Reihe empirischer Studien zeigt, dass Texte auf
Computer, Smartphone, Tablet eher überflogen als
konzentriert durchgelesen werden.
Wie kommen Sie selbst damit zurecht?
Manchmal merke ich, dass es eine Herausforderung
ist, mich längere Zeit auf komplexe Texte zu konzen-
trieren. Die Fähigkeit zu sprechen, zu schauen
und zu hören ist uns angeboren, aber wir kommen
nicht als Leseratten zur Welt. Das Lesen müssen wir
uns erarbeiten.
Können wir es verlernen?
Wie es geht, hat meine Kollegin Maryanne Wolf in
ihrem Buch „Das lesende Gehirn“ sehr gut beschrie-
ben. Der Versuch, ihr frühes Lieblingsbuch von
Hermann Hesse nach Jahrzehnten wieder einmal zu
lesen, ging daneben. Es war, als hätte man ihr einen
Eimer Zuckersirup übers Gehirn geschüttet. Beim drit-
ten Anlauf zwang sie sich zum langsamen Lesen und
begann, ins „Glasperlenspiel“ zurückzufinden. Sie
schreibt von der „kognitiven Geduld“, die es braucht,
um dichtere Texte zu lesen.
Macht es einen Unterschied, welche Qualität das
Gelesene hat?
Es scheint eine Rolle zu spielen, ob wir Texte lesen, die
es uns erlauben, Empathie zu empfinden und uns in
die Figuren hineinzuversetzen. Für unser soziales
Leben ist das sehr wichtig. Für unsere Fähigkeit zum
logischen Denken und zum Empfinden von Schönheit.
Bei der Diskussion über die Vor- und Nachteile des
digitalen Lesens halte ich den Aspekt der geistigen
Gesundheit für ganz entscheidend.
Erwachsene US-Amerikaner verbringen täglich
mehr als zehn Stunden vor Bildschirmen, vier-
einhalb Stunden davon vorm Fernseher. „Unsere
Konkurrenz ist der Schlaf “, hat der Vorstandsvorsit-
zende von Netflix, Reed Hastings, gesagt. „Und das
ist noch ein ziemlich großes Reservoir an Zeit.“
Es geht nicht nur darum, große Literatur zu lesen, weil
sie zu unserem kulturellen Erbe dazugehört und zu
unserer Identität als intellektuelle und zivilisierte
Gesellschaften, sondern auch weil sie uns in jeder
Hinsicht guttut. Die neuropsychologischen Aspekte
des Lesens von Literatur sind mittlerweile recht
gut erforscht.
Bereits nach sechs Minuten, die man vertieft in
einen Roman verbringt, schlägt das Herz langsamer,
und die Muskeln entspannen sich – laut einer
Studie der Universität Sussex.
Ein anderer guter Tipp, um sich mental und körper-
lich zu entspannen, heißt: „Ein Kapitel pro Tag.“
So ähnlich wie der tägliche Apfel, den wir essen
sollten, um gesund zu bleiben?
Ja. Schwedische Studien deuten darauf hin, dass Lesen
unser Leben verlängert, auch das Besuchen kultu -
reller Veranstaltungen wie Lesungen. Es gibt wohl
Zusammenhänge zwischen dem Leseverhalten und
der Zahl der Arztbesuche oder dem Verbrauch von
Medizin. Oder dem Besuch der Schulbibliothek und
einer geringeren Wahrscheinlichkeit für Depressio-
nen oder einen Schulabbruch.
Wie halten Sie es mit dem Lesen?
Ich nehme mir abends eine halbe Stunde Zeit für die
Bettlektüre. Auf Papier. Das entspannt den ganzen
Kopf, besonders die Augen. Manchmal lese ich auch
meiner 14-jährigen Tochter vor. Oder sie mir.
Warum lesen Frauen mehr als Männer?
Vielleicht ist das literarische Angebot schon für jun-
ge weibliche Leserinnen größer als das für Jungen? Die
haben wohl auch ein größeres Bedürfnis, zu laufen und
zu springen, als mit einem Buch im Stuhl zu sitzen.
Das sind aber nur Vermutungen. Mein Mann hat kaum
Bücher und Romane, liest aber ständig Nachrichten
und alles Mögliche kreuz und quer am Bildschirm.
Dafür spielt er mit unserer Tochter am Computer.
Leider kommt sie jetzt in ein Alter, in dem sie es nicht
mehr so cool findet, was ihre Mutter macht. Mal
sehen, wie es weitergeht.
Es gibt iPad-Schulen in Norwegen und Dänemark.
Würden Sie Ihr Kind auf eine solche Schule schicken?
Eher nicht. Es gibt das Bestreben von Politikern und
Schulverwaltungen, voll aufs Digitale zu setzen, und
zwar mit einer Politik des „one size fits all“, also einem
Modell für alle Bedürfnisse. Ich will nicht zu den Leu-
ten gehören, die sagen, vor dem Krieg sei alles besser
„ E s w a r ,
g e s c h ü t t e t “
a l s h ä t t e m a n
i h r e i n e n E i m e r
Z u c k e r s i r u p ü b e r s G e h i r n
80 15.8.2019