FOTOS: JO STRAUBE/STERN; IMAGE SOURCE
Dieser Frage gilt mein Hauptinteresse. Alles, was wir
aus der Evolutionspsychologie und Neuropsychologie
wissen, deutet auf die extreme Wichtigkeit unseres
Tastsinnes hin. Kennen Sie diese Schaubilder, die unse-
ren Körper in Hinblick auf unsere Sinne abbilden?
Auf ihnen sind wir Wesen mit einem winzigen
Rücken, aber riesigen Lippen und Zungen und
gewaltigen Händen.
Denn die Dichte der Nervenenden in unseren Finger-
spitzen ist enorm. Mit meiner Tochter spiele ich
manchmal Augen verbinden und dann Objekte erra-
ten. Was auf unserem Bauch liegt, erkennen wir nicht,
der Handrücken oder die Stirn sind schon besser, aber
sobald wir etwas in Händen halten, wissen wir Be-
scheid. Berühren und anfassen sind fundamental
wichtig für unsere Seele. Wir haben Vier- und Fünf-
jährige im Kindergarten bei ihren Lesebemühungen
gefilmt. Es ist unglaublich, was die alles mit ihren Fin-
gern machen. Sie wischen, streichen, sie folgen den
Buchstaben. Das Zeigen mit dem Finger scheint ein
Wegbereiter für unsere Lesefähigkeit zu sein.
Wie ist es beim Schreiben?
Das handschriftliche Lernen fällt uns leichter, weil je-
der Buchstabe seine eigene Bewegungsmelodie hat.
Auf der Tastatur sind alle Buchstaben identische An-
schläge mit den Fingerspitzen. Die „Haptik des Schrei-
bens“ vereint Motorik und Visuelles, und das Schreiben
von Briefen per Hand aktiviert andere Teile im präfron-
talen Kortex als das auf der Tastatur. An Dinge, die wir
handschriftlich notieren, erinnern wir uns besser.
Schreiben Sie noch mit der Hand?
Ich verschicke immer noch Postkarten. Ich mag das.
In Deutschland hat die Stavanger-Erklärung für
Aufsehen gesorgt. Sie fällt in die Debatte um den
Digitalpakt, der Schulen mit Smartphones und
Laptops ausstatten soll.
Der Wert des Lesens in den Schulen verändert sich
gerade. In Norwegen lesen Kinder keine ganzen Ro-
mane mehr, sie lesen Kapitel, und das ist eine völlig
andere Sache. Sie kriegen nur kleine Bissen gereicht
und haben nie den vollen Überblick. Wir haben uns
Denkweisen für das Lesen am Schirm und am Com-
puter antrainiert, die jetzt offenbar ins Bücherlesen
hinübersickern. Dagegen sollten wir ansteuern.
Sie meinen unsere neue Art des Lesens? Über die
ersten Zeilen huschen, dann diagonal scannen, im
Zickzack durch die Texte kreuzen – Hauptsache,
schneller?
Dieses Überfliegen wird zur Gewohnheit. Wir laufen
Gefahr, oberflächliche Leser zu werden. Eine ganze
Frau Mangen, es ist 11.50 Uhr – wie viele Wörter
haben Sie heute schon gelesen?
Ich saß bis eben in Meetings und habe heute eigent-
lich nur geredet. Wir bereiten gerade eine Nordische
Konferenz über Lesen und Schreiben vor. Ich freue
mich aber sehr auf die nächste Woche. Da habe ich
Urlaub und werde lesen, lesen, lesen. Romane, aber
auch ein paar wissenschaftliche Bücher, die ich sonst
nicht schaffe.
Lesen Sie auf dem E-Reader?
Nein. Nie. Ich sollte aber, um das Gefühl dafür nicht
ganz zu verlieren.
Fast 200 Wissenschaftler aus ganz Europa haben sich
im Herbst bei Ihnen in Stavanger in Norwegen
getroffen und eine Erklärung veröffentlicht. Es geht
um die Zukunft des Lesens, und da scheinen Proble-
me auf uns zuzukommen.
Wir stützen uns auf 54 Studien aus 30 Ländern – mit
mehr als 170 000 Teilnehmern, und wir wissen jetzt,
dass das Verständnis langer Informationstexte beim
Lesen auf Papier besser ist als beim Bildschirmlesen.
Wenn es darum geht, das Gelesene zu behalten und
wirklich zu verstehen, dann ist Papier besser für uns.
Das ist problematisch in einer Welt mit immer mehr
Text auf immer mehr Bildschirmen.
In einer Ihrer eigenen Studien haben Sie 2014 zwei
Vergleichsgruppen einen 28-seitigen Kurzkrimi von
Elizabeth George lesen lassen. Was haben Sie im
Einzelnen herausgefunden?
Bei der Lesezeit gab es keine Unterschiede, auch nicht
bei den Kontrollfragen nach Schauplätzen und Objek-
ten. Schlechter schnitten die Kindle-Leser bei der Chro-
nologie der Ereignisse und Handlungen ab. Eindeutig
wurden die Schwächen bei der Aufgabe, den Verlauf der
Handlung zeitlich folgerichtig wiederzugeben.
Wie erklären Sie sich das?
Wir vermuten, dass es mit dem körperlich gefühlten
Leseerlebnis zusammenhängt. Wenn wir ein Buch in
Händen halten, können wir die Seiten wenden, das
Papier fühlen, zurückblättern. Die linke und rechte
Hand spüren das Gewicht der gelesenen und noch zu
lesenden Seiten. Am E-Reader kann man nur Prozent-
zahlen einblenden lassen, doch die eignen sich ein-
deutig weniger gut als feste Ankerpunkte – zeitlich
wie räumlich.
Wir lesen mit dem ganzen Körper?
So scheint es zu sein. Das Wahrnehmen von Text funk-
tioniert über den Körper, wir sprechen da von der
„embodied cognition“.
Welche Rolle spielt die Berührung beim Lesen? 4
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