao Dewang spielte dort 2014 den Retter.
In seiner Glasfabrik stellte er 2000 ameri-
kanische Arbeiter ein. Der Optimismus
war groß, aber nicht von Dauer.
Chinesen übernehmen ein Glaswerk: Die Doku „American
Factory“ ist die erste Netflix-Arbeit der Obamas
Esel mit dicken Fingern
Chinesischer
Arbeiter lernt
amerikanische
Kollegen an:
Szene aus
„American
Factory“
22.8.2019 105
FILM

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