18 Weltwoche Nr. 35.
sie leben wollen und welche Regeln in der
Familie gelten. Hat man einen richtig über
zeugten Klimaschützer im Haus, kommt man
wohl nicht darum herum, die Ferienpläne mit
einander zu besprechen. Es kann aber nicht
sein, dass am Ende der Sohn oder die Tochter
bestimmt, wohin man reist und was zu Hause
auf den Tisch kommt.» Viele Eltern hätten
heute eine symbiotische Beziehung zum Kind,
sie würden das Kind als Partner ansehen und
eigene Gefühlsdefizite zu kompensieren su
chen, sagt der Psychiater. Dieser Missstand be
wirke, dass sich die Kinder zunehmend all
mächtig fühlten, alles steuern und bestimmen
wollten und damit letztlich lebensuntüchtig
würden. Ausdruck davon sei der epidemische
Zuwachs von Verhaltensauffälligkeiten bei
Kindern, so Winterhoff.
Woher kommt die Idealisierung?
Woher die Idealisierung von Kindern kommt
und warum man ihnen sogar mehr zutraut
als den Erwachsenen, ist erklärungsbedürf
tig. Konrad Paul Liessmann meint, Erwach
sensein bedeute, seine eigene Unzulänglich
keit und Begrenztheit zu erkennen. «Daraus
resultiert der Wunsch, dass es die Nachkom
men einst besser machen.» Zudem sei mit
jeder Geburt ein Neuanfang gesetzt. Jedes
Kind habe noch ein Leben vor sich und alle
Möglichkeiten offen. «Es ist deshalb intuitiv
naheliegend und rational, auf Jugend zu set
zen, wenn man etwas verändern will. Man
soll es bloss nicht überziehen.»
Sicher, Babys und Kleinkinder sind bezau
bernd, unschuldig und rein. Doch das bleibt
nicht lange so: Der kindliche Egoismus schlägt
früher durch, als einer Mutter oder einem Va
ter oft lieb ist; dem eigenen Kind zu Hause das
Kommando zu geben, würde direkt ins Chaos
führen. Auf die Spitze getrieben hat das Willi
am Golding in seinem Buchklassiker «Herr
der Fliegen», wo eine Gruppe Schuljungen
nach einem Flugzeugabsturz auf einer einsa
men Insel landet und – auf sich allein gestellt
und ohne den Schutz der Erwachsenen, der
Lehrer oder anderer Autoritäten – sich in einen
blutigen Konflikt verstrickt. Es reicht aber
auch schon, an die Dramen auf dem Schulweg
und dem Pausenplatz zu denken, als man
selbst klein war. An den Boshaftigkeiten und
- auch seelischen – Grausamkeiten, die Kinder
einander antun, hat sich nichts geändert. Ein
zig die Methoden sind mit den sozialen Medi
en vielfältiger geworden.
Übrigens: Als Herbert Grönemeyer «Kinder
an die Macht» schrieb, war er dreissig Jahre alt.
Und noch nicht Vater.
Gesetze
Unmündig statt allmächtig
Von Katharina Fontana _ Kinder und Jugendliche
haben nicht nur Rechte, sondern auch spezielle Pflichten.
I
m Zuge der Klimaproteste hat eine alte
Forderung neuen Schwung erhalten:
die Senkung des Stimmrechtsalters auf
sechzehn oder vierzehn Jahre. Der Ruf, be
reits pubertierende Teenager zu vollwer
tigen Staatsbürgern zu erklären, passt
zum allgemeinen Trend, immer mehr
Rechte für Kinder und Jugendliche zu for
dern, bevor sie mit achtzehn Jahren die
zivile Mündigkeit erreichen. Bereits in
der Primarschule werden heute die Kin
derrechte durchgenommen – mit der Fol
ge, dass so manch ein Drittklässler über
zeugt ist, die Eltern müssten künftig alles
und jedes mit ihm aushandeln. Dabei
geht gerne vergessen, dass Minderjährige,
rechtlich gesehen, eine Kategorie für sich
sind. Sie sind handlungsunfähig, unter
stehen der elterlichen Autorität, genie
ssen speziellen Schutz und haben beson
dere Pflichten.
Das Zivilgesetzbuch formuliert es so:
«Das Kind schuldet den Eltern Gehorsam;
die Eltern gewähren dem Kind die seiner
Reife entsprechende Freiheit der Lebens
gestaltung und nehmen in wichtigen An
gelegenheiten, soweit tunlich, auf seine
Meinung Rücksicht.» Welche Freiheiten
einem Kind und Jugendlichen einge
räumt werden sollen, das wird in jeder Fa
milie wohl ein bisschen anders gehand
habt. Allgemein gilt, dass Kinder ab dem
Schulalter kleine Alltagsdinge selbstän
dig erledigen und später immer mehr
auch bei der Freizeit und der Ausbildung
mitreden dürfen. Das heisst umgekehrt
nicht, dass die Eltern ihnen alle Wünsche
erfüllen müssen, etwa bei den Ausgehzei
ten oder den Ferien; das letzte Wort liegt
bei den Eltern. Anders sieht es aus im
höchstpersönlichen Bereich: Bei Klein
kindern entscheiden Mutter und Vater
über Ernährung, Impfungen oder medizi
nische Behandlungen, Jugendliche tun
das für sich allein; das kann selbst für le
bensrettende Therapien gelten.
In Scheidungsfamilien dürfen Kinder
beim Besuchsrecht massgeblich mitre
den. Die Praxis geht davon aus, dass ein
Kind ab zwölf Jahren zu einer autonomen
Willensbildung fähig ist: Legt sich ein
Zwölfjähriger quer, weil er am Wochenen
de lieber Fussball spielt als den Vater be
sucht, kann er seinen Willen bei den Be
hörden meist durchsetzen. In das Kapitel
Pflichten fällt, dass das Kind für absicht
lich verursachte Schäden selber aufkom
men muss. Schlägt ein Elfjähriger eine
Scheibe ein, besprayt ein Teenager eine
Hausfassade, können sie sich nicht hinter
den Eltern verstecken. Fehlt dem Kind das
Geld, was häufiger der Fall sein dürfte,
kann es vom Geschädigten betrieben
werden.
Geht es um private Verträge, sind den
Jungen hohe Grenzen gesetzt: Wer noch
nicht achtzehn Jahre alt ist, darf einen
Vertrag im Prinzip nur mit Zustimmung
der Eltern abschliessen – ausgenommen
sind Geschäfte im Bereich von Taschen
geld oder Lehrlingslohn. Eine Sonderstel
lung nehmen Kinder und Jugendliche im
Strafrecht ein: Ab zehn Jahren ist ein Kind
strafmündig, wobei die Jugend behörden
in diesem Alter auf erzieherische Mass
nahmen setzen und das Kind beispiels
weise zu Putznachmittagen abkomman
dieren können. Ab fünfzehn Jahren wird
es ernster: Wer ab diesem Alter ein grobes
Delikt begeht, muss mit bis zu einem Jahr
Freiheitsstrafe rechnen. Und ab achtzehn
Jahren gilt das Erwachsenenstrafrecht.
Als besonders schutzbedürftig werden
die Jungen bei der Sexualität angesehen.
Bis zum Schutzalter von sechzehn Jahren
gelten sie gesetzlich als «Kinder», und
wer mit ihnen eine sexuelle Handlung
vornimmt, macht sich strafbar; Jugendlie
ben sind ausgenommen. Mit sechzehn
Jahren darf ein Jugendlicher selber über
seine Religionszugehörigkeit entschei
den. Mit achtzehn Jahren wird man voll
jährig, entflieht der elterlichen Aufsicht,
darf heiraten, Mietverträge unterschrei
ben oder – für die streikenden Gymnasias
ten von Interesse – sich selber Absenzen
für die Schule ausstellen. Praktischerwei
se kann man von den Eltern aber noch
immer finanzielle Unterstützung ein
fordern, bis zum Abschluss einer «ange
messenen» Ausbildung, was sich weit ins
dritte Lebensjahrzehnt hinziehen kann.
Ein Gutteil der Klimastreiker
dürfte es schlicht auch cool
finden, den Rebellen zu geben.
Manch ein Drittklässler ist
überzeugt, die Eltern müssten
alles mit ihm aushandeln.