Der Stern - 15. August 2019

(Barré) #1
Dirk van Versendaal staunt über die Weitläufigkeit
und den Wohlstand des Universitätsgeländes in
Stavanger – und darüber, dass es ihm selbst schwerer
als früher fällt, die Klassiker der Literatur zu lesen

gewesen. Und ich bin mir sicher, dass Bildschirme auch


sehr nützlich sind, aber sie sind ein Grund zur Sorge.


Welche Vorteile hat das digitale Lesen?


Es ist toll für alle, die zum Lesen größere Buchstaben


und mehr Licht brauchen oder kurze Zeilenlängen. Auf


E-Readern lassen sich viele Bücher speichern, sie sind


leicht zu transportieren und ermöglichen Zugriff


auf riesige Textmengen. Für die schnelle Suche nach


Informationen ist die Lektüre am Bildschirm ideal.


Die Skandinavier gelten als Leseratten und ihre


Autoren als Vielschreiber.


Auch bei uns werden immer weniger lange Texte


gelesen, Romane vor allem. Zurzeit werden hier gera-


de Massenuntersuchungen gemacht über Lesege-


wohnheiten in Norwegen. Ich bin sehr neugierig auf


die Ergebnisse. Eines ist aber schon durchgesickert:


Mehr als 80 Prozent der jungen Leser ziehen analoge,


gedruckte Texte für vertieftes Lesen vor, für das „Deep


Reading“. Das überrascht mich natürlich nicht.


Folgen wir Jo Nesbøs Kommissar Harry Hole durch


immer neue Fälle und Harry Potter nach Hogwarts,


weil wir uns auf Komplizierteres nicht länger kon-


zentrieren können?


Das diskutieren wir bei unserem Zusammenschluss


E-READ. Was man bei Nesbø bekommt, sind textliche


Qualitäten, die redundant und nicht besonders


fordernd sind. In einem Buch von Thomas Mann da-


gegen – wie altmodisch, mögen viele sagen – finden


wir Merkmale unserer Sprache, die heute über das


leicht Verständliche hinausgehen. Wie wichtig ist es


für uns, sie zu trainieren? Leiden das mitfühlende


Denken und die Fähigkeit, sich in andere hineinzu-


versetzen? Gut möglich.


Sollten Kinder zum Beispiel im Urlaub ganz brachial


gezwungen werden, Bücher zu lesen?


Wir sollten sie zumindest ermuntern und dann hof-


fen, dass es ihnen Spaß macht. Das ist Herausforderung


genug. Wir müssen ihnen beibringen, für welche Art


des Lesens sie welche Medien wählen. Für die vertief-


te Lektüre sind Bildschirme Gift, aber kurze informa-


tive Texte können überall gelesen werden. Wenn wir


auf elektronischen Geräten lesen, sollten wir bewusst


langsamer lesen und natürlich die automatischen Hin-


weise bei neu eintreffenden Nachrichten abschalten.


Leiden wir unter zu viel Information? Müssen wir


von klein auf lernen zu filtern?


Eindeutig. Die durchschnittlich pro Tag und Kopf kon-


sumierte Textmenge wächst enorm, das geht einher


mit dem Lesen digitaler Texte. Es ist Zeit, mit dem


Mythos vom Multitasking aufzuräumen, besonders


bei den Digital Natives, den digital aufgewachsenen


Generationen. Es gibt so etwas wie die grundlegende


menschliche Psychologie – sie sollte das Rückgrat


aller Entscheidungen sein, die in der Bildungspolitik


gefällt werden. Zurzeit wird sie extrem von der Techno-


logie vorangetrieben, von schicken Schlagworten wie


„zukünftige Fähigkeiten“ und „digitale Innovationen“.


Dabei gehen möglicherweise Werte verloren, die wir
nicht so leichtfertig aufgeben sollten.
Es geht natürlich auch ums Geld?
Auch das. Bücher sind teuer. Es kann sogar einen
Einfluss auf unser Leseverhalten haben, wie viel Geld
wir verdienen. Studenten, die eigentlich viel lieber mit
Lehrbüchern studieren würden, können sich aber nur
die digitalen Versionen leisten. Das war in den USA ein
Problem, das sich jetzt aber auch in Europa auszu-
breiten scheint.
In manchen Studienzweigen lernen Studenten nicht
mehr durch das Lesen, sondern am Bildschirm und
durch Videos und Podcasts.
In der Medizin wird das so gemacht, aber in Englischer
Literatur? In den Geisteswissenschaften? Im Frühjahr
waren wir mit unserer Stavanger-Erklärung bei der
EU-Kommission in Brüssel, um sie über unsere Ent-
deckungen zu informieren. Wir wollten alle erreichen,
die es angeht: Lehrer, Kulturpolitiker, Verleger. Viele
haben ihre eigenen Prioritäten, und bisher ist es eher,
als redeten wir gegen eine Wand. Wir wollen nicht laut
aufschreien, aber wir sollten schon mal die Alarm-
glocken schlagen, denn es geht um Dinge von großer
Wichtigkeit. Es geht uns auch nicht darum, Bücher
gegen Bildschirme auszuspielen, sondern Wege zu
finden, wie uns das Lesen auf digitalen Oberflächen
ähnlich gut gelingen kann wie auf Papier.
Was können wir selbst machen? Aus Neuseeland
kommt die Idee vom „Slow Reading“, bei uns feiern
„Silent Reading Partys“ das gemeinsame Lesen in
der Stille.
An US-Schulen gibt es neuerdings „Deep Reading“-
Kurse mit dem Ziel, ein ganzes Buch zu schaffen. Auch
Büchereien sind extrem wichtig! Solche Orte der Ruhe
findet man immer seltener.
Im Silicon Valley, so heißt es, schicken die Vorantrei-
ber der digitalen Welt ihre Kinder neuerdings sehr
gern auf Waldorfschulen ohne Internetanschluss.
Und in einigen US-Hochschulen der Ivy-League
haben Studenten Leseklubs eröffnet, um dem Stress
entgegenzuwirken. Alle lesen das gleiche Buch von der
ersten bis zur letzten Seite, ganz freiwillig, und an-
schließend wird darüber gesprochen. Es fehlt uns an
Ruhe, das sollte man auch bei der Schaffung von Groß-
raumbüros und Arbeitszellen bedenken. Ich weiß, dass
in Universitäten, die jetzt gebaut werden, Professoren
und Studenten in offenen Bürolandschaften arbeiten
sollen. Da werden voreilig Strukturen zerstört, von
denen wir wissen, dass wir sie für unser Seelenheil
brauchen. Denn sollten wir nicht eigentlich alle unse-
ren eigenen Arbeitstisch im Wald stehen haben? 2

15.8.2019 81
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