FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Geisteswissenschaften MITTWOCH, 4. SEPTEMBER 2019·NR. 205·SEITE N 3
Die letzte Verlautbarung aus den Verhand-
lungen des Bundes mit dem Haus Hohen-
zollern über dessen Entschädigungs- und
Rückerstattungsansprüche war unmissver-
ständlich: Man ist sich einig, dass man
sich nicht einig ist (F.A.Z. vom 26. Juli).
Seitdem wartet man vergebens auf Neuig-
keiten aus den nichtöffentlichen Gesprä-
chen, in denen nicht zuletzt die öffentli-
che Darstellung der jüngeren deutschen
Geschichte auf dem Spiel steht. Das muss
die Geschichtswissenschaft aber nicht dar-
an hindern, ihrer Aufgabe nachzugehen,
Licht ins Dunkel der Vergangenheit zu
bringen. Es gibt über die Hohenzollern im-
mer noch etwas zu wissen, das bislang
kaum jemand gewusst hat.
In einem Beitrag für den von Thomas
Biskup, Truc Vu Minh und Jürgen Luh her-
ausgegebenen Tagungsband „Preußen-
dämmerung. Die Abdankung der Hohen-
zollern und das Ende Preußens“, der in
diesen Tagen auf der Internetplattform
perspectivia.net veröffentlicht wird, hat
die in Princeton lebende Historikerin Kari-
na Urbach die amerikanischen Kontakte
der einstigen Herrscherfamilie in der Zeit
des Nationalsozialismus untersucht. Im
Mittelpunkt stehen dabei der abgedankte
Kaiser Wilhelm II. und sein Enkel Louis
Ferdinand (1907 bis 1994). Ein gemeinsa-
mer Freund der beiden war der Publizist
Poultney Bigelow (1854 bis 1955), Sohn ei-
nes einflussreichen republikanischen Poli-
tikers und Zeitungszaren. Wilhelm und Bi-
gelow hatten sich in gemeinsamen Schul-
jahren in Potsdam kennen- und schätzen
gelernt. Nach Wilhelms Thronbesteigung
wurde Bigelow zum kaiserlichen Propa-
gandisten in den Vereinigten Staaten.
Im Ersten Weltkrieg entzweiten sich
die Schulfreunde für kurze Zeit, doch
nach dem Sturz der Monarchie setzte Bige-
low sein kaisertreues Schrifttum mit Veröf-
fentlichungen wie „Genserich, King of the
Vandals and the First Prussian Kaiser“
und „Prussianism and Pacifism“ fort.
Mehrmals besuchte er den Ex-Kaiser in
dessen Exil in Doorn, und bis kurz vor Wil-
helms Tod im Jahr 1941 korrespondierten
die beiden miteinander. In ihren Briefen
ging es immer wieder um die drei zentra-
len Feindbilder Wilhelms und Bigelows,
den Bolschewismus, die „schwarze Rasse“
und das Judentum. „Die ganze farbige
Welt – gelb, schwarz – ist in Aufruhr und
formiert sich gegen Weiß“, schrieb Wil-
helm 1935 nach New York. Für „Juden
und Mücken“ hatte er schon acht Jahre zu-
vor ein Vernichtungsrezept erstellt: „Ich
glaube das Beste wäre Gas.“
Bigelow wiederum hatte beste Kontak-
te zu bekannten amerikanischen Antisemi-
ten wie Henry Ford, dem Gründer der Au-
tofirma und Herausgeber von Hetzschrif-
ten wie „Der internationale Jude“. Diese
Verbindung nutzte er im Jahr 1929, um
Wilhelms Enkel Louis Ferdinand bei Ford
einzuführen. Der Kaiser, so Bigelow, halte
Ford für wichtiger „als jeden anderen“ in
Amerika, außerdem hasse „die Judenpres-
se“ die Hohenzollern. Der Appell wirkte,
Ford wurde Louis Ferdinands Arbeitgeber
und Mentor und später zum Patenonkel
von dessen zweitem Sohn. Als der Kaiser-
enkel 1933 nach Deutschland zurückkehr-
te, besorgte er sich eine Audienz bei Hit-
ler, um für Fords unternehmerische Ex-
pansionspläne zu werben. Der „Führer“ in-
dessen speiste den Gast mit Floskeln ab,
seine Liebe galt Mercedes-Benz.
Ein weiterer bedeutender Zeitgenosse,
dem Bigelow seinen Schützling vorstellte,
war Franklin D. Roosevelt. Der amerikani-
sche Präsident nutzte die Bekanntschaft
mit dem jungen Hohenzollern, um Neuig-
keiten aus Deutschland zu erfahren, und
Louis Ferdinand enttäuschte ihn nicht. Im
August 1933 unterrichtete er ihn auf Eng-
lisch über „die großen Entwicklungen, die
eine neue Ära im Vaterland heraufgeführt
haben. (.. .) Es war eine der größten Ge-
nugtuungen meines ganzen Lebens, als
ich Zeuge von Hitlers historischer Rede im
Reichstag wurde.“ In Louis Ferdinands Me-
moiren, die 1952 und 1985 in verschiede-
nen Versionen erschienen, kommt dieser
Brief nicht vor. Stattdessen schildert der
Autor, wie ihn Roosevelt 1938 gebeten
habe, sich „vorsichtig und ganz persönlich
bei Ribbentrop“ zu erkundigen, was dieser
von einem Treffen mit Hitler, Mussolini
und Chamberlain „etwa auf den Azoren“
hielte. Statt als willigen Herold der neuen
Machthaber im „Fatherland“ sah sich
Louis Ferdinand hinterher lieber als diplo-
matischen Vermittler zwischen den Groß-
mächten. Aus dem geplanten Treffen war
freilich nichts geworden.
Karina Urbach hat ihre Quellen in ame-
rikanischen Archiven gefunden. Ihre kürz-
lich in einem Interview geäußerte Behaup-
tung, das Hausarchiv der Hohenzollern
stehe der Forschung nicht offen, führte zu
einer Gegendarstellung in der „Berliner
Zeitung“. Zwei Tage später schilderte der
britische Historiker und Biograph Wil-
helms II. John Röhl in derselben Zeitung
seine Erfahrungen mit der Zugänglichkeit
der Hohenzollern-Dokumente Anfang
der achtziger Jahre. In einem Hechinger
Schlossturm hatte Röhl „siebzehn Stapel
Papiere“ gesichtet; seine Erkenntnisse
machte er auf einer Konferenz und in ei-
nem Buch publik. Als er mit einem Kame-
rateam nach Hechingen zurückkehrte, um
Aufnahmen für die BBC zu machen, wur-
de ihm der Zutritt zum Archiv verweigert.
Daraus könne man, so Röhl, „keine Rück-
schlüsse auf die heutigen Archivverhältnis-
se“ ziehen. Dennoch darf man gespannt
sein, wie liberal die Hohenzollern mit
künftigen Besuchern aus der Wissen-
schaft umgehen, jetzt, da ihr historisches
Ansehen zur Angelegenheit von Anwäl-
ten geworden ist. ANDREAS KILB
A
ls der englische Kunsthis-
toriker und Sozialrefor-
mer John Ruskin am 20.
Januar 1900 starb, widme-
te ihm Marcel Proust meh-
rere emphatische Nachru-
fe. Ruskin sei neben Nietzsche, Tolstoi
und Ibsen die wichtigste moralische Au-
torität („directeur de conscience“) Euro-
pas gewesen und habe den Geschmack
der Epoche bestimmt wie kein anderer.
Proust empfahl „pèlerinages ruskiniens“,
Wallfahrten zu den Orten, an denen man
seiner gedenken könne. Venedig biete
sich selbstredend an, aber auch die goti-
schen Kathedralen Frankreichs, die der
Autor so sehr geliebt habe. Über die Ka-
thedrale von Amiens habe Ruskin im Al-
ter ein ganzes Buch geschrieben, das er,
Proust, demnächst in einer Reihe von Pu-
blikationen vorstellen werde.
Tatsächlich befasste sich Proust seit
Ende 1899 mit Ruskins sperrigem Spät-
werk über Notre-Dame d’Amiens, in des-
sen Zentrum die biblischen Szenen der
Westfassade stehen. Er übersetzte den
Text und versah ihn mit einer Flut teils
höchst eigenwilliger Anmerkungen. Um
die Arbeit voranzutreiben, unternahm er
im Mai 1900 seine eigene Wallfahrt, die
ihn allerdings nicht nach Amiens führte
(die folgte im September), sondern nach
Venedig. Er litt damals besonders stark
an Asthma und meinte, so schreibt er im
Vorwort zur Buchausgabe der „Bible
d’Amiens“, binnen kurzem sterben zu
müssen. In dieser Situation sei ihm Vene-
dig mit seinen zerfallenden mittelalterli-
chen Bauwerken als das richtige Reiseziel
erschienen. Ruskin habe ihn gelehrt, die
Dinge in ihrer vergänglichen Schönheit,
die kostbarer sei als das Leben selbst, zu
lieben und auf diese Weise auch die Angst
vor dem Sterben zu überwinden.
Ende April oder Anfang Mai traf Mar-
cel Proust in Begleitung seiner Mutter
Jeanne in Venedig ein. Die beiden stie-
gen im Hôtel de l’Europe ab, das sich an
der Einfahrt zum Canal Grande im Palaz-
zo Giustiniani befand. Ruskin hatte das
Gebäude in seinen „Stones of Venice“ als
„good late fourteenth century Gothic,
but much altered“, durch Umbau arg ent-
stellte Gotik des späten vierzehnten Jahr-
hunderts, bezeichnet. Das „Europe“ war
ein Luxushotel, das über elektrische Be-
leuchtung, Fahrstuhl und Zentralheizung
verfügte und von dessen oberen Zim-
mern man einen prächtigen Blick auf
San Giorgio Maggiore und den Campani-
le von San Marco hatte. Von beiden Bli-
cken hatte Turner als Hotelgast um 1840
Aquarelle angefertigt (heute in der Tate
Britain), den zweiten beschreibt Proust
zu Beginn des Venedig-Kapitels von „Die
Flüchtige“.
Turners Nachlassverwalter Ruskin war
ebenfalls im „Europe“ zu Gast, sein letz-
ter Aufenthalt im November 1888 war
der „New York Times“ sogar eine eigene
Meldung wert. Auch Richard Wagner,
1883 in Venedig verstorben, hatte im
Jahr vor seinem Tod im „Europe“ logiert,
woran ein eigener „Richard-Wagner-Sa-
lon“ erinnerte. Den Wagnerianer Proust
dürfte das amüsiert haben, zumal er mit
einem Wagner-Verächter verabredet war,
dem Komponisten Reynaldo Hahn. Die-
ser brachte seine englische Verwandte
Marie Nordlinger mit, die in Paris Male-
rei studiert hatte, ferner deren Tante Ca-
roline Hinrichsen. Die drei wohnten, wie
sich Hahn später gegenüber Marie Dujar-
din erinnerte, nicht im „Europe“, son-
dern in einem anderen Hotel.
Gleich nach dem Zusammentreffen be-
gann man mit der Arbeit. Die Mutter fer-
tigte Rohübersetzungen an, während Pro-
ust mit der zweisprachigen Marie Nord-
linger an den mitgebrachten Typoskrip-
ten feilte. Auch die Arbeitspausen waren
Ruskin gewidmet, man besichtigte die
Bauwerke Venedigs und las sich dessen
Kommentare vor. Irgendwann stieß noch
die Prinzessin Hélène de Caraman-Chi-
may hinzu, die aus dem rumänischen
Fürstengeschlecht der Brancovan-Bibe-
scu stammte und mit ihrer Schwester, der
Lyrikerin Anna de Noailles, zu den strah-
lendsten Persönlichkeiten der Pariser Sa-
lonszene gehörte.
Reinhard Pabst hat an dieser Stelle
(F.A.Z. vom 5. Dezember 2018) kürzlich
wichtige Details zum diesem Aufenthalt
im Mai 1900 beigetragen und nebenbei
mit der Legende aufgeräumt, Proust
habe im Oktober desselben Jahres die La-
guneninsel San Lazzaro besucht. Seit-
dem ist sehr fraglich, ob es den ominösen
zweiten Venedig-Aufenthalt überhaupt
gegeben hat. Der erste hingegen lässt
sich durch ein bisher unbekanntes
Schriftstück genauer dokumentieren, ei-
nen Brief des Malers Hans Schlesinger
(1875 bis 1932), der im Freien Deutschen
Hochstift / Frankfurter Goethe-Museum
verwahrt wird.
Schlesinger stammte aus Wien. 1894
war er zum Studium an die Pariser Acadé-
mie Julian gegangen, er lebte am Boule-
vard Haussmann. Von Februar bis April
1900 hatte er dort Besuch von seinem Ju-
gendfreund Hugo von Hofmannsthal,
den er in die unterschiedlichsten Pariser
Kreise einführte. Auf diese Weise lernte
Hofmannsthal Auguste Rodin, Maurice
Maeterlinck, Jules Renard, Anatole
France und nicht zuletzt Anna de Noail-
les kennen, mit derer fortan in verbindli-
chem Kontakt stand.
Anfang Mai war Hofmannsthal nach
England weitergereist, und Schlesinger
hatte sich wie jedes Jahr mit seiner Mut-
ter Fanny und seiner Schwester Gerty
nach Venedig ins Hôtel de l’Europe bege-
ben. Von dort schrieb er am 16. Mai an
Hofmannsthal den erwähnten Brief. Man
fühle sich an diesem Ort, so Schlesinger,
„immer zu Haus“, Gerty betreibe im In-
nenhof Modellstudien, er selbst male an
einem Bild über die Prostitution, und
wenn es regne, kopiere er in Sant’Alvise
ein Gemälde von Tiepolo. Über die ande-
ren Gäste schreibt er: „Es ist alle mögli-
che Gesellschaft im Hôtel – ein gewisser
Marcel Proust, ein Mensch, der schreibt
und recht nett ist mit seiner Mutter, der
junge Brancovan aus Paris, der auch ganz
erträglich ist und der Hermant, der weni-
ger ekelhaft als bei der ersten Betrach-
tung ist. Sie alle bilden auch ein wenig
Zerstreuung für Mama u. Gerty.“
Hofmannsthal konnte sich die Verhält-
nisse im Hôtel de l’Europe gut vorstellen,
da er dort 1897 und 1898 als Begleiter
der Familie Schlesinger zu Gast gewesen
war. Am 17. September 1898 hatte er an
die Eltern geschrieben: „Hier ist es dies-
jahr noch schöner als je. Ich habe Pensi-
on genommen und wohne relativ sehr bil-
lig, 12 francs per Tag alles inbegriffen,
(während hier manche Zimmer 25-40
francs kosten) in einem kleinen Zimmerl
mit Schlafalcoven.“ In wenigen Wochen
entstand in Anknüpfung an Casanovas
Memoiren das in Venedig spielende Vers-
drama „Der Abenteurer und die Sänge-
rin“. 1902 logierte Hofmannsthal aber-
mals im „Europe“. Am 31. Oktober ließ
er die Eltern wissen: „Ich bin großartig
untergebracht, habe ein nettes Zimmer
zum Schlafen und einen prachtvollen rie-
sigen unbewohnten Salon auf den Canal
grande zum arbeiten. Alles schwimmt in
Licht und kühler, bewegter glitzernder
Luft. Das ist doch die schönste Stadt auf
der Welt; man spürt ihren Zauber immer
stärker und es ist ein Glück, dass wir das
so nahe von Wien haben.“ Diesmal ent-
stand ein großer Teil des Trauerspiels
„Das gerettete Venedig“. Der letzte doku-
mentierte Besuch des „Europe“ fand im
September 1904 statt. Hofmannsthal hat-
te die Korrekturen zum „Geretteten Ve-
nedig“ dabei – und seine Frau, Hans
Schlesingers Schwester Gerty, mit der er
sich im Sommer 1900 verlobt hatte.
S
chlesingers Briefzeugnis er-
weitert Prousts veneziani-
sches Umfeld auf insgesamt
sieben Personen. Neu hinzu
kommt Prinz Constantin de
Brancovan, der ältere Bruder
von Anna de Noailles und Hélène de Ca-
raman-Chimay, der auch in der zeitgenös-
sischen Presse „le jeune Brancovan“ ge-
nannt wurde. Er publizierte drei Jahre
später in seiner Zeitschrift „La Renais-
sance latine“ umfangreiche Auszüge aus
der „Bible d’Amiens“ – und verärgerte
Proust im Vorfeld mit dem (nicht unbe-
rechtigten) Vorwurf mangelnder Eng-
lischkenntnisse. An seiner Seite befand
sich wie so oft Abel Hermant, ein Viel-
schreiber, der in den besten Kreisen der
der Belle Époque verkehrte und ihnen
eine lange Reihe scharfzüngiger Porträts
widmete. Schlesinger und Hofmannsthal
hatten ihn im Februar bei der Baronin
Madeleine Deslandes, einer der exzen-
trischsten Pariser Salonnièren, kennenge-
lernt. Hermant und Brancovan sowie des-
sen Schwester besuchten übrigens am sel-
ben Tag, an dem Schlesinger seinen Brief
schrieb, das Kloster San Lazzaro und tru-
gen sich dort ins Besucherbuch ein.Auf-
fällig ist die Formulierung „ein gewisser
Marcel Proust“. Mit ihr macht Schlesinger
deutlich, dass man sich den Namen (samt
Vornamen) merken sollte, aus welchem
Grund auch immer: Dass der Unbekann-
te „schreibt und recht nett ist“, dass er zu-
dem der Mutter und der Schwester „ein
wenig Zerstreuung“ bietet, reicht für sei-
ne bedeutungsvolle Einführung nicht
recht aus. Es bleibt ein unausgesproche-
ner Rest. Tatsächlich scheint die Begeg-
nung im Hôtel de l’Europe für alle Betei-
ligten eindrucksvoll gewesen zu sein. Ein
erster Hinweis findet sich in der im ver-
gangenen Jahr im Marburger Büchner-
Verlag erschienenen, großartigen Essay-
sammlung „Autographische Lebensbil-
der“ (2018) des Marburger Germanisten
E. Theodor Voss.
Voss berichtet dort en passant von ei-
nem Gespräch mit Herbert Steiner, dem
Herausgeber von Hofmannsthals „Ge-
sammelten Werken“, der ihm um 1960 er-
zählte, Gerty habe „als junges Mädchen
mit Mutter und Bruder in Venedig in ei-
nem Hotel gewohnt, in dem zufällig Mar-
cel Proust lebte, der ihr anbot, gemein-
sam mit ihm besondere Sehenswürdigkei-
ten der Stadt aufzusuchen“. Das ist keine
Kleinigkeit, wenn man bedenkt, welche
Bedeutung gemeinsame Kunsterlebnisse
für Proust hatten.
Steiners Bemerkung legt eine Spur, die
direkt in Prousts „Recherche“ führt. Tat-
sächlich scheint die Begegnung mit der
Familie Schlesinger verwandelt in „Die
Flüchtige“ eingegangen zu sein. Im drit-
ten Kapitel des Bandes reist der Protago-
nist Marcel mit seiner Mutter nach Vene-
dig, um sich einer „Arbeit über Ruskin“
zu widmen, vor allem aber, um endlich
seine Geliebte Albertine Simonet zu ver-
gessen, die heimliche Hauptfigur des Ro-
mans, die er einen Winter lang eifersüch-
tig überwacht hatte, ehe sie ihn verließ
und überraschend starb. Allerdings füh-
ren auch die neuen Eindrücke in Venedig
über verschlungene Assoziationswege im-
mer wieder zur „flüchtigen“ Albertine.
So kommt es eines Tages im Hotel zu
einer Begegnung mit einer jungen Öster-
reicherin, die zwar anders aussieht als
die tote Freundin, die mit ihrem „fri-
schen Teint“ und ihrem „lachenden und
offenen Blick“ aber doch irgendwie an
sie erinnert. Marcel verliebt sich in die
Unbekannte und beginnt sogleich, sein
Verhältnis mit Albertine zu reinszenie-
ren, indem er ihr dieselben Dinge sagt
wie der früheren Geliebten, um sich
dann selbstquälerisch in die Vorstellung
hineinzusteigern, dass sie mit ihrer un-
schuldig-mädchenhaften Art etwas ver-
berge, ein dunkles Geheimnis, das er
umso deutlicher zu erkennen meint, je
hartnäckiger die Indizien dagegen spre-
chen: das Geheimnis von Gomorrha, der
lesbischen Liebe.
Man muss in der „Recherche“ einige
hundert Seiten bis in den Band „Sodom
und Gomorrha“ (II/4) zurückblättern, um
den Auslöser für die Faszination der Un-
bekannten zu finden. Auch Albertine hat-
te nämlich einen österreichischen Hinter-
grund, ein Umstand, dem Marcel damals
große Bedeutung beigemessen hatte. Sie
war für ihn geradezu die Verkörperung
Österreichs, in ihrem Lächeln und ihren
Umgangsformen meinte er „wie in einem
Atlas oder einer Ansichtensammlung“
die Landschaften, Bauwerke und Men-
schen des gesamten Landes zu erkennen.
Die junge Frau im Hotel aktiviert diese Er-
innerung, so dass die Albertine-Episode
unversehens von vorne beginnt. Sie endet
nur deshalb, weil die Wiedergängerin in
ihr Heimatland zurückkehrt.
S
ollte es Zufall sein, dass in bei-
den venezianischen Hotels,
dem realen Hôtel de l’Europe
und dem erfundenen Hotel
des Romans, eine junge Öster-
reicherin auftritt? Eher nicht.
Proust hat in die besagte Textpassage ein
Detail eingebaut, eine Art versteckten
Gruß, mit dem er die Situation des Früh-
jahrs 1900 auf die Romanhandlung durch-
paust, ohne dass der fiktionale Zusam-
menhang es erfordern würde. Die Öster-
reicherin teilt Marcel nämlich nach eini-
ger Zeit mit, dass er sie „morgen nicht se-
hen werde, dass sie nach Verona gehe“, so
dass dieser spontan den Wunsch ver-
spürt, sie zu begleiten. Eine Ansichtskar-
te der Geschwister Schlesinger an Her-
mann Bahr vom Mai 1900 bezeugt, dass
es genau diesen Ausflug von Venedig
nach Verona tatsächlich gegeben hat.
Es ist bemerkenswert, dass Proust den
Abstecher im Mai 1900 nicht nur regis-
trierte, sondern sich mehr als fünfzehn
Jahre später, als er die Passage nieder-
schrieb, noch daran erinnerte. Das deu-
tet auf eine erhebliche Verbindlichkeit
des Umgangs jenseits konventioneller
Hotelkonversation hin. Es steht zu ver-
muten, dass für die Österreicherin in der
„Recherche“ nicht nur Gerty Schlesinger
Modell stand, sondern auch ihr Bruder
Hans, mit dem ihn ein ähnlicher Bekann-
tenkreis und ähnliche Interessen verban-
den. Demnach würde es sich um eine der
für Proust typischen Motivinvertierun-
gen handeln. Die Begeisterung, mit wel-
cher der äußerst zurückgezogen lebende
Proust im August 1906 seinem Freund
Reynaldo Hahn berichtete, er habe Schle-
singer in einem Hotel in Versailles zufäl-
lig wiedergetroffen (und zunächst für
den betrunkenen Zimmerkellner gehal-
ten) und habe nun „tausend Schlesinge-
riana“ zu erzählen, wie es in der neuen,
großartigen Übersetzung von Bernd-Jür-
gen Fischer (F.A.Z. vom 24. November
2018) heißt, deutet (neben weiteren brief-
lichen Erwähnungen) in diese Richtung.
Proust und Schlesinger hätten viel-
leicht noch mehr miteinander zu tun ge-
habt, wenn dieser nicht nach einer kata-
strophal besprochenen Wiener Ausstel-
lung 1908 den Malerberuf an den Nagel
gehängt hätte, um sich dem katholischen
Glauben zuzuwenden. Als Dominikaner-
pater erlangte er später kurzzeitig Be-
kanntheit, weil er Theodor Herzls Sohn
1924 bei der Konversion half.
Noch ein weiteres Motiv scheint vom
Hôtel de l’Europe in den Roman gewan-
dert zu sein. Eine der wichtigsten Szenen
des Venedig-Kapitels, an die sich Marcel
im letzten Band („Die wiedergefundene
Zeit“) erinnern wird, spielt im Baptisteri-
um von San Marco. Dort betrachtet er ab-
wechselnd das Mosaik mit der Taufe
Christi und seine in Trauer gekleidete
Mutter, deren Anblick ihn weitere Kunst-
werke Venedigs assoziieren lässt, so dass
der Raum und die Mutter zu einem unauf-
löslichen Erinnerungskomplex ver-
schmelzen. Diese Frau mit den „geröte-
ten Wangen“, den „traurigen Augen“ und
den „schwarzen Schleiern“ hat es im Ho-
tel damals tatsächlich gegeben. Es war
nicht Prousts Mutter Jeanne, sondern die
gleichaltrige Fanny Schlesinger, eben-
falls Jüdin, die ein Jahr zuvor ihren Mann
durch einen schlimmen Krebstod verlo-
ren hatte und nun in Venedig mühsam
den Weg zurück ins Leben suchte. Auch
deshalb betont Schlesinger in seinem
Brief die „Zerstreuung“, welche die Ho-
telgesellschaft biete.
Mathias Mayer hat unlängst die Bezie-
hung von Hofmannsthal und Proust be-
leuchtet (Hofmannsthal-Jahrbuch, Bd.
25, 2017). Hofmannsthal wird sich im Jah-
re 1900 den Hinweis auf den schreiben-
den Herrn Proust vielleicht noch nicht ge-
merkt haben, doch verfolgte er dessen
Werk in den zwanziger Jahren aufmerk-
sam. Wahrscheinlich traf man sich sogar
persönlich. Einzelne Bände der „Recher-
che“ sind in Hofmannsthals Bibliothek
überliefert, etwa der fünfte, „La Prisonniè-
re“ („Die Gefangene“), in dem er sich
noch 1929 Notizen zu seiner Sprechope-
rette „Das Hotel“ machte. Die Passage
aus „Die Flüchtige“ mit der „Österreiche-
rin“ konnte er allerdings nicht kennen, da
sie im Erstdruck gestrichen war. Sie er-
schien erstmals in der nach dem Manu-
skript edierten Fassung der Pléiade-Aus-
gabe von 1954. KONRAD HEUMANN
Neues zu den Hohenzollern
Prinz im
Fatherland
„Ein Mensch, der
schreibt und recht nett
ist mit seiner Mutter“:
Noch einmal zum
Venedig-Besuch Marcel
Prousts im Mai 1900.
Von diesem Gast des
Hôtel de l’Europe
erfuhr Hugo von Hof-
mannsthal aus einem
Brief von Hans Schle-
singer. Die Begegnung
mit Schlesinger ging in
die „Recherche“ ein.
Wo ist seine Reisegruppe?
Ansichtskarten des Hotels, in dem „ein gewisser Marcel Proust“ gesichtet wird. Fotos Bibliotheca Proustiana Reiner Speck, Freies Deutsches Hochstift