Keine zehn Minuten sind im Heidel-
berger Landgericht vergangen, als
Juliane Faller zusammenbricht. „Ich
bin so verzweifelt, dass ich meine
beste Freundin vor ihrem Tod nicht
mehr erreicht habe“, sagt die 84-Jäh-
rige schluchzend. „Ich habe angeru-
fen, immer und immer wieder, bin
aber nicht mehr durchgekommen.“
Richter Thomas Henn ist sichtlich
gerührt. „Warum sind Sie bei Ihrer
Freundin nicht mal vorbeigefah-
ren?“, fragt er. Juliane Faller sagt:
„Ich hatte Angst, dass mich Frau
Hage* rauswirft.“
Veronika Hage, 58, ist die Beklag-
te in diesem Zivilverfahren. Wenn es
für sie gut läuft, ist sie bald mehrfa-
che Millionärin. Wenn nicht, gilt sie
als Betrügerin. Der Streit dreht sich
um das Vermögen von Fallers bes-
ter Freundin Anni Wolf und ihrem
Mann Herbert. Das kinderlose Paar
besaß eine Gebäudereinigungsfirma
und etwa ein Dutzend Immobilien
in Heidelberg. Mindestens elf Mil-
lionenEurosollderBesitzwertsein.
RichterHennsagt:„Eskönnenauch
dreißigMillionensein.“
NachdemerstHerbert,dannAnni
WolfinhohemAltergestorbenwa-
ren,hatteVeronikaHagezweiTesta-
mentepräsentiert,diesiezurAllein-
erbinmachen.InderVerhandlung
sitztHage,eineschmaleFraumit
langemdunkelblondenHaar,mit
durchgedrücktemKreuzaufihrem
Stuhl.Fasttonlossagtsie:„Ichhabe
fürdieWolfsdieBuchführungerle-
digt,ihreMietshäuserverwaltetund
eingekauft.AmSchlusshabeich
beidegewaschen,aufdieToilettebe-
gleitetunddenKatheterbeutelge-
wechselt.“DasklingtnachNäheund
Zuverlässigkeit,nacheinemVer-
trauensverhältnis,daswomöglich
amEndebelohntwurde.Dochzwei
NeffenvonAnniWolfundweitere
entfernte Verwandteargwöhnen,
dassdieTestamentenichtdenWil-
lenderVerstorbenenwiedergeben,
dieihrVermögeneigentlichineine
Stiftungüberführenwollten–son-
derndenderallzeithilfreichenVe-
ronikaHage.Sieglauben,dassdie
PapierekeinesfallsvondenWolfsal-
leinverfasstwurden.Dasssiewo-
möglichkomplettgefälschtsind.
„Hätten die Wolfs ihre Testamen-
te vor einem Notar verfasst, säßen
wir nicht hier“, sagt Richter Henn.
Aber wie viele andere Senioren ha-
ben sie ihre Nachlassregelung nicht
an offizieller Stelle hinterlegt. Wie
viele andere waren sie in ihren letz-
ten Jahren nicht umsorgt von Fami-
lienangehörigen, sondern von je-
mandem, der von ihnen bezahlt
wurde – und dem die Verwandten
dann später misstrauen. Richter
Henn hat acht Zeugen geladen. Sie
sollen ihm einschätzen helfen, ob
die Testamente gültig sein können.
Und dabei geht es vor allem um eine
Frage: Wäre Anni Wolf am Ende
ihrer Tage überhaupt noch in der
Lage gewesen, ihren Letzten Willen
zu verfassen? Die acht Zeugen be-
streiten das vehement. Nur Veroni-
ka Hage sagt etwas anderes. Ihre
Geschichte geht so:
Im Jahr 2000 eröffnete sie ein Ein-
zelhandelsgeschäft in Heidelberg, die
Wolfs waren ihre Vermieter. „Ich habe
michmitAnniWolfangefreundet,
diejedenTagdiePostundabundzu
einStückKuchenvorbeibrachte“,er-
zähltsie.AuchnachdemVeronika
HageihrenLadeneinpaarJahrespä-
tergeschlossenhatte,bliebderKon-
taktbestehen.Hageschauteimmer
malwiederbeidenWolfsvorbei,die
JahregingeninsLand.AlsHerbert
Wolf 2013 insKrankenhausmusste,
botHageihreHilfean.Nachundnach
wurdesieunentbehrlich.Siebeglei-
tetedasEhepaarzuArztbesuchen,
kaufteeinundlegteMedikamente
bereit.SpäterübernahmsiedieBuch-
haltung,kümmertesichumSteuer-
erklärungenunddieVerwaltungder
Mietshäuser.Dafürbekamsievon
denWolfsmonatlicheinGehalt.
WasdasVermögenderEheleute
angeht,sohabesiegedacht,dasses
nach deren Tod in eine wohltätige
Stiftung fließen solle, sagt Hage vor
Gericht. Tatsächlich hatte das Paar
eine solche Stiftung gegründet, ihr
aber noch nicht viel Geld zugewie-
sen. Ein langjähriger Freund, der
Steuerberater der beiden, war zum
Beirat bestimmt worden. Aber ir-
gendwann, so Hage, gab es Streit.
„Veronika“, habe Herbert Wolf da zu
ihr gesagt, „wickele die Stiftung ab,
du erbst sowieso mal alles.“
Als Herbert Wolf am 2. Dezember
2017 nach einem Sturz in die Klinik
kam, entdeckten die Ärzte Krebs-
Metastasen. Wenige Tage später er-
lag er der Krankheit im Alter von 85
Jahren.
Nur acht Monate später starb
auch Anni Wolf – und Veronika
Hage präsentierte die Testamente
der beiden. Seines datierte aus dem
Jahr 2016, ihres war von 2013. Hage
sagt, Herbert Wolf habe sie schon
nach seinem Sturz im Krankenhaus
auf die Papiere aufmerksam ge-
macht: „Falls etwas passiert – die
Testamente sind in meiner Kommo-
de im Schlafzimmer.“ Der Inhalt der
Schreiben: Die Eheleute setzen sich
gegenseitig als Erben ein – mit Ve-
ronika Hage als Ersatz. Im Ver-
mächtnis von Anni Wolf heißt es:
„Für den Fall, dass mein Ehemann
vor mir stirbt, soll mein gesamter
Nachlass an Veronika Hage gehen.
Ich habe mir immer eine Tochter wie
sie gewünscht.“
Eine weniger schöne Rolle spielt
Veronika Hage, wenn sich Freunde,
Verwandte und Nachbarn der Wolfs
erinnern, vor Gericht oder‚ gegen-
über dem stern.
Die Fallers gehörten zu den engs-
ten Vertrauten des alten Ehepaars.
Juliane Faller und Anni Wolf kann-
ten sich seit ihrer Einschulung 1940.
Zusammen hatten sie eine Schnei-
derlehre absolviert, zusammen ihre
Ehemänner kennengelernt. Seit
Mitte der 80er Jahre trafen sie sich
einmal die Woche zum Essen mit
ihren Männern, man fuhr gemein-
sam in den Urlaub. Eine jahrzehn-
tealte Freundschaft – die ganz zum
Schluss sehr schwierig wurde.
2009 fiel den Fallers auf, dass
Anni Wolf sich veränderte. „Sie wie-
derholte immer wieder dieselben
Sätze, konnte unseren Gesprächen
K
*NamevonderRedaktiongeändert
„FÜR DEN FALL,
DASS MEIN EHEMANN
VOR MIR STIRBT, SOLL
MEIN GESAMTER
NACHLASS AN VERONIKA
HAGE GEHEN“
94 15.8.2019