Der Stern - 15. August 2019

(Barré) #1
MartinSimonsist
AutorundVaterund
dentäglichenRoutinen
damitrechtfestver-
haftet,alseineHirn-
blutungplötzlichalles
verändert– undihn
seineSterblichkeitzum
erstenMalerfahrenlässt.Seltsamer-
weiseerscheintihmdieErkenntnis,
dassderTodkommt,wennauch
„Jetztnochnicht,aberirgendwann
schon“,garnichtsoschrecklich,wie
erselbstvermutethätte.Martin
SimonserzähltseineGeschichtevoll-
kommenunaufgeregt.Dochwie
nachdenklichundnahezustaunender
beschreibt,waswährendderMonate
derGenesunginihminBewegung
gerät,ziehtsofortindenBann.
(Aufbau, 20 Euro) 22222

ROMAN


„Anthonywarvier-
zehn,undeswarSom-
mer.Allesmusseinmal
anfangen.“Undso
erzähltNicolasMat-
hieuin„Wiespäter
ihreKinder“davon,
wiealledaraufwarten,
dassesendlichlosgeht.Wiewirdder
ersteSexsein,wiedieersteDroge,
welcherJobkommtinFrage?Die
JungsundMädchenimNordfrankreich
der90erJahrewollennichtdasLeben
ihrerEltern– ArbeiterundKleinbürger


  • wiederholen,dochbaldmerkendie
    meistenvonihnen,dasssieineiner
    Fallestecken.DerZauberdesAnfangs
    weichtdemGraueinerWelt,diesich
    einfachnichtändernlässt.Einstarker
    Romanmiteinermanchmal
    etwaszusalzigenPriseSoziologie.
    (Hanser, 24 Euro) 22222


ROMAN


Schon mal gebooft?
Mal im Gumpen
gebadet?Oderden
Offsupselaufge-
trunken?Bestimmt
Aberso sagen
würden’snur
wenige,dennes
gibtebeneinfach
„Wörter,die es
nichtauf
Hochdeutschgibt“
Gesammeltund
erklärthat sie
SofiaBlindin diesem
tollenBand,illustriert
von NikolausHeidelbach.
(Dumont,18 Euro)

?


.


ILLUSTRATION: NIKOLAUS HEIDELBACH/DUMONT

Auch wenn Robert Macfarlane als
Pionier des „New Nature Writing“ gilt: In
„Im Unterland“ ist er so nah dran
am Menschen wie nie zuvor. Und auf der
Höhe seines Könnens als Wissensver-
mittler und Literat. Reportage, Abenteuer

und Wissenschaftsthriller zugleich,
enthüllend im wahrsten Sinne des Wortes.
Eines der besten Sachbücher der letzten
Jahre, das zur Pflichtlektüre erklärt werden
sollte vor jeder „Fridays for Future“-
Demo. (Penguin, 24 Euro) 22222

In Island brach der Vulkan Eyjafjallajökull
aus, in Chile waren nach einem Gruben-
unglück Bergleute 700 Meter unter Tage
eingeschlossen, Haiti wurde von einem
Erdbeben verwüstet, und im Golf von
Mexiko explodierte die Bohrplattform
Deepwater Horizon und löste eine gigan-
tische Ölpest aus.
Es heißt oft, das letzte große Geheimnis
unseres Planeten sei die Erforschung der
Ozeane, der Tiefsee. Dabei wissen wir nicht
einmal, was passiert, wenn wir vor unse-
rer eigenen Haustür fünf Meter graben.
„Der Erdboden ist eine unglaublich mys-
teriöse, vitale Substanz, über die wir
noch viel lernen müssen“, sagt Macfarlane.
„Gerade eben wurde beispielsweise ent-
deckt, dass eine Biosphäre existiert, die
kilometertief in die Erdkruste reicht. Dort
leben zwar nur Mikroorganismen, doch
deren Artenreichtum übertrifft die Gala-
pagosinseln und den Amazonas.“
Nach dem Ausflug zu den „Nine Wells“
sind wir, fast vier Stunden später, wieder
bei seinem Haus angelangt, mit leichtem
Sonnenbrand und schwerem Erkenntnis-
gewinn. Im Garten vor einem Trampolin
und einem Schuppen, der ihm als Studier-
zimmer dient, serviert Macfarlane Kaffee
und Kuchen. Wir sprechen noch ein wenig
über die Deutschen, und wie die Nazis die
Liebe zur Landschaft in eine Waffe um-
gewandelt haben: als Heimat, als Blut und
Boden. Und über Greta Thunberg und wie
er selbst vor Kurzem einen Umweltmarsch
nach Westminster mitorganisiert hat.
„Die große Frage, die mein Buch stellt, ist:
Sind wir gute Vorfahren? Im Sinne von
Fridays for Future müssten wir eher fragen:
Sind wir gute Eltern?“
Was, glaubt er, kann sein Schreiben idea-
lerweise bewirken? Er denkt kurz nach
und sagt sehr ernst: „Ich will, dass sich der
Blick meiner Leser auf die Welt verändert.
Dass sie nach der Lektüre anders in der
Welt existieren, sie anders wahrnehmen.“
Wir schauen eben nicht nur auf die Natur,
die Natur schaut auch auf uns zurück.
Genau dieses Kunststück gelingt auch
seinem neuen Buch. Wir erkennen uns
selbst darin. Und schaudern. 2

neuen Wörtern, um die Welt da draußen
noch präziser und zugleich einfühlsamer
zu beschreiben.
Sein neues Buch „Im Unterland“ ist ähn-
lich gelagert und dennoch sehr anders. Düs-
terer, unheimlicher, näher dran an der vom
Menschen gebauten und gestalteten Um-
welt. Es geht in Tiefen, die nur wenige vor
ihm so intensiv erkundet haben. In Nord-
italien seilte er sich ab zu einem unter-
irdischen Fluss mit Dünen aus schwarzem
Sand. In Paris verschwand er drei Tage lang
in den Katakomben. In Finnland besich-
tigte er ein Endlager für Atommüll. Und
bei der winterlichen Übersteigung einer
steilen Felswand auf den Lofoten – auf der
Suche nach einer Meereshöhle, die für ihre
prähistorischen Strichmännchen-Zeich-
nungen bekannt ist – wäre er fast ums
Leben gekommen, als er allein in einen
Schneesturm geriet. Was der mit einer
China-Expertin verheiratete Vater von drei
Kinder so nicht stehen lassen will: „Okay,
das fühlte sich irgendwann an wie eine Fol-
ge aus ,Game of Thrones‘, nur mit Funk-
tionskleidung. Aber ich hätte mir höchstens
ein Bein brechen können in Norwegen,
mehr nicht“, sagt er leicht entrüstet.
Warum die Mühen? Macfarlane faszinie-
ren solche „dünnen Orte“, wie er sie nennt.
„Nine Wells“ im Wäldchen bei Cambridge
gehört für ihn dazu, weil dort die Grenze
zwischen oben und unten durchlässig
wird, sich Passagen auftun in Vergangen-
heit und Zukunft. Auch weil das Unterland
für alle Kulturen von jeher drei Aufgaben
erfüllt: Kostbares wie Erinnerungen und
Schätze schützen, Wertvolles wie Mine-
ralien hervorbringen, Schädliches wie
Geheimnisse und Gift entsorgen.
Macfarlane, der auf den Fotos seiner Ex-
peditionen manchmal aussieht wie eine
intellektuelle Version von Indiana Jones,
hat auch noch eine schlichtere Aben-
teurer-Antwort: „Warum steigt man auf
Berge? Weil sie da sind. Warum steigt man
in den Untergrund? Weil er nicht da ist.“
Die Idee, genauer in die Tiefe zu schau-
en, kam ihm im Jahr 2010, als gleich an
mehreren Schauplätzen das Erdinnere ans
Licht drängte – und in die Schlagzeilen.

106 15.8.2019

KULTUR

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