Der Stern - 15. August 2019

(Barré) #1
NachdemGesprächerinnertesich
AlexandraKraftanihrePubertät.
AllesharmlosimVergleich,findetsie.
DenschlimmstenÄrgermitihren
Elternhattesie,alssieversuchte,eineSechs
ineinerErdkundearbeitzuverheimlichen

liefnachParisdavon,kaminsGefängnis


undmusstezurückandieFront.Alsermit


einerSenfgas-VergiftungimKrankenhaus


landete,wurdeseinwahresAlterentdeckt.


DieArmyschickteihnsofortzurück.Aber


erwareinHeld.DieZeitungschriebüber


ihn.Erwarwohlderjüngsteamerikani-


scheSoldat,derimErstenWeltkriegge-


kämpfthat.


Sieklingenstolz.


Ja,dieGeschichteistwichtigfürmich.Ich


habesieerstalserwachsenerManngehört,


aberichbegriff,dassichnichtalleinewar.


Eswäregutgewesen,wennichsiefrüher


gekannthätte.DenndieseErfahrungver-


bindetalleMännerinmeinerFamilie.


ImLaufeIhrerKindheitwurdendieMe-


dikamentezuIhrerBehandlungimmer


besser.Zeigtensieirgendwannpositive


Wirkung?


Mitetwazehnwurdeichein


bisschen ruhigerundkonnte


michbesserkonzentrieren.Das


halfmirsicher.Ichwarzwölf


Jahrealt,fast13,alsdieÄrztedie


Medikamenteabsetzten.


Warumtatensiedas?


Siemeinten,ichseinunauch


psychischbereitfürdiePuber-


tät.DocheswarwieeinDamm-


bruch.DasTestosteronschoss


schlagartignachoben,undmei-


ne Situation verschlimmerte


sich. Ich hatte damals eine


Freundin,siewareineAusreiße-


rinundschon 17 Jahrealt.Sie


lebtebeieinemDrogendealer.


EinesTagesgabsiemirLSD-Ta-


blettenmit.Ichhattesieange-


logenundgesagt,ichhättedas


vorherschonmalgenommen.


Sieglaubte,ichwäre16.


NahmenSiedieTablettenein?


Natürlich,abends zu Hause,als meine


ElternimBettwaren.Ersteineundalsnach


einpaarMinutennichtspassierte,gleich


nocheine.EswardieschlimmsteNacht


meines Lebens. Am nächsten Morgen


halluzinierteichimmernoch.Ichhabe


meinenElterngesagt,dassichnichtzur


Schulewollte.Ichhatteaberschonsooft


geschwänzt,alsohabensiemichhinge-


schickt.


Niemandbemerkte,dassSieberauscht


waren?


Nein, es wurde aber noch schlimmer. Ich


war paranoid und hatte die letzte Tablette


mit in die Schule genommen. Beim Essen


mit Freunden gab ich an und tat so, als hät-


te ich die beste Nacht meines Lebens gehabt


und LSD sei sehr cool. Einer meiner Freun-


de meinte, dass wir die Tablette ins Wasser


einer Mitschülerin geben sollten. Also habe
ich das gemacht. Sie drehte völlig durch. Sie
wusste gar nicht, was ihr passierte. Es war
furchtbar. Sie lief schreiend und weinend
umher. Ich schäme mich noch heute so sehr
dafür, was ich ihr angetan habe.
Es kam heraus, dass Sie ihr das LSD ge-
geben hatten. Wie wurden Sie bestraft?
Obwohl ich erst zwölf Jahre alt war, wurde
ich verhaftet, saß kurz im Gefängnis und
durfte in ganz L. A. keine Schule mehr be-
suchen. Ich war am Rande des kompletten
Absturzes. Meine Eltern versuchten alles.
Sie schickten mich sogar auf eine Militär-
akademie. Ich flog überall raus. Weil ich in
einen Coffeeshop einbrach, wurde ich noch
mal verhaftet. Es brauchte einige Zeit, bis
ich meine Lektion gelernt hatte.
Aber es gab einen Punkt, an dem sich
alles änderte. Wie kam es dazu?

Mit 16 war ich jeden Tag bekifft, hing auf
der Straße rum. Eines Abends kam ich nach
Hause und sollte Hausaufgaben machen.
Aber ich war zu high. Dann hatte ich plötz-
lich eine Panikattacke und sah meine
Zukunft vor mir: als obdachloser Drogen-
junkie. Das war für mich wie eine Erleuch-
tung. Ich hörte wirklich über Nacht auf,
Marihuana zu rauchen. Vermutlich waren
die Pubertät und die Hormone endlich
fertig mit mir. Es war wie ein Erwachen.
Ihr Leben verlief nach diesem Wende-
punkt normal?

Quasi. Ich habe versucht, meine schreck-
liche Kindheit durch ein langweiliges
Erwachsenenleben zu übertönen.
Sie sind schließlich Schauspieler ge-
worden und haben geheiratet. Als Sie
und Ihre Frau sich Kinder wünschten
und eine künstliche Befruchtung vor-
nehmen lassen wollten, standen Sie
vor der Frage: Lassen wir die Embryos
testen ...
Ja – und dann die männlichen vernichten,
wenn sie die Mutation tragen. Sie bereitet
ja nur Jungs Probleme. Wir haben um
diese Frage gerungen. Ich wollte uns allen
Leid ersparen.
Warum entschieden Sie sich gegen einen
Test?
Daran ist mein Vater schuld. Er rief mich
eines Abends an und fragte mich: Warum
willst du das tun? Ich war überrascht. Er
hatte doch erlebt, was ich durch-
gemacht hatte.
Was erwiderte er?
Er meinte: Schau, Junge, ich
weiß nicht, welche Kindheit
du ohne die vorgezogene Puber-
tät gehabt hättest. Vielleicht
eine einfachere. Was ich weiß,
ist, dass du wegen deiner Kind-
heit der bist, der du heute
bist. Und diese Person liebe
und bewundere ich. Mach den
Test – oder lass es. Ich bin sicher,
dass, egal, wie das Ergebnis sein
wird, du deinen Sohn lieben
wirst.
Was antworteten Sie?
Nichts. Ich musste weinen. Da-
nach sprachen mein Vater und
ich zum ersten Mal offen über
unsere Krankheit und die Pro-
bleme damit. Am Ende des Ge-
sprächs war ich sicher, dass wir
keine Tests brauchen.
Im Frühjahr 2015 wurde Ihr Sohn ge-
boren. Sie ließen ihn später auf die
Mutation testen. Er ist negativ. Eine Er-
leichterung?
Es war mir im Grunde egal. Ich liebe ihn.
Wir hätten das gemeinsam durchgestan-
den. Es ist keine tödliche Krankheit, es
ist kein Krebs, es ist keine schreckliche
De formation. Ich bin auch okay aus der
Sache herausgekommen. Es war hart, aber
man kann das überleben. 2

3 Jahre
Ein kleiner Junge,
der sich gern verkleidet,
mit behaarten Beinen

„Für meine Mutter


war das grausam.


Ihr Baby wurde beleidigt


und angefeindet“


100 15.8.2019

Free download pdf