Die Weltwoche - 29.08.2019

(Chris Devlin) #1

Weltwoche Nr. 35.19 19
Bild: Erol Gurian (Laif)


Unzulänglichkeit und Begrenztheit: Liessmann.

Herr Liessmann, was geht Ihnen durch
den Kopf, wenn Sie den Slogan «Kinder an
die Macht» hören?
Wenn es wirklich ernst gemeint wäre,
könnte man sich darüber nur erschrecken.
Wahrscheinlich meinen die, die das for­
dern, eher Jugendliche. Ihnen traut man
zu, in einem gewissen Ausmass politische
Verantwortung zu übernehmen. Ich habe
da aber meine Zweifel.
Was müsste man denn von einer Kinder-
oder Jugendherrschaft erwarten?
Kind sein bedeutet überhaupt erst, in so­
ziale und politische Strukturen hinein­
zuwachsen. Und Macht haben bedeutet,
souverän über diese Erfahrungen und
Strukturen verfügen zu können. Das ist bei
Kindern einfach nicht gegeben. Das ist das
eine. Das andere ist, dass zum Erwachsen­
werden das Akzeptieren jener Grundlagen
und Normen gehört, die so etwas wie ein
politisches Gemeinwesen möglich machen.
Es ist eine Illusion, zu glauben, dass Kinder
nur friedlich und kooperativ sind. Das sind
sie manchmal. Und manchmal sind sie
unglaublich egomanisch und grausam. Sie
können das aber noch nicht reflektieren.
Aus der Entwicklungspsychologie wissen
wir, dass sich moralisches Empfinden und
Bewusstsein erst allmählich ausbilden. Je­
manden an die Macht zu lassen, der noch in
jenem Stadium ist, in dem es nur um die
unmittelbare Befriedigung seiner Bedürf­
nisse geht, wäre eine Katastrophe. Infan ti­
lität ist kein politisches Programm.
Der Gesetzgeber definiert klare juristi-
sche Schranken für Minderjährige. Sind
sie aus anthropologischer Sicht gerecht-
fertigt?
Natürlich. Wir sind überzeugt davon, dass
Jugendliche schutzbedürftig sind, gerade
im Bereich der Sexualität, der Kommuni­
kation und des Konsums. Auf der anderen
Seite fordern wir «Jugendliche an die
Macht». Das widerspricht sich zutiefst. In
Österreich haben wir das Wahlalter auf
sechzehn heruntergesetzt und nicht nur
die besten Erfahrungen damit gemacht.
Aber man muss auch sagen, dass aus
Jugendbewegungen immer wieder ganz
relevante politische, kulturelle, ästheti­
sche Impulse gekommen sind. Denken Sie
in der Literatur an den Sturm und Drang,
das waren junge Leute – der junge Goethe,
der junge Schiller, der junge Lenz –, die

Gesellschaft


«Jugendlicher Erlösergestus»


Von Philipp Gut _ Der Philosoph Konrad Paul Liessmann erklärt,


warum es schrecklich wäre, wenn Kinder oder Jugendliche regierten.


Und woher die naive Vorstellung kommt, dass sie es besser könnten.


sich aufgelehnt haben. Oder an das Junge
Deutschland, das die politische Stimmung
im 19. Jahrhundert mitgeprägt hat. Oder an
den Jugendstil.
Welche Eigenschaften sind denn der Vorteil
der Jugend?
Sie ist offener, neugieriger, experimentier­
und risikofreudiger – weil sie nichts zu ver­
lieren hat. Das Problem bei Erwachsenen ist
ja immer, dass sie bei jeder Veränderung fal­
lieren können. Von daher kommt die grosse
Mittelstandsangst der Gegenwart. Junge
Leute haben noch nichts, können also auch
nichts verlieren. Das könnte man schon für
eine dynamische Entwicklung des Gemein­
wesens nützen. Aber «Kinder an die Macht»
zu fordern, das ist wirklich nur plakativ.
Wenn Politiker diese Forderung unter-
stützen, tun sie das kaum aus reiner Selbst-
losigkeit.
Ganz sicher nicht. Ich sehe zwei Motive da­
hinter. Man denkt, die Jungen würden dann
schon das Richtige wählen, wenn man ihnen
entgegenkommt. Die Herabsetzung des
Wahlalters wurde in Österreich vor allem
vom linken Spektrum forciert – in der Hoff­
nung, die Jugendlichen würden qua Alter
dazu tendieren, links oder grün zu wählen.
Man war dann doch einigermassen über­
rascht, dass viele Jugendliche – vor allem die
männlichen – die Freiheitliche Partei ge­

wählt haben. Man kann sich da auch verkal­
kulieren. Das zweite Motiv sehe ich darin,
dass sich die Erwachsenen ent lasten. Sie leh­
nen sich zurück und denken: «Die Jungen
werden es schon richten.»
Ist das Bild, das wir uns von Kindern und
Jugendlichen machen, zutreffend?
Es ist stark von den Medien und naiven
reformpädagogischen Vorstellungen vom
reinen, verantwortungsbewussten, koopera­
tiven Kind geprägt. Wir übersehen leicht,
dass viele in Milieus heranwachsen, in denen
ganz andere Ideale herrschen – beispiels­
weise sehr autoritäre Konzeptionen von
Männlichkeit. Zu glauben, dass jemand nur
deshalb, weil er jung ist, eine bessere Politik
macht – dieser jugendliche Erlösergestus –,
ist unrealistisch. Das war ja auch in der Stu­
dentenbewegung so, in der ich gross gewor­
den bin. Ich sehe die heutige Situation daher
mit einer ge wissen milden Distanz: Man
freut sich, dass die Jugendlichen zusammen­
kommen, nach denken, diskutieren, aber
man hat selber mit erlebt, wie eine solche Be­
wegung entstand, wie sie sich radikalisiert
hat und zerfallen ist, gescheitert an den eige­
nen Ansprüchen.
Woher kommt überhaupt die Vorstellung,
dass Kinder eine bessere Welt schaffen
würden?
Es gibt zwei Gründe. Erwachsen sein be­
deutet, seine eigene Unzulänglichkeit und
Begrenztheit zu erkennen. Daraus resultiert
der Wunsch, dass es die Nachkommen einst
besser machen. Der zweite Grund – und das
ist eine Idee der Philosophin Hannah Arendt


  • liegt darin, dass mit jeder Geburt ein Neu­
    anfang gesetzt ist. Erwachsene haben ihre
    Lebenschancen gehabt, genützt oder ver­
    spielt und haben nicht mehr viel Zeit. Jedes
    Kind, das geboren wird, hat noch ein Leben
    vor sich, hat noch alle Möglichkeiten. Es ist
    deshalb intuitiv naheliegend und rational,
    auf die Jugend zu setzen, wenn man etwas
    verändern will. Man soll es bloss nicht über­
    ziehen. Beim heutigen Jugendkult schämt
    man sich ja schon fast, zu sagen, dass man
    einen anderen Stil und Geschmack hat als
    Sechzehnjährige. Wir sollten uns in Erinne­
    rung rufen, dass es auch produktiv sein kann,
    wenn es gewisse Konfrontationen zwischen
    den Generationen gibt. Das Tröstliche an der
    ganzen Debatte über Jugendlichkeit ist ja,
    dass es keinem Jugendlichen erspart bleibt,
    erwachsen zu werden. Man kann nicht ein
    Leben lang Jugendlicher sein. «Kinder an die
    Macht» ist darum keine Perspektive – es ist
    nur Rhetorik.


Konrad Paul Liessmann lehrt an der Universität
Wien. Der Philosophieprofessor gehört zu
den profiliertesten akademischen Analytikern
brennender Gegenwartsfragen.
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