Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

in den Kopf der Doktorandin von damals zu
blicken: wie Giffey gearbeitet hat. Ob sie nur
schludrig zitiert hat. Oder bewusst getäuscht.
254 Seiten umfasst die Dokumentation von
Vroni Plag, das sind nur zwölf Seiten weniger als
Giffeys Doktorarbeit selbst. Niemand dürfte die
Abhandlung neben der Ministerin selbst bislang
so gut kennen wie Robert Schmidt. So nennt sich
ein langjähriger Plagiatsprüfer von Vroni Plag.
(Der Name der Plattform erinnert an die erste
Prüfung, nämlich jene der Doktorarbeit von Ve-
ronica Saß, Tochter von Edmund Stoiber.)
Schmidt selbst hat unter anderem die Dissertatio-
nen von Annette Schavan, Norbert Lammert und
Ursula von der Leyen überprüft. Er ist bekannt
für seinen Fleiß und seine Penibilität, und er
äußert sich nur per E-Mail. Gut 500 Stunden
habe er in den Fall investiert, schreibt Schmidt.
Anschließend wurde jeder Verdacht von einem
zweiten Vroni Plag- Mit ar bei ter gesichtet, bevor er
als »Plagiatsfund« in der Dokumentation ver-
merkt wurde.
Insgesamt 119 Textfragmente beanstandet
Vroni Plag. Das sind 13 Prozent des Gesamttextes
oder im Schnitt ein Plagiat auf jeder dritten Seite.
Doch anders als etwa Theodor zu Guttenberg
schreibt die Doktorandin Giffey aus anderen Wer-
ken nicht ganze Seiten oder Absätze ab. Die Auto-
rin übernimmt nur einzelne Satzfragmente. Mal
sind es sieben Wörter am Stück, mal zwölf, mal 22.
Die Höchstzahl in Folge kopierter Wörter be-
trägt 32. In diesem Falle bedient sich Giffey bei
dem Sozialwissenschaftler Jürgen Kocka, ohne
Anführungszeichen zu setzen und Kocka an dieser
Stelle zu erwähnen. Stattdessen nennt sie fünf an-
dere Autoren, von denen der Leser nicht erfährt,
was sie mit genau diesem Sachverhalt zu tun
haben. Kocka taucht erst im nächsten Satz auf.
Hinzu kommt ein weiterer, paradox klingen-
der Vorwurf: Giffey nenne nicht zu wenige,
sondern zu viele Quellen.
Tatsächlich strotzt die Arbeit vor Verweisen.
Kaum ein Absatz endet, ohne dass in Klammern
mehrere Namen genannt werden: »(Joerges u. a.
2001; Kohler-Koch 2004; Smismans 2005; Liebert/
Trenz 2008)«. Die Hauptkritik der Plagiatsjäger
lautet, Giffey habe viele dieser Autoren nicht selbst
durchgearbeitet, sondern von Dritten übernom-
men, ohne dass sie dies offenlege.
Das sticht besonders dann ins Auge, wenn Gif-
fey Namen falsch schreibt, also zum Beispiel eine


Autorin »Khotari« statt Khortari nennt – und man
exakt diesen Fehler auch in einem Werk findet, das
Giffey an der Stelle nicht erwähnt. Oder wenn
sie Sachverhalte referiert, die sie aus englischen
Quellen übersetzt hat, ohne diese anzugeben.
Gerhard Dannemann, Jura-Professor an der
Berliner Humboldt-Universität, nennt das ein
»systematisches Absaugen von Quellenverweisen
aus der Sekundärliteratur«. Auch er gehört zu den
Vroni Plag- Akti vis ten. Das »ungeprüfte Absaugen«
sei aus gutem Grund verboten, sagt Dannemann:
»Damit täuscht man eine wissenschaftliche Aus-
einandersetzung nur vor. Im schlimmsten Fall
verfestigen sich dadurch Irrtümer.«
Für Robert Schmidt ist der Fall eindeutig. »Ich
halte eine Täuschungsabsicht für gegeben«,
schreibt er. Entsprechend deutlich ist auch seine
Prognose: »Die Vielzahl der Plagiate ist für eine
Aberkennung ausreichend.«
Fragt man allerdings Politikwissenschaftler,
wie sie Giffeys Dissertation einschätzen, sind diese
deutlich zurückhaltender als die Vroni Plag- -
Akti vis ten. Als die ZEIT ein knappes Dutzend
Politologen um eine Einschätzung der Arbeit bat,
lehnten die meisten ab: zu aufwendig eine detail-
lierte Prüfung – vor allem aber zu groß die Sorge,
sich damit gegenüber den Kollegen an der FU
aufzuspielen, die allein die Prüfungshoheit inne-
hätten. Und es ist auch die Methode von Vroni-
Plag, die kritisch beurteilt wird: Bloß Bruchstücke
abzugleichen, das blende den fachlichen Kontext
aus, mache blind für den größeren Zusammen-
hang der Arbeit.

E


ine Politologin, die aus dem oben ge-
nannten Grund anonym bleiben
möchte, hat sich die Dissertation für
die ZEIT genau angeschaut: Viele der
von Vroni Plag monierten Stellen be-
anstandet sie als »ausgesprochen fahrlässigen Um-
gang mit Literatur« und »ein Ärgernis« – es komme
der Verdacht bei ihr auf, »dass die Verfasserin ein
möglichst breites Literaturstudium demonstrieren
möchte«. Sie sagt aber ebenso, dass es sich bei der
Dissertation um eine in weiten Teilen ordentliche
Arbeit handele, manche Gegenstände gar »akri-
bisch« dargelegt würden. Und dass im Theorieteil
der Arbeit, wo sich die Plagiate finden, eben der
Forschungsstand referiert würde. Hier gebe es
»Standardformulierungen«, wie sie in vielen aka-
demischen Texten kursierten.
Giffey zitiert in ihrer Arbeit nach der »Harvard-
Methode«. Diese Zitierweise ist das Gegenteil des

ausdifferenzierten Fußnotenapparats, der viele
deutsche Forschungsarbeiten kennzeichnet. Die
Autoren setzen hier nur allgemeine Literaturhin-
weise an das Ende eines Satzes oder Abschnittes,
nämlich Nachname und Erscheinungsjahr der zi-
tierten Quelle sowie die Seitenzahl, auf die man
verweist. So ist ein Text leichter zu lesen – aber es
ist schwerer nachzuvollziehen, was ein Verweis wie
»(Habermas 1991)« eigentlich bedeutet – vor
allem wenn man, wie Giffey in diesem Beispiel,
sogar die Seitenzahlen weglässt.
Die Frage ist also, ob Vroni Plag womöglich zu
kleinteilig vorgegangen ist. Haben sich die Aktivis-
ten auf einzelne Worte fixiert, statt den Kontext
der jeweiligen Stellen und die Gesamtargumenta-
tion der Autorin zu beachten?
Derjenige, von dem Giffey die meisten Versatz-
stücke übernommen hat, ohne ihn zu nennen, ist
zugleich derjenige, auf den sie insgesamt am häu-
figsten verweist: der Münsteraner Po-
litologe Norbert Kersting. Er hadert
grundsätzlich nicht mit den Plagiaten.
Er freue sich, wie alle Wissenschaftler,
wenn seine Bücher intensiv gelesen
würden, sagt Kersting. Die Zitierregeln
des Faches seien dabei aber zu beach-
ten. Auch Vroni Plag müsse sich aber
Kritik gefallen lassen: Die Aktivisten
seien oft »haarspalterisch«, und es man-
gele ihnen zum Teil an Fachkenntnis,
sagt Kersting.
Diese unterschiedlichen Einschätzungen zeigen,
wie heikel solche Plagiatsverfahren sind – insbe-
sondere für die jeweiligen Universitäten, die dabei
auch immer ihre eigenen Standards prüfen. Wie
begleiten sie Promotionen, welchen Wert legen sie
auf die Einhaltung akademischer Standards, und
wie unabhängig agieren sie, wenn diese verletzt
wurden? Für die FU Berlin, die nach einem mehr-
jährigen Elite-Wettbewerb gerade zur Exzellenz-
Universität gekürt wurde, geht es in dem Fall also
nicht nur um Franziska Giffey, sondern auch um
die eigene Reputation.
Schon kurz nach Bekanntwerden der Plagiats-
vorwürfe geriet deshalb Giffeys Doktormutter in
den Fokus, die Politologin Tanja Börzel. Hätte sie
die Verfehlungen nicht bemerken müssen? Wie
hat Börzel ihre Doktorandin betreut, welche Vor-
gaben hat sie gemacht? Wie kam es zur Note
»magna cum laude«, der zweitbesten Bewertung
für eine Dissertation?
Ebenso wie der Zweitgutachter der Arbeit, der
2011 verstorbene Stadtforscher Hartmut Häußer-

mann, ist die Europa-Expertin Tanja Börzel eine
wissenschaftliche Größe. 25 Seiten umfasst ihr
akademischer Lebenslauf mit all ihren Publika-
tionen, Mitgliedschaften, Gutachtertätigkeiten;
über 57 Millionen Euro Fördergelder hat sie
demnach eingeworben – eine ungeheure Summe.
Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Politikwis-
senschaftler Thomas Risse, leitet sie das politik-
wissenschaftliche Otto-Suhr-Institut und sitzt
dort auch dem Promotionsausschuss vor. Mitte
Mai diskutierte sie gemeinsam mit Studierenden
im Schloss Bellevue mit dem Bundespräsidenten
über die Zukunft Europas. Anfragen zu ihrer
ehemaligen Doktorandin beantwortet Börzel
derzeit nicht.
Die heute 41-jährige Giffey hat damals, in
den Jahren 2005 bis 2009, neben ihrem Beruf als
Europabeauftragte für Berlin-Neukölln promo-
viert – an Wochenenden, Abenden, in der Frei-
zeit. Eine enorme Belastung. Auf-
zeichnungen aus dieser Zeit sollen
dokumentieren, dass die Betreuung
durch Tanja Börzel intensiv gewesen
ist. Demnach hätte also weder die
Doktorandin im stillen Kämmerlein
herumgeschlampt, noch hätte die
Doktormutter am Ende blind einen
akademischen Grad verschenkt.
Vroni Plag belegt Giffeys Verfeh-
lungen eindeutig: Sie hat Namen ver-
wechselt, Buchtitel durcheinander-
gebracht. Sie hat sich augenscheinlich Lektüren
erspart und nicht präzise gekennzeichnet, was
ihre eigenen Gedanken sind und wo sie sich auf
fremde Quellen stützt. Das hätte zum wissen-
schaftlichen Handwerk gehört.
Giffeys Vorgehensweise lässt aber auch Deu-
tungsspielraum. Im Gespräch sagten Geistes- und
Sozialwissenschaftler, sie trauten es sich kaum
noch zu, die fachlichen Gepflogenheiten selbst in
benachbarten Gebieten einzuschätzen. Die For-
schung und Fachkulturen sind inzwischen derart
ausdifferenziert, dass selbst Fachleute über die
Qualität und Korrektheit einer akademischen Ar-
beit schnell falsch urteilen können: Was auf die
Theaterwissenschaftlerin unpräzise wirkt, ver-
bucht die Politologin als referierende Zusammen-
fassung des Sachstandes.
Andererseits: Muss eine Dissertation nicht al-
len Leserinnen und Lesern standhalten und ge-
wisse unverrückbare Regeln einhalten? Zumindest
die deutschen Verwaltungsgerichte urteilen in
akademischen Zitationsfragen hart, meist bestäti-

gen sie einfach die strengen Plagiatsgutachten der
Universitäten.
So weit aber ist die Causa Giffey noch nicht.
Erst einmal muss die FU Berlin zu einem Urteil
kommen. Statistisch betrachtet stehen Giffeys
Chancen da schlecht. Die Hochschule hat bisher
am Ende aller von Plagiatsprüfern angestoßenen
Verfahren die Doktortitel entzogen. In all diesen
Fällen hatten die Autoren jedoch lange Passagen
wörtlich abgeschrieben, ohne dies zu kennzeich-
nen. Diesmal liegt der Fall anders.

G


äbe es ein Plagiatometer, läge Gif-
feys Wert irgendwo im unteren
Drittel der Skala – weit entfernt
von zu Guttenberg und irgendwo
auf der Höhe der Fälle Schavan,
von der Leyen oder Steinmeier. Die ehemalige
Bundesbildungsministerin Schavan hat ihren
Titel verloren; von der Leyen und Steinmeier hin-
gegen kamen mit mahnenden Worten ihrer Uni-
versität davon.
Franziska Giffey ist also nicht nur abhängig
davon, ob das Präsidium der Freien Universität
Berlin ihr den Titel aberkennt oder nicht, sondern
auch davon, mit welchen Worten das Gremium
sein Urteil verkündet.
Fiele die Formel von der »bewussten Täu-
schungsabsicht«, wäre das deutlich rufschädigend.
Ein Malus, der sie, in welchem Amt auch immer,
zum Rücktritt bewegen könnte, falls sich genug
politischer Druck aufbauen sollte. Zöge sich die
FU aber auf ihre hohen wissenschaftlichen Stan-
dards zurück, denen Giffey durch »Unregelmäßig-
keiten« oder »Zitierfehler« nicht entsprochen
habe, klänge das weniger hart: Giffey könnte
dann öffentlich Reue zeigen, der Exzellenz ihrer
Universität Respekt zollen – und ihre Karriere als
SPD-Politikerin weiterverfolgen.
Sofern das Präsidium der FU nicht sogar zu
einem Freispruch kommt, ist das letzte Szenario
am wahrscheinlichsten. Denn Giffey hart abzu-
strafen, das träfe auch ihre Doktormutter Tanja
Börzel, eine der profiliertesten Professorinnen der
FU. Dann wäre es eine Aberkennung light.
Für die Wissenschaft geht es in diesem Fall um
ihre eigene Integrität. Die SPD fragt sich, wer die
Sozialdemokratie retten kann. Die Öffentlichkeit
fragt sich, wie relevant ein akademischer Titel für
ein politisches Amt überhaupt ist. Und für Fran-
ziska Giffey – geht es um alles zugleich.

A http://www.zeit.de/audio

Giffeys Dilemma Fortsetzung von S. 27


D


ie Internetplattform Vroni-
Plag untersucht Hochschul-
schriften, die unter Plagiats-
verdacht stehen. Nur ein Bruchteil der
Fälle betreffen Politiker. Diese stehen
jedoch besonders in der Öffentlich-
keit. Auf die Dissertation von Fa mi-
lien mi nis te rin Franziska Giffey wur-
den die Plagiatsprüfer durch einen
anonymen Hinweis aufmerksam. Die
Analyse der Arbeit findet sich im Netz
auf vroniplag.wikia.org/de/wiki/Dcl.
Daraus stammt auch die rechts ste-
hende Grafik. Sie dokumentiert sämt-
liche beanstandeten Passagen in Gif-
feys Arbeit. Eine Kommission der
Freien Universität Berlin prüft zurzeit
Textstelle für Textstelle, ob die Ver-
dachtsmomente zutreffen und Giffey
gegen die Regeln der Wissenschaft
verstoßen hat – oder nicht.

So dokumentiert VroniPlag
die Plagiatsvorwürfe

Dissertation


unter Verdacht


Abb.: ZEIT-Grafik/Quelle: VroniPlag; Foto: SPD Neukölln

28 WISSEN


Von 2005 bis 2009
promovierte Giffey
an der FU Berlin

Verschleierung

So werden Textstellen
genannt, die aus einer
fremden Quelle stammen,
jedoch umformuliert
wurden. Eigentlich müsste
man die Quelle angeben,
das geschieht jedoch
nicht. Hier liegt der
Verdacht nahe, dass die
Umformulierung in erster
Linie dazu dient, die
Herkunft zu verschleiern.

Bauernopfer

Bei einem sogenannten
Bauernopfer wird zwar eine
Quelle genannt, der
Verfasser der Promotion
gibt jedoch nicht an, wie
umfangreich er sich aus
dieser Quelle bedient hat.
Häufig werden wörtliche
Übernahmen nicht als Zitat
mit Anführungszeichen
markiert. Stattdessen bringt
man nur einen allgemeinen
Hinweis wie zum Beispiel
»(Müller 1992)«.

Übersetzungsplagiat

Als Übersetzungsplagiat
bezeichnet VroniPlag eine
Übersetzung aus einem
fremdsprachlichen Text,
der ohne Angabe der
Quelle – mehr oder minder
weitgehend – übernommen
wird. Die Grenzen
zwischen einer Paraphrase
des Textes und einer
bloßen Kopie sind jedoch
fließend.


  1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 34

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