Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1

WISSEN


Auf den ersten Blick:


Äußere Symptome,


die Krankheiten


verraten
Seite 32

Das war’s dann wohl für den einen Kandi-
daten. Jetzt sind es nur noch drei Logos, die
übrig bleiben im Rennen um die beste
Kennzeichnung für die Gesundheit von
Lebensmitteln. Zumindest wenn man die
Worte von Bundesernährungsministerin
Julia Klöckner ernst nimmt. Im Juni hatte
sie verkündet, die Verbraucher an der Ent-
scheidung für ein Nährwert-Logo zu betei-
ligen, das »klar, einfach und verständlich«
sein soll. Vier Kennzeichnungen standen in
der Endauswahl ihres Ministeriums, be-
teiligt werden sollten die Verbraucher mit
einer repräsentativen Umfrage mit mindes-
tens 1000 Teilnehmern. Was da herauskom-
me, sei maßgeblich für sie, sagte Klöckner.
Genau so eine Umfrage hat nun ein Er-
gebnis erbracht: Ein Label, vom staatlichen
Max Rubner-Institut auf die Schnelle ent-
wickelt, fiel in den Klöckner-Kriterien (»klar,
einfach und verständlich«) komplett durch.
Sehr gut hingegen schnitt der sogenannte
Nutri-Score ab, der Ampelfarben zur Kenn-
zeichnung nutzt.
Die Umfrage hat nur einen Haken: Sie ist
nicht von Klöckners Ministerium in Auftrag
gegeben worden. Medizinische Fachgesell-
schaften (darunter die Deutsche Allianz
Nichtübertragbare Krankheiten und die
Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Ju-
gendmedizin) hatten sich mit der Verbrau-
cherorganisation Foodwatch zusammen-
getan und das Meinungsforschungsinstitut
Forsa damit betraut.
Man muss dazusagen, dass sich diese
Organisationen vehement für den Nutri-Score
einsetzen. Aus gutem Grund: Er hat sich in
zahlreichen Studien als bestes Label erwiesen.
Unter den meisten Experten ist unstrittig, dass
er breit eingeführt werden sollte.
Man könnte aber auch sagen: Die Orga-
nisationen haben die Ministerin nur beim
Wort genommen – und belegen damit, wie
angreifbar sie sich gemacht hat. Denn es ist
völlig unverständlich, dass Klöckner sich bei
ihrer Entscheidung für ein Nährwert-Label
nach dem Ergebnis einer Umfrage richten
will. Nun hat sie ein Ergebnis, noch dazu
eines von einem seriösen Institut, das von
seriösen wissenschaftlichen Organisationen
beauftragt wurde.
Nähme sie ihre eigenen Worte ernst,
müsste sie sich an deren Votum halten. Es
läuft aber noch die Umfrage, die ihr Ministe-
rium in Auftrag gegeben hat. Was, wenn
dort etwas anderes herauskommt? Umfragen
sind fehleranfällig, von aktuellen Stimmun-
gen abhängig, ihre Ergebnisse leicht zu be-
einflussen.
Mit ihrer Erhebung haben die Fachorgani-
sationen die Klöcknersche Vorgehensweise als
das entlarvt, was sie ist: unsinnig. Denn warum
muss eine unwissenschaftliche Umfrage über
etwas entscheiden, was wissenschaftlich längst
entschieden ist? JAN SCHWEITZER

Richtiges Resultat –


von falscher Seite


Wie Lebensmittel zu kennzeichnen
wären, zeigt eine Umfrage

In ihrem Promotionsprojekt untersuchte Giffey, wie nah
sich Zivilgesellschaft und EU-Kommission sind

Foto [M]: Hermann Bredehorst/Polaris/laif; Illustration: Nadja Baltensweiler für DIE ZEIT (o.)

Giffeys Dilemma


Ein Schatten liegt auf der politischen Karriere der Bundesfamilienministerin – der Vorwurf, in ihrer Doktorarbeit


plagiiert zu haben. Einblick in die aktuellen Untersuchungen VON ANNA-LENA SCHOLZ UND MARTIN SPIEWAK


J


etzt wäre der perfekte Augen-
blick für den Karrieresprung
der Franziska Giffey. Von der
Bundesfamilienministerin zum
SPD-Vorsitz. Von dort womög-
lich irgendwann zur Kanzler-
kandidatur. Bis zum 1. Septem-
ber muss sich erklären, wer sich
um die Parteiführung der SPD
bewerben will.
»Zu gegebener Zeit« werde sich Franziska
Giffey dazu äußern, sagt ihr Ministerium. In
dieser Woche wolle sie sich äußern, hieß es zu-
letzt inoffiziell aus SPD-Kreisen. Über keine
der möglichen Kandidatinnen für den Partei-
vorsitz wurde so intensiv gemutmaßt wie über
die Bundesfamilienministerin. Gute Chancen
also, eigentlich. Doch Franziska Giffey lebt
derzeit mit zwei unterschiedlichen Geschwin-
digkeiten. Einerseits naht das Ende der Be-
werbungsfrist ihrer Partei. Andererseits über-
schattet schon seit Monaten eine akademische
Entscheidung ihre gesamte politische Karriere.
Und lässt weiter auf sich warten.
Ausgerechnet in diesem Jahr trägt
Dr. Franziska Giffey eine Last, die sie früher
schmückte – den akademischen Titel an ihrem
Namen. »Dr.« stand auf Wahlplakaten, das
sorgte für Seriosität und zeigte: Die frühere
Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln
ist nicht nur nahbar, sondern auch gelehrt. An
der Freien Universität (FU) Berlin promo-
vierte sie über »Europas Weg zum Bürger –
Die Politik der Europäischen Kommission zur
Beteiligung der Zivilgesellschaft«. Giffey ist
nicht nur Politikerin, sondern auch Politik-
wissenschaftlerin.
Bis ins Bundeskabinett hinein hat sie der
Respekt getragen, den sie sich als Lokalpoliti-
kerin verdient hat. Ihr Image: beliebt, anpa-
ckend und ideenreich. Seit jedoch im Februar
Aktivisten eine Analyse ihrer Dissertation ver-
öffentlicht haben, ist Giffey politisch gehandi-
capt. Prüfer der Plattform Vroni Plag haben ihr
vorgeworfen, Teile ihrer Doktorarbeit plagiiert
zu haben. Nun wird ihr Name auch in einem
Atemzug genannt mit Politikern, die über ihre
Doktorarbeit gestürzt sind. Karl-Theodor zu
Guttenberg, Annette Schavan.
Auf den Vorwurf folgten Warten und
Schweigen. Die FU Berlin schwieg, weil sie
eine Promotionskommission eingerichtet hat,
die seither die Dissertation prüft. Und prüft.
Und prüft. Giffey ihrerseits schwieg, weil sie
die Entscheidung der FU abwarten muss.
Dann trat Anfang Juni Andrea Nahles zu-
rück, die öffentliche Suche nach einer neuen
SPD-Spitze begann, und mit ihr kam der
Stichtag 1. September. Der Druck auf Giffey
stieg von Tag zu Tag. Vor allem die Genossen
wollten wissen, wie die Sache denn nun stehe:
Will Giffey Parteivorsitzende werden oder
nicht? Hat sie wirklich plagiiert? Und falls ja:
Wäre ein aberkannter Doktortitel denn tat-
sächlich ein Problem?


Hier die wissenschaftliche Rigorosität, dort
die Eignung für ein öffentliches Amt. Die
Sphären vermischen sich.
So lässt sich das Dilemma der Familien-
ministerin zusammenfassen: Sie muss einerseits
abschätzen, ob die FU ihr den Titel ab erkennen
wird. Und andererseits kalkulieren, wie be-
deutsam das wirklich wäre – für die SPD-Spit-
ze, die Parteibasis, die Bevölkerung.
Dass sich Franziska Giffey zu diesen Fragen
bisher nicht geäußert hat, spricht durchaus für
sie. Denn ihre Dissertation ist, was die mut-
maßlichen Plagiate angeht, ein Zweifelsfall, wie
es ihn unter den viel diskutierten Politiker-
Promotionen bislang nicht gegeben hat. Gif-
feys Arbeit ist voller Graubereiche, die verschie-
dene Deutungen zulassen. Der Ausgang des
Prüfungsverfahrens ist daher völlig offen.
Was also tun? Giffey hat sich zwei Berater
an ihre Seite geholt: zum einen den Berliner
Anwalt und Sozialdemokraten Andreas Köhler,
der im Parteiausschlussverfahren auch Thilo
Sarrazin vertrat und bis 2011 im Abgeordne-
tenhaus saß. Zum anderen den Rechtswissen-
schaftler Uwe Wesel. Auch er ist SPD-Mit-
glied. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2001
lehrte er an der FU (und schrieb früher regel-
mäßig als Autor für die ZEIT).
Beide Berater haben ihrerseits die von
Vroni Plag monierten Stellen überprüft, eine
Expertise erstellt und diese an die FU geschickt.
Eindeutige Plagiate lägen demnach nicht vor;
vielmehr gehe es um die Frage, welches Zitier-
verfahren Giffey angewandt habe. Der ganze
Fall wirft Fragen auf: Was genau wertet man als
wissenschaftliche Täuschung, und wie weist
man sie nach?

A


uf diese Fragen hat die FU im
Februar fünf Fachleute angesetzt.
In der Kommission, die Giffeys
Arbeit prüft, sitzen vier Berliner
Professoren und ein wissen-
schaftlicher Mitarbeiter, deren Arbeitsgebiete
an das Thema von Giffeys Dissertation min-
destens angrenzen. Die Kommission räumt
auch Franziska Giffey selbst eine Stellung-
nahme ein und soll schließlich ein Gutachten
an das Präsidium der FU übermitteln – jenes
Gremium, das am Ende entscheidet.
Wann das geschehen wird, ist offen. Bei
dem CDU-Politiker Frank Steffel, dem die
FU im Februar seinen akademischen Grad
aberkannte, dauerte die Prüfung mehr als ein
Jahr. Bei Giffey kann es also Herbst oder Win-
ter werden, gar Frühjahr.
Solche langen Zeiträume sind nicht unge-
wöhnlich. Die fünf Mitglieder müssen sich
neben ihrem normalen Pensum in Forschung
und Lehre mehrmals treffen und Giffeys Arbeit
Satz für Satz durchgehen. Sie gleichen sie mit
anderen Werken zu ähnlichen Themen ab,
untersuchen Belege und Literaturhinweise –
solche, die Giffey nennt, und solche, die sie
womöglich unterschlägt. Sie müssen versuchen,

Fortsetzung auf S. 28

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  1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 34


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