Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1
So könnte es aussehen: Solarzellen sorgen für Energie, auf dem Schiff wird der Treibstoff produziert

Abb.: Novaton AG

Schwimmende Spritfabriken


Für Lkw und Flugzeuge ist ein Elektroantrieb nicht effizient. Sonnenenergie und


Meerwasser könnten einen klimaneutralen Kraftstoff liefern VON DIRK ASENDORPF


A


utos surren längst elektrisch
durch die Straßen, die Energie
dafür kommt aus der Batterie.
Straßenbahnen und Züge
fahren ebenfalls mit Strom,
dank Oberleitung. Aber schon
bei Lkw wird die Umstellung
auf einen E-Antrieb schwierig. Die Batterien für
Brummis müssten so groß und damit so schwer
sein, dass sich der Einsatz nicht lohnt – schließ-
lich verdienen Fuhrunternehmer ihr Geld damit,
Nutzlast zu transportieren. Noch schwieriger
wird es bei Frachtschiffen und vor allem bei Flug-
zeugen. Sie benötigen Treibstoff mit einer sehr
viel höheren Energiedichte, als sie alle bisher er-
forschten Batterietechniken liefern können.
Doch will man die Ziele des Pariser Klimaver-
trags erreichen, müssen Diesel, Benzin und
Kerosin ersetzt werden. Eine Möglichkeit wäre
klimaschonender Treibstoff aus Biomasse, aber
der konkurriert mit der Produktion von Nah-
rungsmitteln: Beide brauchen Platz auf dem
Acker. Wie können Schwerlast- und Flugverkehr
also klimaneutral angetrieben werden?
Wissenschaftler aus Norwegen und der
Schweiz haben jetzt ein Konzept dafür in der
Fachzeitschrift der amerikanischen Akademie
der Wissenschaften (PNAS) veröffentlicht. Die
Idee: Methanol, produziert mithilfe von Sonnen-
energie in schwimmenden Chemiefabriken auf
dem Meer. Der flüssige Kohlenwasserstoff Me-
thanol wird derzeit als Ersatz für Treibstoffe aus
Erdöl hoch gehandelt. Er verbrennt effizienter

und sauberer als Diesel oder Benzin, und anders
als Wasserstoff könnte er mit Tankern, durch
Pipe lines und an Tankstellen leicht zum Ver-
braucher gelangen. Ein Kilogramm Methanol
enthält nur die Hälfte der Energie, die in der
gleichen Menge Benzin, Diesel oder Kerosin
steckt – doch das ist noch immer 15-mal so viel,
wie der bislang beste Hochleistungsakku pro
Kilo speichern kann.
Zwar entsteht auch bei der Verbrennung von
Methanol das Treibhausgas CO₂. Aber für die
Produktion des Treibstoffs kann man wiederum
CO₂ nutzen. Wird dieses in schwimmenden
Chemiefabriken aus dem Meerwasser extrahiert,
ist die Bilanz ausgeglichen. Meerwasser ist als
CO₂-Quelle deshalb günstig, weil für die Extrak-
tion deutlich weniger Energie gebraucht wird als
für eine CO₂-Gewinnung aus der Luft. Und da
sich die Konzentration des Treibhausgases zwi-
schen Luft und Meer ständig ausgleicht, wird die
Atmosphäre nicht zusätzlich belastet.
Auch Wasserstoff, die zweite Zutat für die Me-
thanolherstellung, soll aus dem Meerwasser gewon-
nen werden. Dafür muss dieses zunächst gefiltert,
entsalzt und dann mit Elektrizität in Sauerstoff und
Wasserstoff getrennt werden. Den nötigen Strom
sollen Fotovoltaik-Anlagen aus Sonnenlicht gene-
rieren. Jede Methanolfabrik, die zum Beispiel auf
einem großen Schiff untergebracht werden könnte,
müsste dafür von 70 Solarzelleninseln mit einem
Durchmesser von 100 Metern umgeben sein.
Insgesamt würde eine Anlage ungefähr einen
Quadratkilometer Meeresoberfläche bedecken.

Alle Komponenten der Technik – von den
schwimmenden Fotovoltaik-Modulen bis zur
CO₂-Gewinnung aus Meerwasser – existieren
bereits im industriellen Maßstab, zumindest als
Prototypen. Zu einer Methanolfabrik hat sie
bisher allerdings noch niemand zusammenge-
fügt. Der Aufwand dafür wäre recht groß, aber
möglich ist das durchaus. Um den Treibstoff für
die Versorgung des gesamten Langstrecken-
Güterverkehrs der Welt herzustellen, bräuchte
man 170.000 derartige Fabriken, haben die
Wissenschaftler berechnet. Eine Meeresfläche
von der Größe Tunesiens würde dafür reichen.
Das Gebiet sollte so nah wie möglich am Äqua-
tor liegen, weil die Sonneneinstrahlung dort
hoch ist und keine tropischen Stürme drohen.
Wissenschaftler, die nicht an dem norwegisch-
schweizerischen Projekt beteiligt sind, bestätigen,
dass die Berechnung realistisch ist. »Das könnte
ein interessanter Beitrag zum Energiemix der
Zukunft sein«, sagt Ouda Salem, der am Fraun-
hofer-Institut für Solare Energiesysteme in Frei-
burg zu Methanol forscht.
Viele praktische Fragen sind allerdings noch
nicht geklärt. Einige davon stellen die Autoren
am Ende ihrer Studie selbst: Wie können die
Fotovoltaik-Module auf dem Meer effizient
sauber gehalten und gewartet werden? Welche
Materialien und welche Konstruktion halten den
harschen Bedingungen auf dem Meer am besten
stand? Und die wichtigste Frage: Was würde das
auf dem Meer produzierte Methanol kosten?
»Da warten noch eine Menge Überraschungen

auf uns«, sagt der Physiker Andreas Borgschulte,
der die Studie an der Eidgenössischen Material-
prüfungs- und Forschungsanstalt in Zürich
koordiniert hat.
Mit theoretischen Erörterungen kommt man
nun nicht mehr weiter. Ob Methanolfabriken
auf dem Meer einen Beitrag zur Energiewende
leisten können, muss die Praxis zeigen. »Jetzt
brauchen wir einige Prototypen«, sagt Borg-
schulte. An ihnen ließe sich zum Beispiel er-
proben, ob die Solarinseln bei aufziehendem
Unwetter tatsächlich wie geplant einige Meter
unter die Meeresoberfläche abgesenkt und so
vor Wind und Wellen geschützt werden kön-
nen. Daran sind nämlich bisher fast alle Techno-
logien gescheitert, die Energie klimafreundlich
auf hoher See gewinnen wollten: an den Ge-
walten der Natur.

Lange geheimnisvoll.
Erst 1998 wurde die
genaue Anatomie der
Klitoris entdeckt

Das neue ZEIT Wissen:
am Kiosk oder unter
http://www.zeit.de/zwissen

Mehr Wissen


William Gourlay gab sich große Mühe, seine Iden-
tität zu verschleiern: Der Dieb, der im Herbst
1952 den Safe im Büro einer schottischen Bäckerei
ausraubte, zog seine Schuhe aus und streifte sich
die Socken über die Hände, um keine Finger-
abdrücke zu hinterlassen. Aber die Polizei fand
auf dem Geldschrank mehlige Fußabbdrücke
des Gangsters – und die einzigartigen Linienmus-
ter seiner Zehen reichten den Geschworenen spä-
ter als Beweis für seine Schuld aus.
Zugegeben, barfüßige Räuber sind die Aus-
nahme, deshalb erfasst die Polizei nicht zusätzlich zu
den Fingerabdrücken auch noch die Zehenabdrücke
von Straftätern. Aus Sicht der Wissenschaft aber
spräche nichts dagegen. Wie wir heute noch bei
unseren Verwandten im Tierreich sehen können,
sind Füße und Hände eng miteinander verwandt.
In der embryonalen Entwicklung entstehen sie zur
selben Zeit und bilden auch parallel die sogenannten
Papillarleisten aus. Das Muster dieser Linien entsteht
dabei recht zufällig, sodass sich auch die Finger- und
Zehenabdrücke eineiiger Zwillinge deutlich von-
einander unterscheiden.
Bieten die Linien vielleicht auch einen evolutio-
nären Vorteil? Lange Zeit dachte man, die Rillen
würden die Reibung zwischen den Händen oder
Füßen und einer Oberfläche erhöhen und so klet-
ternden Primaten einen sichereren Griff bieten.
Laut einer Studie, die 2009 im Journal of Experi-
mental Biology erschien, ist das Gegenteil der Fall –
die Papillarleisten verkleinern die Kontaktfläche
und senken damit die Reibung. Wozu sind sie dann
gut? Sie könnten die Haut vor Schaden schützen.
Oder sie leiten Schweiß und Wasser ab und verbes-
sern so den Griff in feuchtem Milieu. Letztlich ist
noch unklar, ob die Finger- und Zehenlinien eine
Funktion haben. CHRISTOPH DRÖSSER


Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen:
DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg,
oder [email protected].
Das »Stimmt’s?«-Archiv: http://www.zeit.de/stimmts


A http://www.zeit.de/audio


Sind die Zehenabdrücke eines
Menschen genauso unverwechselbar
wie die Fingerabdrücke?
... fragt ELISABETH VON RANDOW
aus Neuendorf

Stimmt’s?


Im Artikel »Eine Straße mitten durchs
Herz« (ZEIT Nr. 32/19) ist uns ein Fehler
unterlaufen. Er steckt in der zugehörigen
Karte des Landes Rumänien, in dem die
Geschichte spielte. Auf der waren leider
nicht alle Nachbarländer korrekt beschriftet:
Obwohl sich im Süden Bulgarien
anschließt, stand da »Ungarn«. (So wie,
korrekterweise, auch im Nordwesten.)
Vielen Lesern fiel dieser Fehler auf. Pardon!

Erratum


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