Die Zeit - 15.08.2019

(Tuis.) #1
Das Erlebte aufschreiben
In der Cognitive Processing Therapy
arbeitet der Patient sein Erlebnis schriftlich
auf. Der Schwerpunkt liegt auf der Korrek­
tur seiner Gedankenführung und seiner
Einschätzung der Situation. So lernt er,
Angst, Schuld und Scham loszuwerden.

Denkmuster auflösen
Bei der Kognitiven Verhaltenstherapie
lernt der Patient, Denkmuster aufzu­
lösen, die eine Kontrolle über sein Leben
und seine Probleme behindern.

Geschichte aufarbeiten
Bei der Narrative Exposure Therapy
schreibt der Patient seine Traumata
nieder und setzt sie zu seiner Lebens­
geschichte ins Verhältnis. Unbewältigte
Erlebnisse werden in den Sitzungen
bearbeitet, durch die schriftliche Aus­
einandersetzung schwächt sich die
Angstreaktion ab.

Aufnahmen anhören
Der Patient versetzt sich bei der Pro­
longed Exposure Therapy in das Ereig­
nis hinein, die Sitzung wird aufgezeichnet,
und der Patient hört sich die Aufnahme
einmal pro Tag an. Durch die Wieder­
holungen soll der Leidensdruck nach­
lassen.

ZEIT DOCTOR: ALLES, WAS DER GESUNDHEIT HILFT


Die Augen des Patienten folgen
der Therapeutenhand. Dies soll die
Gehirnhälften synchronsieren

Foto: Ludwig Ander-Donath für DIE ZEIT; ZEIT-Grafik

Hand in


Sicht


Ein Mann überlebt drei Terroranschläge. Von seinem Trauma befreit


ihn eine skurril anmutende Therapie VON BURKHARD ZIMMERMANN


E


s schien, als wolle André Mül­
ler die Schaffner zum Narren
halten. Aber es war kein biss­
chen lustig. »Meine Angst vor
Menschen in Uniform war so
groß, dass ich aufgestanden
und weggegangen bin, wenn
ein Schaffner kam«, sagt der 48­Jährige. »Die
Schaffner sind mir hinterhergelaufen, weil sie
dachten, ich fahre schwarz.« Als sie ihn einge­
holt hatten, kam die Überraschung: Der
»Schwarzfahrer« hatte eine BahnCard 100.
André Müllers irrationales Verhalten war
Folge einer schweren Traumatisierung. Als
Mitglied im Vorstand eines großen deutschen
Unternehmens arbeitet er häufig in Paris und
Brüssel, dort war er von den Terroranschlägen
der letzten Jahre betroffen: Mit Kollegen ver­
barrikadierte er sich im Büro, als 2015 nach
dem Anschlag auf Charlie Hebdo die Atten­
täter in seine Richtung flohen. Als Terroristen
im selben Jahr in Paris mehrere Bomben zün­
deten, bangte Müller mit seiner Sekretärin und
seiner Nachbarin, die fürchteten, dass ihre
Kinder an den Orten des Geschehens waren.
Doch mit voller Wucht traf ihn der An­
schlag in Brüssel im Jahr 2016: Müller ging
gerade zu seiner U­Bahn, als ein Selbstmord­
attentäter dort mit einer Bombe 16 Menschen
tötete. »Es gab einen riesigen Knall, und alle
sind rausgerannt, es war grauenhaft«, erinnert
sich Müller. »Als wir aus der U­Bahn­Station
kamen, war alles voll mit Soldaten und Poli­
zisten, die mit Gewehren an mir vorbeirann­
ten. Einige waren in Zivil, ich konnte Helfer
und Terroristen nicht mehr unterscheiden.
Einen größeren Kontrollverlust hatte ich noch
nie erlebt.«
In den Tagen danach zeigte sich, wie tief
ihn das Erlebnis traumatisiert hatte. »Ich
konnte nicht mehr zuhören und war bei leich­
tem Stress schon sehr gereizt«, erzählt Müller.
»Mitunter war meine Wirklichkeit so verzerrt,
dass Kollegen behaupteten, ich lüge. Es gab
Tage, da habe ich die Zeit überhaupt nicht
mehr gespürt.«
Müller kam zur Behandlung in das »Gezei­
ten Haus« im westfälischen Wesseling, eine
Fachklinik für Traumapatienten. Die Methode,
mit der er dort behandelt wurde, erscheint
skurril: Mit den Augen sollte er einfach der
Handbewegung seiner Therapeutin folgen,
links, rechts, links, rechts. Aber: Die Methode
half, und sie half schnell.
EMDR heißt die Technik, Eye Movement
Desensitization and Reprogramming. Man
kann das übersetzen als »entlasten und neu
programmieren durch Augenbewegungen«.
Entwickelt wurde sie Ende der Achtzigerjahre
von der Psychologin Francine Shapiro; die
Wirksamkeit ist gut belegt, sowohl bei Traumata
wie Vergewaltigungen, Unfällen oder Natur­
katastrophen als auch bei Depressionen. Selbst
bei Menschen, die Jahrzehnte zuvor gefoltert
wurden, bringt die Methode gute Ergebnisse.
Nach einigen Vorgesprächen, in denen der
Therapeut die Situation des Patienten kennen­
lernt, beginnt die Arbeit mit EMDR: Der
Patient ruft das am stärksten belastende Bild
aus seiner Erinnerung auf. Dann bewegt der
Therapeut eine Hand vor dessen Augen etwa
einmal pro Sekunde einen halben Meter weit
hin und her, insgesamt ungefähr eine halbe
Minute lang. Kurze Pause, dann geht es weiter
mit dem nächsten Bild. Das Besondere: Der
Patient benennt seine Erlebnisse zwar, aber er
muss sie nicht schildern. Viele Patienten emp­
finden das als entlastend.


Einfache Handbewegungen ordnen das
traumatische Erlebnis wieder richtig ein


»Dabei wird nicht viel geredet«, sagt Arne Hof­
mann, er ist Leiter des Bereichs Forschung und
Weiterbildung im Gezeiten Haus und gleich­
zeitig Leiter des EMDR­Instituts Deutschland.
»Es gibt Patienten, die verraten kaum Details
über das, was sie gerade verarbeiten.« Dabei
können sich allerdings auch Nebenwirkungen
zeigen: Es lässt sich kaum vorhersagen, welche
Themen auftauchen, und die körperlichen
Begleiterscheinungen können intensiv sein,
vom Weinen bis zu ausgeprägter Erschöpfung.
Und: Mitunter hallen Erinnerungen über
mehrere Stunden nach. »Wenn ich spüre, dass
eine Belastungsgrenze erreicht ist, stelle ich
die Wiederholungen ein«, sagt Hofmann.
»Dann habe ich in der Sitzung noch Zeit, um
den Patienten zu stabilisieren.«
Bei André Müller hatte die Behandlung eine
deutliche Wirkung. »Nach etwa acht Sitzungen
ging es mir langsam besser«, erinnert er sich. »Vor


der Therapie bin ich sofort in Deckung gegangen,
wenn irgendwo etwas knallte. Das ließ mit der
Zeit nach.« Insgesamt hatte er etwa 15 Sitzun­
gen – wie geht es ihm heute? »Es ist, als hätten sich
die Gefühle von den Bildern abgekoppelt, meine
Erinnerung wird immer blasser«, sagt Müller.
»Brüssel war die Hölle für mich – heute könnte
ich entspannt durch die Stadt flanieren.«
Wie ist es möglich, dass einfache Augen­
bewegungen solch eine Wirkung haben? Die
kurze Antwort: Keiner weiß es genau. Die län­
gere Antwort: Keiner weiß es genau, aber es
gibt einige Erklärungsmodelle. »Bei einem
traumatischen Erlebnis wird der Hippocampus
gestört«, erklärt Kerstin Stellermann­Strehlow,
sie gehört zur Leitung des Kindertrauma­
instituts in Offenburg und ist Oberärztin an
der Klinik für Kinder­ und Jugendpsychiatrie
und Psychotherapie in Lüneburg. »Das ist fatal,
denn er speichert zu jedem Ereignis eine zeit­
liche Referenz ab.« Passiert das nicht, dann ist
das Erlebte nie richtig »vergangen« – und be­
stimmte Auslöser können jederzeit einen emo­
tional stark aufgeladenen Flashback provozie­
ren. »Durch EMDR wird das Erlebnis hervor­
gerufen und mit einer zeitlichen Markierung
versehen«, sagt Stellermann­Strehlow. »Das
Gehirn lernt, dass ein Ereignis in der Vergan­
genheit liegt und nicht mehr bedrohlich ist.«

Es gibt nur Vermutungen darüber,
wie EMDR wirkt – aber es wirkt

Mitunter wird vermutet, dass durch die Fokus­
sierung in der Therapie das Arbeitsgedächtnis
des Gehirns überlastet und dadurch ein Ab­
speichern des emotionalen Anteils an der Erin­
nerung verhindert wird. Oder dass EMDR die
Verarbeitung erleichtert, weil die Augen­
bewegungen die Arbeit der beiden Gehirnhälf­
ten synchronisieren. Eine andere Theorie: Mit
den Augenbewegungen wird eine wichtige Ver­
bindung gestört – zwischen der Amygdala, die
für die Regulierung von Angst und die Bewer­
tung von Gefahren zuständig ist, und dem
präfrontalen Cortex, wo auf der Grundlage
von Erinnerungen und Gefühlen die Hand­
lungen der Zukunft geplant werden.
Sicher weiß man eigentlich nur, dass EMDR
wirkt, die Effektstärke ist etwa genauso hoch wie
bei den unterschiedlichen Methoden der Ver­
haltenstherapie. Dass der Patient dabei nicht noch
einmal den ganzen Schrecken des Erlebten erneut
schildern muss, ist eine Stärke von EMDR, eine
andere liegt in der tendenziell kürzeren Behand­
lungsdauer. Mit EMDR können Traumata oft in
zehn Sitzungen behandelt werden, bei älteren oder
schwereren Belastungen sind häufig 40 bis 60 Sit­
zungen zu erwarten. In der Verhaltenstherapie
werden nicht selten mindestens 25 Sitzungen ver­
anschlagt, bei komplexeren Fällen können es 80
Stunden werden.
Das Verfahren wird seit 2014 vom Gemein­
samen Bundesausschuss der Ärzte und Kran­
kenkassen (GBA) als Methode zur Behandlung
der posttraumatischen Belastungsstörung an­
erkannt, die gesetzlichen Krankenkassen über­
nehmen die Kosten einer Behandlung. Den­
noch ist mitunter eine Skepsis gegenüber
EMDR zu spüren: Der Verzicht auf Schilde­
rungen der Bilder, die im Patienten aufsteigen,
könnte durchaus Risiken bergen, da der Thera­
peut nicht genau weiß, wo der Patient in seiner
Verarbeitung gerade ist – andere Verfahren er­
lauben eine engere Begleitung. Vielleicht findet
aber auch bisweilen eine Überhöhung von
EMDR statt, die sich nicht schlüssig begrün­
den lässt. »Es gibt keine Studie, die zeigt, dass
eines der Verfahren, die auf eine direkte Be­
arbeitung traumatischer Erfahrungen abzielen,
den anderen Methoden mit dieser Vorgehens­
weise überlegen ist«, sagt Ingo Schäfer, er ist
Mitglied im Vorstand der Deutschsprachigen
Gesellschaft für Psychotraumatologie. »Die
Leitlinien geben keine Empfehlung für eine be­
stimmte Methode. Auch eine kürzere Behand­
lungsdauer ist für EMDR nicht klar belegt.«
Wie aber findet man als Patient heraus, ob
EMDR das Richtige für einen ist? Seit 2017
sieht die Psychotherapie­Richtlinie des Ge­
meinsamen Bundesausschusses vor, dass Pa­
tienten, die eine Psychotherapie machen wollen,
mindestens zwei Test­Sitzungen bei einem
Therapeuten machen müssen – zur »Feststel­
lung der Eignung der Patientin oder des Patien­
ten für ein bestimmtes Psychotherapieverfah­
ren«. Man darf es auch in die andere Richtung
formulieren: Das Verfahren muss für den
Menschen geeignet sein. Ob es das ist, kann der
ja dann selbst entscheiden.

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Nach dem Trauma


Einige wichtige
Therapieverfahren

PSYCHOTHERAPIE

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  1. AUGUST 2019 DIE ZEIT No 34 WISSEN^31


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