Der Stern - 22.08.2019

(Tuis.) #1
Nun ist auch schon
bald Beethoven-Jahr,


  1. Geburtstag,
    und der Pianist Ivo
    Pogorelich stimmt
    darauf ein mit
    zwei Nebenwerken des Komponisten,
    die er so leidenschaftlich spielt,
    als wären sie Hauptwerke. Die Sonate
    No. 24 etwa, geschrieben in der
    seltenen Tonart Fis-Dur (das sind
    sehr viele schwarze Tasten). Und die
    Sonate No. 22 in F-Dur, der ein zeitge-
    nössischer Kritiker viele „wunderliche
    Grillen“ attestierte. Man hört, wie
    vehement Pogorelich die Pedale
    bearbeitet, wie tief sein Atem geht.
    Hintendran hängt er eine Sonate von
    Rachmaninow – als eine dramatisch-


romantische Abkühlung. (^22222)
KLASSIK
Eine der drängends-
ten Fragen für
Neustarter: Welchen
Namen geb ich
bloß meiner Band?
Originell sollte er
sein, leicht zu googlen und möglichst
stimmig. Andy Stack aus Baltimore
sieht aus wie der kleine Bruder von
J. J. Abrams und hat bereits Erfolge
gefeiert mit dem Indie-Rock-Duo Wye
Oak, und er ist mit Lambchop getourt.
Warum er sein erstes Soloprojekt
nun aber Joyero nennt, ist ein Rätsel.
Stack erschafft auf „Release The
Dogs“ verhuschte Songs mit Gitarren
und Synthesizer und singt wehmütig
über Paranoia. Nur Joy – Freude –
verbreitet das so wenig wie ein Tritt in
einen Hundehaufen. Schön anzuhören
ist es trotzdem. (^22222)
POP
Zugezogene aus dem
ganzen Land, dazu
die vielen Touristen
aus aller Welt: Es ist
voll geworden auf
den Straßen von Ber-
lin, und es wird immer voller. Wer schon
länger dort lebt, dem kann die neue
Enge durchaus Verdruss bereiten.
Die Band Grossstadtgeflüster machte
sich zuletzt mit der wunderbaren EP
„Fickt-euch-Allee“ Luft. Dabei führte
sie vor, wie man auf schlaue Art den
Pop in den Hip-Hop bringen kann,
ohne dabei albern zu klingen. Jetzt hat
das Trio neues Material auf dem Album
„Trips & Ticks“ versammelt, und es
macht klar, dass es auch weiterhin
nicht mitspielen will: „Ihr zieht hinaus
in den Wettkampf/ich zieh’ von innen
an der Tür.“ (^22222)
POP
FOTO: HART LESHKINA
dass sie schnell mehr als 35 Millionen Klicks
bekam – und einen Plattenvertrag.
Auf ihrem Albumdebüt „Immunity“,
nimmt sie ihre Hörer an der Hand und
führt sie erneut in die eigenen vier Wän-
de. Akustische Gitarre, Bass und Schlag-
zeug gedämpft, zarte Elektronik. Hier und
da erklingen ein Klavier oder ein Kinder-
chor. Und weil ein gemütlicher Raum mit
Bett auch immer größte Intimität verheißt,
öffnet sich Clairo sehr weit in ihren Tex-
ten. Sie singt über zerbrochene Beziehun-
gen und einen Selbstmordversuch als
Teenager, thematisiert die Schmerzen
durch ihre chronische Gelenkentzündung.
Die verschlurften Songs strahlen dabei
ein wohliges Gefühl aus, als wären sie eine
Daunendecke gegen die Wirklichkeit.
Höchste Zeit für die nächste Kissen-
schlacht. Matthias Schmidt
D
as Essen bringt ein Lieferdienst,
Unterhaltung wird gestreamt,
und mit Freunden kann man
chatten oder skypen. Es gibt im-
mer weniger Gründe, aufzustehen
und das Haus zu verlassen.
Ein Phänomen, das inzwischen auch in
der Musik angekommen ist. Wo sich frü-
her Künstler mit Instrumenten, Verstär-
kern, Mikros und sehr vielen Kabeln in
einer schlecht isolierten Garage oder im
Keller trafen, um den Rockgöttern zu hul-
digen, reicht heute ein Laptop im Schlaf-
zimmer. „Bedroom Pop“ nennt sich das
neue Genre, eine seiner momentan popu-
lärsten Vertreterinnen ist eine junge Frau
aus Massachusetts.
Claire Cottrill, Künstlername Clairo, hat
vor zwei Jahren innerhalb einer halben
Stunde ein Webcam-Video aufgenommen
für ihren Song „Pretty Girl“. Schlicht, aber
ergreifend. Gerade mal 19 war sie da, sah
eher aus wie eine Grundschülerin, und die-
se Paarung aus Unschuld, Selbsterkenntnis
und Popgespür wirkte so unwiderstehlich,
Größte Intimität:
die amerikanische
Musikerin Clairo, 21
Die Stars von morgen müssen zum Musikmachen ihre
Wohnung nicht mehr verlassen. Wie Clairo
Schlafzimmer-Pop
Clairo: „Immunity“ Sinnlicher
Soft-Pop, schüchtern und selbst-
bewusst zugleich (^22222)
106 22.8.2019
KULTUR
MUSIK

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